„Mein Haus, mein Auto, mein Geigenunterricht“ – Distinktionspotenziale Kultureller Bildung. Ein Tabuthema und wie wir trotzdem gute Bildungsarbeit machen können.
Sicherlich erinnern Sie sich noch an den Werbespot der Sparkassen aus den 90er Jahren, in dem zwei ehemalige Klassenkameraden, die sich nach vielen Jahren wieder begegnen, wie in einem Duell Fotos ihrer Statussymbole auf den Tisch knallen. So ähnlich fühlt es sich an, wenn man in ein Gespräch unter Eltern gerät, bei dem es um die kulturellen Freizeitbeschäftigungen der Kinder geht: „Wir haben für Lennard jetzt einen Platz bei diesem super Klavierlehrer aus Russland.“ – „Ach, das freut mich aber! Chiara-Sophie hat gestern ihre neue Viertelgeige bekommen. Suuuper Klang, sag´ ich Dir! Und so süß, die kleine Maus, wie sie da auf der großen Bühne steht.“ – „Oh ja, das glaub´ ich. Du, könntest Du mich am Freitag als Lesemutter vertreten? Vincent und Laeticia sind bei diesem Casting eine Runde weiter.“ – „Na klar, ich drück´ Euch die Daumen!“
„Kulturelle Bildung ermöglicht Teilhabe und Mitgestaltung. (...) Sie trägt zur Herstellung von Bildungsgerechtigkeit bei. Indem sie bei den Stärken jedes einzelnen Menschen ansetzt, eröffnet sie allen die Chancen zur Teilhabe an Kultur und Bildung und damit zu gesellschaftlicher Teilhabe.“ Na, kommt Ihnen das bekannt vor? Mit Sicherheit! Denn diese oder ähnliche Sätze (diese stammen aus dem aktuellen Positionspapier der BKJ[1]) liest man überall, rauf und runter, vor und zurück. Und wer Gelegenheit hat, guten Projekten und Angeboten beizuwohnen, wird ihnen aus vollem Herzen zustimmen. Nur ist diese Teilhabe-Argumentation etwas einseitig: sie ist gewissermaßen auf einem Auge blind.
Unangenehme Fragen
Es wäre naiv zu glauben, die Künste, kulturelle Praxis und die auf sie bezogene Kulturelle Bildung hätten in unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit keine Abgrenzungs- und Exklusionsfunktionen. Kennerschaft der Künste und kulturelle Aktivitäten sind spätestens seit der Renaissance bewährte Mittel der Distinktion – wie Bourdieu in seiner Schrift „Die feinen Unterschiede“ beschreibt. „Von allen Produkten, die der Wahl der Konsumenten unterliegen, sind die legitimen Kunstwerke die am stärksten klassifizierenden und Klasse verleihenden (...)[2]“. Ob jemand die Möglichkeit hat, am kulturellen Leben teilzunehmen – im Übrigen ein gesetzlich verbrieftes Menschenrecht! – ist nicht zu trennen von gesellschaftlicher Teilhabe im Allgemeinen. Daher müssen wir uns als professionell für Kulturelle Bildung oder Kulturproduktion Verantwortliche folgerichtig der Frage stellen, ob wir mit unserer Arbeit, wie wir immer behaupten, zu mehr Teilhabe oder aber auch zu Ab- und Ausgrenzung beitragen. Doch fