Miterfahren als Chance!? - Die phänomenologische Vignettenforschung als Methode kultureller Bildungsforschung im Tanz an einem Beispiel

Die Vignette Sejdi und der Beginn des Stücks 

Artikel-Metadaten

von Julia Brennecke, Verena Freytag

Erscheinungsjahr: 2025

Peer Reviewed

Abstract

Die phänomenologische Vignettenforschung ist eine in der erziehungswissenschaftlichen Unterrichtsforschung etablierte Methode, wird aber in der Kulturellen Bildung noch kaum genutzt. Dabei hat die Methode gerade durch ihren leiblich-sinnlichen Zugriff ein besonderes Potenzial für die Erforschung ästhetischer Prozesse. In dem vorliegenden Beitrag stellen wir die Grundzüge des Verfahrens vor und beschreiben ihren Mehrwert für die Forschung in der Kulturellen Bildung.

In der Einleitung wird zunächst das Forschungsprojekt Watchin’ Dance skizziert. Das Projekt fragt zusammengefasst danach, wie jugendliche Zuschauer*innen zeitgenössischen Tanz an Bühnen erleben. Im anschließenden Kapitel werden exemplarisch aktuelle qualitative Studien vorgestellt, die sich mit der Erforschung der Zuschauer*innenperspektive auf Tanztheateraufführungen beschäftigen. Dabei fällt auf, dass die genutzten Methoden die Situativität des Aufführungsereignisses kaum erfassen können. Es ergibt sich aus unserer Sicht ein forschungsmethodischer Bedarf. Mit der phänomenologisch orientierten Vignettenforschung schlagen wir in den anschließenden Kapiteln ein Verfahren vor, das der Situativität von Aufführungen nahe kommt. Dabei orientieren wir uns an der Innsbrucker Vignettenforschung (Schratz / Schwarz / Westfall-Greiter 2012) sowie den Ausführungen zur Vignettenforschung von Evi Agostini (2016). Es folgt die Vignette Sejdi und der Beginn des Stücks, die im Rahmen des Projekts Watchin‘ Dance verfasst wurde, sowie eine Vignettenlektüre. In der abschließenden Diskussion diskutieren wir die Potenziale der Vignettenforschung für die Tanzrezeption und fragen, inwiefern im Erhebungsprozess ‚Miterfahrung‘ gelingen kann. Wir sehen die Potenziale der phänomenologischen Vignettenforschung zusammengefasst darin, unmittelbare Reaktionen von Zuschauer*innen während einer Tanzaufführung zu erfassen. Dem Schreiben von Vignetten kommt dabei eine besondere Bedeutung zu, da es im Schreibprozess möglich ist, sich als Forschende den Erfahrungssituationen reaktivierend zu nähern. Insgesamt gehen die in dem Beitrag dargestellten Potenziale der Vignettenforschung über den Gegenstand Tanzrezeption hinaus. Es zeigt sich ein Mehrwert für verschiedene Forschungsgegenstände in der Kulturellen Bildung. 

Einleitung

Was erleben junge Zuschauer*innen, wenn sie ins Tanztheater gehen? Wie wirken die Bewegungen der Tanzenden und die Musik auf sie? Was fasziniert und was langweilt sie? Was nehmen sie von dem Tanztheaterbesuch mit, wie wirkt er nach, was hat das Stück mit ihnen selbst zu tun und wie tauschen sie sich hinterher über das Stück aus? In dem interdisziplinären Forschungsprojekt Watchin‘ Dance zur Tanzrezeption von Jugendlichen am Institut für Musik der Universität Kassel geht es genau um solche Fragen. Es geht darum, wie Jugendliche (zeitgenössischen) Tanz an Bühnen erleben. Unmittelbar beim Theaterbesuch, aber auch darüber hinaus, bspw. im anschließenden Austausch mit Freund*innen oder in der Nachwirkung des Tanztheaterbesuchs. Das Projekt widmet sich damit einer Lücke in der kulturellen Bildungsforschung. Während in den vergangenen Jahren eine wissenschaftliche Diskussion darüber angestoßen war, ob und wie das eigene Tanzen bildungsrelevant ist (z.B. Fleischle-Braun 2012 / 2013; siehe: Antje Klinge „Bildungskonzepte im Tanz“; Ludwig / Thomsen 2020), ist die Beantwortung der Frage nach den pädagogischen Potenzialen von Tanzrezeption noch offen. Dabei ist davon auszugehen, dass nicht nur beim Tanzen, sondern auch beim (aktiven) Anschauen einer Tanzaufführung ästhetische Bildungsprozesse angeregt werden (siehe: Freytag / Dreßler / Brennecke „Wahrnehmung von zeitgenössischem Tanz aus Sicht von Zuschauer*innen - eine qualitative Studie“).

Ziel des Projekts ist es mittels einer Mikroanalyse zu erfassen, wodurch das jugendliche Erleben von Tanztheater gekennzeichnet ist. Wir orientieren uns in dem Projekt an tanzwissenschaftlichen (Wieczorek 2017; Klein 2019) und theaterwissenschaftlichen Publikationen (z.B. Fischer-Lichte 2004; Deck / Sieburg 2008; Sack 2012) und beziehen uns theoretisch auf rezeptionsästhetische Annahmen (z. B. Iser 1975), wonach Kunstwerke ihre Bedeutung im subjektiven Prozess der Rezeption entwickeln.

Der vorliegende Beitrag basiert auf einem Vortrag im Rahmen der gemeinsamen Tagung „WIE machen wir’s. Methoden Kultureller Bildung überdenken“ des Netzwerks Forschung Kulturelle Bildung mit kubi-online im September 2024 in Köln, bei dem die Methode im Kontext der kulturellen Bildungsforschung im Tanz vorgestellt wurde.

Einführend werden verschiedene Studien vorgestellt, die sich mit dem Erleben von Zuschauer*innen bei Tanz- und Performanceaufführungen beschäftigen. Die Studien nutzen unterschiedliche methodische Zugänge, aus denen wir Folgerungen für das eigene methodische Vorgehen ziehen. Mit der phänomenologisch orientierten Vignettenforschung (Schratz / Schwarz / Westfall-Greiter 2012) stellen wir daran anschließend eine Methode vor, die das Potenzial hat, gerade die kaum sichtbaren körperlichen Reaktionen und ‚Antworten‘ von Jugendlichen auf ein Tanzstück nachzuzeichnen. Die Vignette Sejdi und der Beginn des Stücks soll dies beispielhaft verdeutlichen. In der anschließenden Vignettenlektüre wird vor allem auf die Blickbewegungen und das reflexhafte Lachen eingegangen. Die Reaktionen werden als Ausweichbewegung gedeutet und beschreiben den Jugendlichen als einen ‚wegschauenden‘ Zuschauer.

In einem abschließenden Fazit erfolgt eine Diskussion von Potenzialen und Grenzen der Vignettenforschung für die Erforschung der Zuschauer*innenperspektive im Tanz.

Forschungsperspektiven auf Tanzrezeption

Wie lässt sich empirisch erforschen, was Jugendliche bei Tanztheateraufführungen wahrnehmen? Welche methodischen Zugänge sind angemessen, um dem jugendlichen Erleben näher zu kommen? Studien, die sich ähnlichen Fragestellungen angenommen haben, liegen bislang kaum vor wie auch insgesamt die empirische Erforschung des (Tanz-)Publikums ein Desiderat bildet (Klein 2019). Dabei sind Herausforderungen eines forschenden Zugangs zum Erleben bzw. den Wahrnehmungen von Zuschauer*innen vielfältig. Zum einen gilt Tanz als flüchtig, unwiederholbar und nicht-greifbar. „Tanz ist präsent und absent zugleich, immer schon vergangen und nur als Spur erinnerbar. Er gilt als nicht fixierbar, nicht objektivierbar und nicht gegenständlich“ (Klein 2019:376). Damit unterscheidet sich eine Aufführungssituation eines Tanzstücks allerdings nicht grundsätzlich von anderen Events wie Theateraufführungen, Fußballspielen oder einem Musikkonzert. Fotos oder Videoaufzeichnungen mögen Erinnerungen aktivieren und Eindrücke vermitteln, können aber niemals das individuelle und kollektive Erleben während der Veranstaltung reaktivieren. Unter dem Stichwort Ko-Präsenz wird auf die geteilte und sich gegenseitig beeinflussende Anwesenheit von Agierenden und Zuschauenden hingewiesen. Wenn aber der Ko-Präsenz und die Situativität eines Ereignisses besondere Beachtung erfährt, ist die Frage, wie sich dies forschend fassen lässt. Wie lässt sich wiedergeben, in welchen Flow die Besucher*innen eines Fußballspiels im entscheidenden Aufstiegsspiel geraten können, wie die Atmosphäre in einem Theaterstück sein kann, bei dem der Funke zwischen Schauspieler*innen und Zuschauer*innen überspringt. Um dem Momenthaften von Aufführungen gerecht zu werden, schlägt Stefanie Husel (2014) eine auditive Publikumsforschung vor. Zu Aufführungen der Performancegruppe Forced Entertainment analysiert sie Audioaufnahmen des Publikums und setzt Geräusche wie Lachen, Klatschen, Knistern oder Husten mit dem Stück in Beziehung. Husels methodischer Zugriff ist originell und in dem permanenten Wechsel und Vergleich verschiedener Perspektiven auf die Aufführung ergeben sich neue Einsichten zum Untersuchungsgegenstand. Für die Forschungsfrage der vorliegenden Studie eignet sich der Zugang Husels allerdings nicht, da eher das Geräuschverhalten des gesamten Publikums und weniger individuelle Reaktionen der Jugendlichen aufgefangen werden können.

Gabriele Klein (2019) und Anna Wiezcorek (2017) fragen nach den Wahrnehmungen der Zuschauer*innen bei wiederaufgeführten Stücken von Pina Bausch und nutzen hierfür die praxeologische Produktionsanalyse. Die in sozialwissenschaftlicher Tradition qualitativer Forschung stehende Studie kombiniert Kurzinterviews, die unmittelbar vor und nach der Aufführung durchgeführt werden, mit ethnografischen Verfahren der teilnehmenden und nicht-teilnehmenden Beobachtung. Die Zuschauer*innen werden bspw. nach den Aufführungen gefragt: „Was sind Ihre Eindrücke von dem Stück? Können Sie mir bitte drei Stichworte nennen? Was glauben Sie, woran Sie sich später noch erinnern werden?“ (Wiezcorek 2017:99). Interessant sind auf der einen Seite die als kollektiv zu beschreibenden Überwältigungserfahrungen, die sich in den Äußerungen der Zuschauer*innen in Adjektiven wie „wunderschön“, „begeisternd“, „eindrucksvoll“, „phänomenal“, „überwältigend“ (vgl. Klein 2019:334) spiegeln und auf der anderen Seite das sich in den Antworten spiegelnde Ringen um Sprache. Klein weist kritisch darauf hin, dass zu dem Zeitpunkt der Befragung, der notwenige Distanzierungsprozess noch nicht stattgefunden hat und somit eine differenzierte Übersetzung des Tanztheatererlebnis in Sprache noch nicht vollzogen werden konnte.

Verena Freytag, Susanne Dreßler und Julia Brennecke (2024) rekonstruieren in einer Sekundäranalyse anhand von drei Fallbeispielen, wie Zuschauer*innen das Stück Urlicht I Primal Light I πρωταρχικό φως am Staatstheater Kassel wahrgenommen haben. Die Datenerhebung erfolgte über eine schriftliche Befragung mittels offener Fragen bis zu eine Woche nach der Aufführung. Die schriftliche Befragung hat den Vorteil, dass sich die Teilnehmer*innen individuell Zeit für die Antworten lassen können und nicht von einer mündlichen Interviewsituation unter Druck gesetzt werden. Auf der anderen Seite war es von forschender Seite nicht möglich, bei den Zuschauer*innen nachzufragen und einzelne Aspekte der Antworten zu vertiefen.

Die skizzierten Forschungsarbeiten kommen zu aufschlussreichen und differenzierten Einsichten zur Tanzrezeption. Bis auf Husel (2014) nutzen dabei alle Studien zumindest ergänzend schriftliche oder mündliche Befragungen. Die Studie von Wiezcorek (2017) und Klein (2019) gibt wichtige Einsichten in Erfahrungsmomente unmittelbar nach der Tanzaufführung. Es zeigt sich aber auch, dass es direkt im Anschluss an eine Aufführung nur schwer ist, differenziert die eigenen Eindrücke wiederzugeben. In den Fallbeispielen von Freytag, Dreßler und Brennecke (2024) zeigt sich eine Limitation in der Datenerhebung durch die Form der schriftlichen Befragung. Husel (2014) schafft es durch die Audioaufnahmen in besonderer Weise den Moment der Aufführung einzufangen. Dabei wird aber in erster Linie ein kollektives Rezeptionserlebnis gespiegelt. Einen Rückschluss auf individuelles Erleben ist mittels der Audioaufnahmen nicht möglich.

Die methodischen Zugänge der Studien vergleichend kommen wir zu dem Schluss, dass mündliche wie schriftliche Befragungen von Zuschauer*innen angemessene Methoden sind, um individuelles Erleben zu rekonstruieren. Gleichzeitig wird deutlich, dass es den befragten Personen schwer zu fallen scheint, Eindrücke zum Stück zu verbalisieren. Auch das situative Erleben während der Tanzaufführung ist kaum nachzuzeichnen. Der Fokus auf sprachliche Erhebungsmethoden in den Studien ist nachvollziehbar und schlüssig. Die Arbeit von Husel zeigt aber auch das Potenzial einer auditiven Publikumsforschung. Es stellt sich daher die Frage, ob nicht auch andere nicht-sprachliche Zugänge hilfreich sind, das Rezeptionserleben von jugendlichen Zuschauer*innen aufzuzeigen. In dem Projekt Watchin‘ Dance nähern wir uns daher dem rezeptiven Erleben der Jugendlichen nicht ausschließlich über Sprache. Mit der phänomenologischen Vignettenforschung (vgl. Schratz / Schwarz / Westfall-Greiter 2012) schlagen wir in Ergänzung zu qualitativen Interviews ein Verfahren vor, das geeignet ist, insbesondere auch körperliche Reaktionen der Jugendlichen wie Mimik, Gestik, Körperhaltung beim Besuch einer Tanzaufführung einzufangen. Vereinfacht, geht es in einer phänomenologischen Betrachtungsweise darum, das Wesen, die Eigenschaften eines Phänomens intersubjektiv beschreibend zu erfassen. Unter einem Phänomen kann Unterschiedliches subsumiert werden, wie z.B. abstrakte Begriffe (Freiheit, Lust, Ekel, Trauer), Gegenständliches (Tisch, die Farbe Rot, Laub), Situationen und Erfahrungen (Zugfahrt, Online-Meeting, Kuss) usw. Ein phänomenologischer Zugang meint ein deskriptives Verfahren, in dem es unabhängig von Erklärungen und Deutungen darum geht, eine Eigenschaft, einen Gegenstand, eine Begebenheit, eine Erfahrung usw. zu beschreiben. In quasi „naiver“, unvoreingenommener Einstellung werden die Dinge dargestellt, so wie sie erscheinen. Als Beobachtende und Miterfahrende nähere ich mich als Forscherin den Phänomenen von außen und versuche möglichst ungefiltert zu erfassen, was sichtbar, hörbar, spürbar ist. „Der Phänomenologe hält sich offen. Er möchte die geliebte Wirklichkeit in ihrer Unmittelbarkeit, so wie sie sich ihm bietet, erfassen. (...) Er muß vielmehr zurück zu den „Sachen“ (Achtung andere Anführungszeichen), d. h., er muß erfahren, was sich in der Lebenswelt tut.“ (Beekmann 1984:20).

Phänomenologisch orientierte Vignettenforschung

Das Projekt Watchin‘ Dance orientiert sich an der Innsbrucker Vignettenforschung, in der Vignetten als eine innovative Methode in der qualitativen Unterrichtsforschung entwickelt wurden (vgl. Schratz / Schwarz / Westfall-Greiter 2012). Vignetten sind hiernach phänomenologische Kurztexte, „die auf Protokollen teilnehmender Miterfahrung basieren, die im Laufe des Forschungsprozesses – ähnlich einer kommunikativen Validierung unter Einbeziehung der Forschungsgruppe – angereichert und verdichtet werden“ (Baur / Schratz 2015:168). Ziel der Vignetten ist es, Lernerfahrungen von Schüler*innen aufzuzeigen. Es geht „weg von den messenden und ergebnisorientierten Verfahren hin zu einer verstehenden und „einfühlenden“ Rekonstruktion der Lernerfahrungen im Prozess“ (Brinkmann 2012:o.S.). Unter Lernerfahrungen werden dabei keine abrufbaren Lernergebnisse verstanden, sondern ein Lernen als Erfahrung, „eine Erfahrung über die eigene Erfahrung“ (Meyer-Drawe 2013:74; Hervor. i. O.). Erfahrungen gehen nach diesem Verständnis mit Irritationen, mit Änderungen von Erwartungen, Annahmen oder Einstellungen einher. Angestoßen durch ein Ereignis wird mein bisheriger Erfahrungsschatz, das, was mir vertraut ist, aufgestört und ggf. auch verändert. Dabei geht nicht jede herausgehobene Situation, nicht jedes Ereignis mit einer (Lern-)Erfahrung einher, sondern es bedarf einer mehr oder weniger intensiven Reflexion des Geschehens. „Unbefragte Denk-, Handlungs- und Wahrnehmungsgewohnheiten stehen dem produktiven Eingehen (...) dabei oft im Wege“ (Agostini 2019b:179).

Die phänomenologisch orientierte Vignettenforschung findet bislang vor allem in der Schul- und Unterrichtsforschung Anwendung (z.B. Schratz / Schwarz / Westfall-Greiter 2012; Agostini 2017) und in Ansätzen auch in verschiedenen Feldern ästhetisch-kultureller Bildung (z.B. Agostini 2016; Jung 2019; Bube 2020; Kruse 2021; Lehner / Peterlini 2021). Kristin Westphal stellt die Bedeutung eines phänomenologischen Zugangs für die ästhetisch-kulturelle Bildung gerade in Bezug auf zeitgenössische Theater- und Performancekunst heraus „insofern eine responsive Leiblichkeit, Be- und Entzug, Lebenswelt, Differenz- und Fremderfahrung etc. wichtige Bezugsgrößen für die Beschreibung und Analyse neuerer Verfahrensweisen und Rezeptions- bzw. Produktionsweisen in den Künsten bedeuten“ (siehe: Kristin Westphal „Phänomenologie als Forschungsstil und seine Bedeutung für die kulturelle und ästhetische Bildung“).

Durch eine phänomenologische Vignette soll eine Situation mitempfunden sowie ihr körperlich nachgespürt werden. Sie „ermöglicht die Teilnahme an Stimmungen und Handlungen in unserer Abwesenheit. Sie gestattet es, als eigene Erfahrung zu verarbeiten, was man selbst nicht erlebt hat“ (Gelhard 2013, zit. nach Meyer-Drawe 2016:16). Es geht nicht um eine ‚objektive‘ Darstellung einer Situation, sondern darum, wie sich eine Begebenheit aus Perspektive der Forscher*innen dargestellt hat.

Evi Agostini zeigt in ihrer Dissertation zum Phänomen des Erfindens, dass Vignetten „einen (prä-)reflexiven Zugang auf das Phänomen“ (Agostini 2016:40) ermöglichen, und legt dar, dass Vignetten „in ihrer Struktur sowie ihrem intuitiven Gehalt dem Beispiel“ (ebd.) ähneln. Als Exempel für Vollzüge des Lernens scheinen sie geeignet, besondere Momente beispielhaft nachvollziehbar zu machen (vgl. Agostini 2016). Die Vignetten haben außerdem eine Nähe zu ethnografischen Herangehensweisen und Erhebungsmethoden wie die „dichte Beschreibung“ (Geertz 1999, zit. nach Agostini 2016:56) und den „Feldvignetten“ (Schulz 2010:171ff. zit. nach Agostini 2016:56/57).

„Als leibliche Wesen bewegen wir uns in der Welt, nehmen andere Menschen, Tiere, Pflanzen, Dinge, Ereignisse wahr, empfinden wir mit dem, was wir wahrnehmen. Wir sind demnach nicht nur empfindungslose Körper unter anderen Körpern, sondern stehen im ständigen Austausch mit allem, was uns umgibt, nehmen Einflüsse auf, üben aber auch selbst Einfluss aus“ (Agostini et al. 2023:29). Die Innsbrucker Vignettenforschung integriert die Annahme einer leiblich-körperlichen Verflochtenheit in den Forschungsprozess und spricht von „teilnehmender Miterfahrung“ (Baur / Schratz 2015:168). Subjektive Erfahrungen der Forschenden wie auch der beforschten Personen werden damit grundgelegt und sind „Ausgangspunkt und Gegenstand der phänomenologischen Methodologie“ (Brinkmann 2015:531).

Vorteile aber auch Probleme der Vignettenforschung liegen auf der Hand. Zum einen eröffnet das Verfahren durch die Nähe der Forscher*innen zu den Proband*innen eine besondere Unmittelbarkeit. Durch ein Miterfahren im Forschungsprozess können Momente im Erfahrungs- und Lernvollzug aufgespürt werden. Den Forschenden ist es möglich, sich dem Forschungsgegenstand sowohl leiblich spürend wie auch beobachtend zu nähern (vgl. Schratz / Schwarz / Westfall-Greiter 2012:34). Atmosphären, auditive, kinästhetische oder taktile Wahrnehmungen, Staunen oder Befremden fließen somit ebenso in den Forschungsprozess ein wie außenstehendes Beobachten der Situation. In gewisser Weise geht es somit bei der phänomenologisch orientierten Vignettenforschung um ein ‚Forschen mit allen Sinnen‘.

Auf der anderen Seite ist das Verfassen einer Vignette bereits durch die Involviertheit der Forscher*innen gebrochen, sodass bereits an dieser Stelle Wertungen einfließen. Malte Brinkmann kritisiert dementsprechend, dass die Methode nicht klar zwischen „Erfahrung und Erfahrungsrekonstruktion“ (2012:o.S.) unterscheidet: „Es wird zwischen der Verschriftlichung der Beobachtung mit ästhetischen Mitteln und deren Auswertung und Bewertung nicht sauber getrennt. Schon die Beobachtungen und Aufzeichnung vor dem Erstellen der Vignetten scheinen von Wertungen durchzogen zu sein, die sich in der „intuitiven“ und „verstehenden“ Teilnahme an der Situation einstellten. Die ästhetisierende und dekontextualisierende Darstellung in den Vignetten präformiert dann eine Sicht, die sich eigentlich erst in der Lektüre je individuellen Verstehens einstellen sollte“ (ebd.). Problematisch sei außerdem, dass der Moment im erhobenen Material nicht nochmals angeschaut, überprüft werden kann, sondern sich auf die Erfahrungsprotokolle reduziert. Damit ist eine Überprüfung und Zweitauswertung des Materials durch Dritte nicht möglich.

Trotz der Kritikpunkte ist die Methode für das Forschungsprojekt Watchin Dance in Ergänzung zu qualitativen Interviews ein vielversprechender Ansatz. Vignetten schenken der aisthetischen Dimension Beachtung, indem sie neben sprachlichen auch nonverbale Äußerungen bzw. leibliche Artikulationen, wie Mimik, Gestik, Körperhaltung, Bewegung, Kleidung, aber auch Geräusche und Atmosphären beschreiben.

Forschungssetting

Zwischen März und Juni 2024 wurden zweiundzwanzig Jugendliche einer Gesamtschule und eines Oberstufengymnasiums beim Besuch von Tanztheateraufführungen am Staatstheater Kassel von je drei bis vier Mitarbeiterinnen der Projektgruppe begleitet. Die Jugendlichen waren zu dem Zeitpunkt des Theaterbesuchs zwischen 15 und 17 Jahre alt und hatten unterschiedliche Vorerfahrungen im Tanz. Die Forscherinnen hatten den Auftrag, das Geschehen im Publikum möglichst offen zu verfolgen und auffällige Momente zu protokollieren. Von Interesse waren bspw. Fragen wie: Wie verhalten sich die Jugendlichen beim Tanztheaterbesuch? Welche körperlichen und verbalen Reaktionen zeigen sie auf das Stück? Wie respondieren sie auf das Stück? Wie lassen sie sich auf das Stück ein? Grundlage des vorliegenden Beitrags ist der Besuch des Tanzdoppelabends Winterwende | Winter Solstice (UA) Barocke Visionen für das Ende der Zeit Tanz-Uraufführungen von Anat Oz und Kristel van Issum mit dem Ensemble von TANZ_KASSEL. Den Rahmen bildet die Choreografie von Anat Oz (Israel) mit Flare, den Mittelteil Winterwende von Kristel van Issum (Niederlande). Die Gesamtdauer beider Stücke beträgt ca. 120 Minuten. Besonders ist die Kombination aus zeitgenössischem Tanz und Barockmusik. Die später im Beitrag vorgestellte Vignette Sejdi und der Beginn des Stücks bezieht sich auf den ersten Teil Flare. In Flare, was mit Glühen übersetzt werden kann, wird – laut dem Programmheft des Staatstheaters Kassel (2024) – das Spiel zwischen Sicherheit und Unsicherheit, Halt und Bodenlosigkeit selbst zum Thema: Dunkelheit, Beklemmung, Unsicherheit auf der einen, Schutz und klare Struktur – verkörpert durch die Sopranistin – auf der anderen Seite (vgl. Staatstheater Kassel 2024). Die Choreografin Anat Oz beschreibt ihre Arbeit als Spiel mit den Gegensätzen: „Im ersten Teil habe ich bewusst einen Widerspruch zwischen zwei Gegensätzen aufgeworfen: Auf der einen Seite – das Unbekannte, etwas „Schlimmes“, Angst und das Gefühl, dass etwas auf uns eindringt und überhandnimmt, eine Pandemie oder ein Angriff – das Gefühl der Beklemmung oder der schwarze Augenblick in einer Ohnmacht mit dem Gefühl von Hilflosigkeit. Auf der anderen Seite gibt es aber ein schützendes Gefühl, das mit Wissen zu tun hat“ (Staatstheater Kassel 2024:9).

Von der Miterfahrung zur Vignette

Die Datenerhebung erfolgte in Anlehnung an die Methode der „teilnehmenden Erfahrung“, die Tom Beekmann in Abgrenzung zu der üblichen Variante der „teilnehmenden Beobachtung“ (Beekmann 1984) vorschlägt: „Der Forscher ist stets handelnd dabei, er macht mit. Würde er nur Beobachter sein, könnte er an der Lebenswelt der Kinder nicht teilnehmen.“ (ebd.:18). Beekmann hebt die prä-reflexive Anwesenheit der Untersuchenden im Untersuchungsfeld hervor, in der die anwesende Person Stimmungen, Atmosphäre und Pathisches wahrnimmt: „es ist damit wie mit einem Gedicht: die Intonation, das Expressive ist oft wichtiger als der Inhalt; obwohl man beide Seiten nicht voneinander trennen kann.“ (Beekmann 1984:17). Beekmann führt unter Verweis auf Straus (Straus 1966, zit. nach Beekmann 1984:18) aus, dass eine „pathisch bestimmte Anwesenheit“ (ebd.) zwar kaum objektivierbar und überprüfbar ist, aber trotzdem grundlegend für die Erhebungen im Untersuchungsfeld ist. Es ergibt sich für ihn damit auch eine forschungspraktische Konsequenz, nämlich die Feldsensibilität, die eine große Vertrautheit der Forscher*innen mit dem Untersuchungsgegenstand voraussetzt.

In dem vorliegenden Projekt wurde also versucht, teilnehmend erfahrend bzw. miterfahrend von Tanzaufführung und Publikum das wahrzunehmen und aufzufangen, was sich zwischen dem Geschehen auf der Bühne und den Jugendlichen ereignet. Dabei waren minimale beobachtbare Ereignisse und (körperliche) Reaktionen der Jugendlichen von Interesse wie bspw. Veränderungen in der Mimik, Gestik, Kontakt zu den Mitschüler*innen, Veränderungen der Sitzhaltung, Bewegungen von Händen und Fingern. Es ging also vor allem darum, von außen wahrnehmbare leibliche (und ggf. auch sprachliche) Reaktionen, die sich während des Tanztheaterbesuchs ereignen, aufzufangen.

Die Forscherinnen saßen verteilt im Zuschauerraum hinter oder neben den Jugendlichen. Bei der Positionierung im Publikum wurde versucht, einerseits einen Platz in der Nähe der Jugendlichen zu wählen, zum anderen aber auch einen Abstand zu halten, um Reaktionen mitverfolgen zu können. Auch war es wichtig, den Jugendlichen zwar transparent zu machen, dass es sich bei dem gemeinsamen Theaterbesuch um ein Forschungsprojekt handelt, ihnen aber auf der anderen Seite nicht das Gefühl zu vermitteln, sie ständen unter Beobachtung. Auch sollten die persönlichen Momente, mit denen der Besuch einer Tanzaufführung einhergeht, nicht gestört werden. Es ergab sich ein Zwiespalt, da die Forscherinnen auf der einen Seite forschend den Zuschauer*innen möglichst nah sein wollten und die Jugendlichen auf der anderen Seite in ihrem ästhetischen Erleben nicht stören wollten. Die Situation erforderte also einen sensiblen Umgang und es musste abgewogen werden, wann die Forscherinnen sich den Jugendlichen beobachtend nähern und wann es besser war, den Fokus wieder zu lösen.

Auch musste beachtet werden, wie man als Forscherin selbst auf das Tanzstück reagiert. Bin ich also fasziniert, abgestoßen, irritiert oder gelangweilt? Kann ich mich als Forschende auf das Stück einlassen oder versuche ich, mich dem Ereignis zu entziehen? Die Wirkung des Stücks auf die Forscherinnen können die Beobachtungen lenken. Es fließen dann nicht nur Vorannahmen, Vorwissen und theoretische Grundannahmen in den Forschungsprozess mit ein, sondern auch das eigene ästhetische Erleben. Dies kann einerseits vorteilhaft sein, da man miterfahrend einen Eindruck von dem Tanzstück hat, dieser aber, wie beschrieben, auch beeinflussen kann. Hier ist es nötig, sich als Forschende im Sinne der phänomenologischen Methode der „Epoché“ (altgriech. Zurückhaltung oder Enthaltung im Urteilen) um eine Zurückstellung eigener Vorurteile, Stellungnahmen und Urteile zu bemühen oder sich diese zumindest bewusst zu machen (vgl. Brinkmann 2020).

Beobachtet wurde sowohl das Bühnengeschehen wie auch die Schüler*innen im Publikum. Dabei waren bereits kleinste (körperliche) Veränderungen in der Gestik, Mimik, Haltung (oder eben auch Nicht-Veränderungen) von Interesse. Aufgeschrieben wurde das, was in irgendeiner Weise hat aufmerken lassen. Dabei stellte sich die Frage, was eigentlich besonders ist, wenn sich Zuschauer*innen ein Stück anschauen. Ist es bereits bemerkenswert, wenn eine Schülerin hustet oder zu ihrer Nachbarin schaut? Ist es interessant, wenn ein Schüler tief im Sessel versinkt? Was erregt die Aufmerksamkeit und warum? Wir haben versucht, diesen Fragen zu begegnen, indem wir beobachtend und miterfahrend zunächst möglichst viel von dem, auf das wir aufmerksam wurden, schriftlich festgehalten haben. Das Protokollieren wurde dadurch erschwert, dass der Zuschauerraum während der Aufführung nicht beleuchtet war, was die Mitschriften teils unleserlich machte. Im Nachhinein stellte sich heraus, dass die Forscherinnen an einzelnen für sie auffälligen Beobachtungen hängen blieben (z.B. häufigen Fingerbewegungen eines Schülers, die starre Körperhaltung einer Schülerin). Diese waren dann Grundlage für die sich anschließenden Ausformulierungen in Rohvignetten.

Für die Transformation der Protokollnotizen in Rohvignetten waren präzise Beschreibungen nötig, um Reaktionen der Jugendlichen auf das Stück sprachlich zu fassen, ohne ihnen etwas „überzustülpen“. Die phänomenologisch orientierte Vignettenforschung folgt dabei der für die Phänomenologie typischen Methode der Deskription (z.B. Alloa / Breyer / Caminada 2023), die versucht, „Dinge zunächst in ihrer phänomenalen Gegebenheitsweise zu beschreiben“ (ebd.:222). Zentral an der Deskription ist, „sich gerade nicht um Deutungen zu bemühen, sondern lediglich nur das festzuhalten, was sich selbst zeigt, mag es auch noch so dürftig sein“ (Heidegger 1994:63, zit. nach Brinkmann 2020:33). Brinkmann führt an, dass nur das beschreibbar ist, was auch sichtbar, hörbar, spürbar oder anderweitig wahrnehmbar ist (Brinkmann 2020:4). Denn nur Handlungen, sprachliche Äußerungen, Expressionen wie Lachen oder Weinen, Bewegungen, Körperhaltungen, Stille, Mimik oder Gestik sind von außen beobachtbar und damit zu beschreiben. Hierfür sei es nötig, passende Verben, die wertfrei Handlungen wiedergeben, zu nutzen. „Überhaupt können Bewegungen genauer beschrieben werden, ohne Intentionen, Motive oder Absichten zu unterstellen. Die Beschreibung richtet sich dann vor allem darauf, wie gehandelt wurde, wobei die Mimik, Gesten und der Tonus und die leiblichen emotionalen Antworten auf Andere im Mittelpunkt stehen. Verben und nicht-wertende Adjektive sind für eine anschauliche, deskriptive Darstellung nützlich“ (Brinkmann 2020:6). Auch Kausalsätze, Metaphern oder Vergleiche sollten hiernach nur sparsam verwendet werden (ebd.). Viele, gerade in pädagogischen Kontexten interessante Aspekte wie innerliche Prozesse, Lernvorgänge, Gefühle und Gedanken bleiben damit ausgeschlossen, da sie sich dem direkten beobachtbaren Zugriff entziehen (Brinkmann 2020:6). Für das vorliegende Forschungsprojekt sind – wie bereits dargestellt – vor allem körperliche Reaktionen der Jugendlichen, während sie sich das Tanzstück anschauen, wahrnehmbar.

Es folgte eine kollegiale Evaluierung der Rohvignetten im Forscher*innen-Team, eine Überarbeitung durch die Vignettenschreiberin sowie eine Verdichtung zu finalen Vignetten (vgl. Agostini et al. 2023). Agostini verweist darauf, dass Vignetten zwar „eine besondere Genauigkeit und ästhetische Prägnanz“ (2019b:181) benötigen, aber eher im Hinblick auf sinnliche Erkenntnis. Es ist daher nicht nötig, genau das wiederzugeben, was beobachtet wurde, sondern den Gehalt einer Situation ästhetisch zu verdichten. Damit lösen sich Vignetten von einer rein beschreibenden Darstellung und implizieren immer schon eine gewisse Lenkung durch den*die Vignettenschreiber*in (vgl. Kapitel: Phänomenologisch orientierte Vignettenforschung). Die Innsbrucker Forschungsgruppe versucht diesem Problem entgegenzuwirken, indem sie ein gemeinschaftliches, mehrschrittiges Auswertungsverfahren vorschlägt. Sowohl das Schreiben der Vignette geschieht hiernach im kollegialen Austausch als auch die Vignettenlektüren werden multiperspektivisch im Team ausgehandelt. Neben dem bedachten Einsatz von Sprache muss beim Verfassen einer Vignette entschieden werden, welche Informationen für die Gesamtkonzeption der Vignette wichtig bzw. irrelevant sind (vgl. Agostini 2019b). Dies betrifft auch Kontextinformationen, beispielsweise über die Vorerfahrungen der Schüler*innen mit Tanz, Hintergrundinformationen zur Inszenierung, zu den Choreografinnen usw. Zu unterscheiden, welche Informationen wichtig sind und welche für die Aussage bzw. die Beschreibung der szenischen Atmosphäre der Vignette vernachlässigt werden können, muss damit jeweils von den Verfasser*innen abgewogen werden. Auch die finalen Vignetten der Forschungsgruppe Watchin‘ Dance wurden gemeinsam gelesen, validiert und mögliche Lektüreansätze diskutiert.

Vignettenlektüre

Nachdem die kollegiale Evaluierung vollzogen und die Vignette verdichtet sowie finalisiert worden ist, erfolgt das Verfassen der Vignettenlektüre. Vignetten zeigen vielfältige Lesarten, die bei der Lektüre aufgegriffen werden. Es geht dabei um ein „Lesen und Weiterlesen, ein Sehen und Wiedersehen, ein Zusammentragen, Auflesen, Verlesen und Sammeln dessen, was da noch ist, und was der erste, zweite oder dritte Blick übersieht“ (Schratz / Schwarz / Westfall-Greiter 2012:39). Dabei sollen aber nicht sich zeigende Erfahrungen herausgestellt und erklärt werden, also ein „pointing out“ (Finlay 2009:11, zit. nach Schwarz / Schratz / Westfall-Greiter 2013:17), sondern vielmehr geht es um ein „pointing to“ (ebd.), also einem Hinzeigen, an welchen Stellen Erfahrungen vollzogen werden. In der Lektüre steht somit die Suche nach Verstehensmöglichkeiten für die Erfahrungsvollzüge im Vordergrund, wobei Fragen gestellt und keine abschließenden Antworten gegeben werden sollen. Siegfried Baur (2016:13) beschreibt das Vorgehen bei der Lektüre als: „In der Lektüre deute ich mein Deuten in der Vignette. Deuten bedeutet jedoch nicht erklären oder begreifen, es bedeutet eher verstehen und auslegen, in eine Richtung zeigen, in etwas Offenes, das ich verschieden ausfüllen kann“. Beim Verfassen der Lektüre können Fragen wie Was steht in der Vignette geschrieben? Was ist die zentrale Erfahrung? Wie kann man das verstehen? Was eröffnet sich daraus? leitend sein (vgl. Agostini 2019a:96). So wird immer dicht an der Vignette gearbeitet und ähnlich einem offenen Kodiervorgang in der Grounded Theory (Strauss / Corbin 1996) zunächst versucht, die sich in der Vignette zeigenden Themen zu identifizieren.

Mit Blick auf die Forschungsfragen des Projekts wird versucht zu erfassen, welche körperlichen oder verbalen Reaktionen die Jugendlichen zeigen, während sie Tanztheaterstücke anschauen bzw. miterleben. Die sich in der Vignette spiegelnden Reaktionen der Jugendlichen können in einer Vignettenlektüre ausformuliert und ggf. mit theoretischen Bezügen verknüpft werden. Die theoretischen Bezüge sind ähnlich wie bei anderen qualitativen Methoden als sensibilisierende Konzepte zu verstehen, die bei der Deutung der Daten lenkend sind. Für das vorliegende Projekt könnten hier bspw. das Konstrukt der ästhetischen Erfahrung oder Aspekte der Identitätsentwicklung von Jugendlichen herangezogen werden.

Die folgende Vignette Sejdi und der Beginn des Stücks ist eine von über zwanzig Vignetten, die im Rahmen des Forschungsprojekts Watchin‘ Dance verfasst worden sind. Sie ist im Rahmen des Tanztheaterbesuchs Winterwende entstanden. Für die Lektüre dieser Vignette wurde zunächst ein möglichst offener Zugang gewählt. Das heißt, es wurde im Forschungsteam diskutiert, welche Aspekte in der Vignette relevant erscheinen und mit welchen unterschiedlichen „Brillen“ sie gelesen werden können, ohne bereits spezielle theoretische Konzepte heranzuziehen. Beim Lesen oder Hören der Vignette Sejdi und der Beginn des Stücks fiel bspw. die besondere Mimik des Jungen auf oder auch die Bewegungsbeschreibungen des Tänzers. In den Vignettenlektüren wird in der Regel eine zentrale Lesart vorgestellt (z.B. Agostini 2016). Grundsätzlich ist es aber auch möglich, in einer Lektüre unterschiedliche Deutungsmöglichkeiten aufzuzeigen. In der Lektüre Augen zu und durch stellen wir eine Lesart der Vignette Sejdi und der Beginn des Stücks vor. Für die Lektüre der Vignette wurde nach dem Austausch verschiedener Deutungsansätze ein besonderer Fokus gesetzt. So war der Vignettenschreiberin vor allem das wiederholte Lachen des Jugendlichen sowie sein Zuschauen, was mehr einem Wegschauen gleicht, bedeutsam, weshalb dies in der Lektüre zentral in den Blick genommen wird.

Vignette: Sejdi und der Beginn des Stücks

Der Zuschauerraum verdunkelt sich, der Vorhang geht hoch und das Stück beginnt. Im Lichtfokus am Bühnenrand ein Tänzer, gehüllt in einen transparenten Maleranzug mit einer imkerartigen Maske. Schon vor Beginn des Stücks hat er sich dort vorm Vorhang in Zeitlupe bewegt. Sejdi und Vivien, die nebeneinandersitzen, tauschen noch ein paar Worte aus und schauen dann nach vorne auf die Bühne. Stille liegt über dem Saal. Nur das Atmen und die Bewegungen des Tänzers sind zu hören – keine Musik. Er führt mit seinen abstandhaltenden Händen den Bauch im Rhythmus zweier Herzschläge nach hinten, krümmt seinen Rücken und geht im gleichen Rhythmus wieder zurück in die Ausgangshaltung. Während er dies wiederholt, ziehen sich Sejdis Mundwinkel weit nach hinten, seine Lippen öffnen sich und ein lautloses Lachen erschüttert leicht seinen Oberkörper. Sejdi dreht seinen Kopf nach rechts zur nahegelegenen Wand, schaut diese geradlinig an und verweilt kurz. Den Kopf weiterhin zur Wand gerichtet, verfolgen seine Augen den Tänzer nun nur über die Augenwinkel. Dieser streicht mit beiden Händen hastig über die Arme, dann über den Bauch, mal klopft und klatscht er abwehrend über den Körper. Sejdis Mundwinkel ziehen sich erneut weit nach hinten und seine Augen flüchten zurück zur Wand. Zeitgleich hebt Sejdi die rechte Hand vor seinen Mund, sodass sein Zeigefinger die Nasenspitze berührt und das breite Grinsen seines Mundes ein stückweit überdeckt. Nach einer Pause seiner Blicke an der Wand dreht er zuerst nur die Augen und dann ganz langsam folgend den Kopf zur Bühne. Der Tänzer wird immer flüssiger und größer in seinen Bewegungen. Er macht mit seinem Bauch wellenförmige Bewegungen und überträgt diese auf den ganzen Körper. Sejdi lacht auf, was diesmal seinen ganzen Oberkörper mehrmals zum Beben bringt. Ein breites Grinsen zeichnet sich hinter seiner Hand ab. Er wendet seinen Kopf zu Vivien und sucht ihren Blick.

Vignettenlektüre: „Augen zu und durch“

Lachen zu müssen, kennen viele von uns. Wir lachen „bei Überraschung, Erstaunen, Unpässlichkeit, Peinlichkeit – nicht unbedingt, sogar eher seltener zum Vergnügen“ (Kesselring / Unteregger 2011:691). Die Vignette Sejdi und der Beginn des Stücks fängt ein, dass Sejdi wiederholt lächelt und lacht. Warum aber lacht Sejdi, was passiert genau und wie geht er damit um?

Sejdi sitzt auf der rechten Seite im hinteren Drittel des Zuschauerraums. Die äußeren drei Plätze zu seiner Rechten sind unbesetzt. Vor Beginn des Stücks redet er mit seiner Sitznachbarin Vivien, bis der Saal verstummt und ihre Blicke sich der dunklen Guckkastenbühne zuwenden. In einem Lichtkegel befindet sich nur ein Tänzer. An der gleichen Stelle stehend, wie schon vor Beginn des Stückes vorm Vorhang. Er trägt einen transparenten Anzug mit einer imkerartigen Maske, unter dem sich seine Körper- und Muskelkonturen deutlich abzeichnen. Der Tänzer krümmt und wölbt isoliert seinen Bauch, wie im Rhythmus zweier Herzschläge. Der Theatersaal ist völlig ruhig, die Musiker*innen im Orchestergraben sitzen noch zurückgelehnt. Keine Musik erklingt, nur der Tänzer ist zu hören. Unmittelbar nach den ersten Bewegungen des Tänzers zeichnet sich in Sejdis Gesicht ein Grinsen ab und ein Lachen lässt seinen Oberkörper beben. Sejdi dreht seinen Kopf zur rechten Wand und lässt seinen Blick dort kurz ruhen.

Das Stück hat soeben begonnen und Sejdi überkommt direkt ein Lachen. Was aber bringt ihn zum Lachen? Ist es der Tänzer? Sind es die Bewegungen? „Lachen ist gewöhnlich eine Reflexbewegung, die am vollkommensten stattfindet, wenn die Aufmerksamkeit vom Körper abgewendet ist“ (Kesselring / Unteregger 2011:691). Sejdis Lachen kann somit als Reflex auf einen unwillkürlichen Reiz gesehen werden. Der Reiz selbst lässt sich anhand der Vignette nicht klar definieren und gibt nur Raum für Vermutungen. So kann einerseits der Beginn des Stücks für Sejdi völlig entgegen seinen Erwartungen gestartet haben. Der Tänzer war schon vor Beginn vor dem Vorhang auf der Bühne. Jetzt ist er immer noch da. Keine Musik wird gespielt. Aber die Musiker*innen sind doch da, im Orchestergraben, warum keine Musik? Irgendwie hat sich nichts groß geändert zu dem, bevor der Vorhang hochgegangen ist. Ist es überhaupt schon der Anfang? Was wird noch kommen? Vielleicht ist Sejdi aber auch durch den Tänzer selbst und seinen merkwürdigen, Körperrhythmus geleiteten Bewegungen irritiert und unangenehm berührt. Der Tänzer trägt zwar einen Anzug, doch dieser ist so transparent, dass seine Haut, Körper- und Muskelkonturen darunter zu identifizieren sind. Die Verbindung mit dem Imkerhut, der das Gesicht und direkten Blickkontakt vermeidet ist befremdlich. So ist man dem Tänzer einerseits nah und doch irgendwie abgeschirmt. Fühlt sich Sejdi möglicherweise beschämt, da er von dem Tänzer so viel sieht, ihn und seine Bewegungen hört und sonst nichts dazwischen ist, durch das Ausbleiben der Musik, der sonstigen Dunkelheit. Spielt hier die Nähe eine Rolle? Ob der Tänzer, das Kostüm, die Bewegung, die Nähe zum Geschehen, das Ausbleiben der Musik oder die genannten Aspekte in Gänze, diese lösen in Sejdi etwas aus, dass ihn sichtbar zum Lachen bringt. Der Auslöser kann ein Reiz, eine Irritation, vielleicht etwas Befremdliches oder auch Widererwartendes gewesen sein. Es sind erst die ersten Minuten des Stückes und Sejdi weiß noch nicht, was auf ihn zukommen wird. Bei Filmen oder auch Videos entscheiden oftmals die ersten Minuten, ob man diese weiterschaut oder überspringt. Sejdi ist in dem Moment dem Theaterstück ausgesetzt und muss diese Verunsicherung, den Umgang mit dem Widererwartenden aushalten.

Der Reaktion des Lachens folgend, dreht Sejdi seinen Kopf zur rechten Wand, die ihm am nächsten ist, „schaut diese geradlinig an und verweilt kurz“. Neues und Unbekanntes zu erfassen ist anstrengend. „Unserem Auge fällt es bequemer, auf einen gegebenen Anlass hin ein schon öfters erzeugtes Bild wieder zu erzeugen, als das Abweichende und Neue eines Eindrucks bei sich festzuhalten: letzteres braucht mehr Kraft“ (KSA 2 JGB, zit. nach Agostini 2019a:312). Das Flüchten seiner Augen kann Ausdruck dessen sein, dass er Kraft sammeln muss, um das Neue weiter erfassen zu können, die ihm überkommenden Gefühle zu ordnen und sich dabei als „ordentlicher“ Zuschauer zu verhalten. Das Wegschauen von der Bühne ermöglicht Sejdi Abstand vom Bühnengeschehen, Abstand vom Tänzer zu gewinnen und an der schwarzen Wand Ruhe zu finden.

Nach dieser Auszeit dreht Sejdi seinen Kopf aber nicht vollständig wieder zurück. Den Kopf weiter zur Wand gerichtet und nur das Schweifen der Augen über die Bühne, erzeugt ein Bild der Vorsicht. Mit dieser Vorsicht, Zurückhaltung und der Bereitschaft die Augen schnell wieder abwenden zu können, verfolgt Sejdi die weiteren merkwürdigen klatschenden, abwehrenden Bewegungen des Tänzers nun nur über seine Augenwinkel. Wieder überzieht ein Grinsen Sejdis Gesicht und sein Blick flüchtet über die vorbereitete Kopfrichtung zurück zur Wand. Zeitgleich hebt er seine Hand vor den Mund, sodass diese das Grinsen teils verdeckt. Es zeigt sich nur ein Grinsen, statt wie beim ersten Mal ein Lachen. Lachen als Reflexbewegung kann „bis zu einem gewissen Grad zurückgehalten werden“ (Kesselring / Unteregger 2011:691). Mit dem schnellen Blick zurück zur Wand und dem Verdecken des Grinsens mit der Hand konnte Sejdi möglicherweise ein erneutes Auflachen und Beben des Körpers zunächst von ihm abwenden. Vielleicht hat aber das Bühnengeschehen mit dem Grinsen nichts zu tun. Möglicherweise klingt das erste Lachen noch nach. So fühlt er immer noch das Kribbeln der herumschwirrenden Endorphine des Lachens in seinem Bauch und bemüht sich, diese zurückzuhalten, bevor es wieder aus ihm herausbricht. Er ist als Zuschauer da. Alle anderen Zuschauer in ihren Sitzen scheinen still, steif und fokussiert auf die Bühne zu sein. Ist er fehl am Platz? Ihm gelingt es gerade nicht still zu sitzen und er muss entgegen allen anderen Lachen. Mit seiner Hand versucht er möglicherweise seine „Fehlreaktion“ zu verbergen und auch die Wand scheint ihm zu helfen, dass er sich vielleicht auf sich konzentrieren kann, um wieder in die Rolle des Zuschauers zurückzufinden.

Während seines nächsten Versuches, sich dem Tänzer wieder zuzuwenden, der nun größere, flüssigere Bewegungen macht und seinen Bauch und dann den Körper wellenförmig krümmt und wölbt, widerfährt Sejdi ein Lachen, dass seinen ganzen Oberkörper erneut zum Beben bringt und ein breites Grinsen hinter seiner Hand hervorscheinen lässt. Das Lachen zurückzuhalten, gelingt Sejdi sichtlich nicht. Beim vollen Blick zurück auf die Bühne scheint ein weiterer Reiz in ihm die Gefühle wieder anzustoßen. Das Lachen lässt seinen Oberkörper mehrmals beben. Nach Jürg Kesselring und Fabian Unteregger (2011:695) ermöglicht Lachen „mit Überraschung, Inkongruenz und Bedrohung umzugehen“, indem unter anderem durch das Eintreten von Entspannung während des Lachens „Flucht- und Kampfreaktionen [gehemmt werden]“ (ebd.). Lachen wird also nicht immer durch etwas Humorvolles oder Komisches ausgelöst, sondern tritt auch im Umgang mit Unsicherheiten auf. Sejdi ist diesem Tanztheaterstück ausgesetzt und seine Empfindungen werden scheinbar aufgewühlt. Es könnte sein, dass er durch seinen Blick zur Wand versucht, sich dem Stück zu entziehen, was aber nicht gelingt. Das Lachen überkommt ihn und die Hand vorm Mund kann sein Grinsen nicht verbergen. Möglicherweise ist dies eine Reaktion des Körpers, um neben Sejdis Gedanken- und Gefühlschaos sowie einem vielleicht hinzukommenden Fluchtgefühl – das nicht weiter ansehen zu wollen – eine Entspannung zu erhalten.

Statt wieder zur Wand zu schauen, dreht Sejdi den Kopf zu seiner linken Sitznachbarin, mit der er vor Beginn des Stücks gesprochen hat und „sucht ihren Blick“. Blicke sind Teil sozialer Interaktionen. Sie dienen zur Kontaktaufnahme, dem Suchen und Erhalten von Informationen und dem Teilen eigener Einstellungen und Emotionen (vgl. Argyle 2013:203). Sejdis Blick auf Vivien kann einerseits als Kontaktsuche gesehen werden. Die beiden kennen sich und sind sich vertraut, sodass ihm der nonverbale Kontakt Sicherheit geben könnte. Andererseits schaut Sejdi vielleicht zu Vivien, um zu sehen, wie es ihr mit der ersten Minute des Stückes ergeht. Trifft es nur ihn so widererwartend oder geht es ihr vielleicht auch so?

Es ist interessant, dass Sejdis Zuschauen in dieser Vignette mehr von einem Wegschauen begleitet ist, und er statt eines Zuschauers hier eher ein Wegschauer ist. Im Zusammenhang mit seinem Grinsen und Lachen, was er unter anderem mit seiner Hand zu verdecken versucht, ist zu beobachten, wie er mit der für ihn sichtlich aufwühlenden Situation verfährt. Er nutzt das Wegschauen, gewinnt Abstand und ruht auf der Wand im Dunkeln, wo sonst nichts zu sehen ist. Er hätte auch einfach den Raum verlassen können, sein Handy herausholen können, die Augen schließen und im Sitz versinken können. Doch er versucht in dieser kurzen Zeit immer wieder, seinen Blick zurück zur Bühne schweifen zu lassen. So wirkt es insgesamt wie ein Aushandlungsprozess zwischen der Irritation, dem Widererwarteten – was in ihm das Lachen aufbrodeln, einen Fluchtinstinkt aufkommen lässt – und zugleich dem Antrieb, auf der Bühne nichts verpassen zu wollen, dem Geschehen eine weitere Chance zu geben, den genommenen Abstand wieder zu reduzieren. Es bleibt offen, ob Sejdi sich dem Stück wieder zuwendet im Sinne „ich lasse mich einfach darauf ein“ oder nach dem Motto „Augen zu und durch“.

Diskussion und Fazit

In der folgenden Diskussion legen wir den Schwerpunkt auf die Reflexion der verwendeten Methode „Vignettenforschung“. Wir reflektieren am Fall Sejdi und der Beginn des Stücks, ob und wie „Miterfahrung“ gelingen kann.

Das besondere Potenzial phänomenologischer Vignetten sehen wir für die Tanzrezeption zusammengefasst in dem Spiel zwischen körperlichem Mitvollzug und sprachlicher Übersetzungsarbeit. Dabei spielt der Schreibprozess eine entscheidende Rolle.

Vor Beginn des Tanztheaterbesuchs stellte sich im Forschungsteam die Frage, ob und wie eine „Miterfahrung“ gelingen kann. Statt einer mehr oder weniger distanzierten Beobachtungsposition sollten Reaktionen wie Gefallen, Unbehagen, Abwehr, Spaß, Humor, Langeweile der Schüler*innen gleichsam miterfahren werden. Die phänomenologische Vignettenforschung hat den Anspruch, dies zu erreichen. Atmosphäre, Stimmungen, Eindrücke vermitteln sich hiernach in der geteilten Anwesenheit. Gerade besondere, hervorstechende, die Aufmerksamkeit erregende Momente sollen Aufschluss geben. Aber wodurch entsteht ein Miterfahren? Folgende Überlegungen wollen hierzu Reflexionsanstöße geben.

Zunächst einmal durch die geteilte Anwesenheit. Dadurch, dass Schüler*innen und Forscherinnen gemeinsam ein Tanztheaterstück anschauen bzw. sich zur gleichen Zeit, am gleichen Ort befinden und die Forscherinnen mitbekommen, was die Jugendlichen erleben. Also bspw. die Dunkelheit im Theaterraum, die plüschigen Theatersessel, den stickigen Saal, das durchdringende Niesen einer Besucherin, das ungehaltene Räuspern eines Zuschauers, das Aufprallen der Tänzer*innen auf den Boden, ihr lautes Atmen. All das beobachten wir als forschende Personen nicht nur, wir erleben es – wenn wir uns nicht ganz absperren für diese Eindrücke – mit. Teilnehmend erfahren oder miterfahren bedeutet dann, in einer Situation dabei zu sein und sie in gleicher Weise wie „normale“ Zuschauer*innen aufzunehmen. In einer beobachtenden Haltung könnte ich diese vor allem prä-reflexiven Reaktionen von mir halten, sie quasi ausblenden. Dann würde ich vielleicht einfach versuchen, das, was ich sehe, möglichst präzise aufzuschreiben.

Miterfahren ist damit zunächst einmal eine Frage der Haltung, der Bereitschaft eine Situation „mit allen Sinnen“ aufzunehmen und sich von ihr gleichsam berühren zu lassen. Ein Berührtwerden setzt sich in der Beobachtung der Zuschauer*innen fort. Ich registriere dann nicht nur ihre Bewegungen und Gesten, sondern lasse mich von ihnen berühren. Ich beobachte nicht nur wie Sejdi seinen Kopf zur Wand abwendet, sondern ich spüre das Unbehagen, das mit seiner Kopfdrehung einhergeht. Miterfahren bedeutet in diesem Sinne einfühlendes Beobachten oder auch „kinästhetische Einfühlung“ (Reason / Reynold 2010).

Neben dem unmittelbaren und geteilten Theatererlebnis spielt aber auch die anschließende Schreibarbeit der Vignetten eine wichtige Rolle. Im Schreibprozess wird versucht, möglichst präzise Beschreibungen zu finden. Die Verfasserinnen überlegen genau, wie sie Bewegungen, Gesten, Haltungen der Schüler*innen sprachlich übersetzen. Diese sprachliche, fast literarische Feinarbeit wird bei der Darstellung der Methode immer wieder herausgestellt (z.B. Agostini 2019b) und von Meyer-Drawe (2012:14) als „Sprachkunst“ bezeichnet. Es zeigt sich im Schreibprozess, dass die genaue Arbeit an den Formulierungen ein wichtiger Teil des Forschungsprozesses ausmacht. Es geht nicht nur darum, besonders „schön“ und sprachlich gewandt zu formulieren, sondern vor allem um eine erneute Annäherung an die Erfahrungssituation durch sprachliche Transformation. Die Miterfahrung wird so entscheidend in dem sich anschließenden Schreibprozess fortgesetzt und vertieft, indem eine Erfahrungssituation sprachlich transferiert wird.

Es lässt sich also zusammenfassen, dass sich in der dargestellten Vignette nicht nur die Erfahrungssituation des Schülers verdichtet, sondern auch die Miterfahrung bzw. Einfühlung der Verfasserin reaktiviert wird. Es findet in gewisser Weise eine zweifache Miterfahrung statt, sowohl während des Theaterbesuchs wie auch im anschließenden Schreibprozess.

Nicht zuletzt die Methodenreflexion zeigt, dass die Vignettenforschung ein gewinnbringendes Verfahren ist, um dem näher zu kommen, was jugendliche Zuschauer*innen bei der Rezeption von (zeitgenössischem) Tanz erleben. Potenziale der Vignettenforschung für die Tanzrezeption liegen u.a. darin, auch unmittelbare und unbewusste körperliche Reaktionen der Jugendlichen auf die Aufführung miterfahrend zu erfassen und sich diesen Erfahrungssituationen im Schreibprozess der Vignette reaktivierend zu nähern. Insgesamt gehen die dargestellten Potenziale der Vignettenforschung über den Gegenstand Tanzrezeption hinaus und bilden einen Mehrwert für verschiedene Forschungsgegenstände in der Kulturellen Bildung. 

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Julia Brennecke, Verena Freytag (2025): Miterfahren als Chance!? - Die phänomenologische Vignettenforschung als Methode kultureller Bildungsforschung im Tanz an einem Beispiel . In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE: https://www.kubi-online.de/artikel/miterfahren-chance-phaenomenologische-vignettenforschung-methode-kultureller (letzter Zugriff am 14.06.2025).

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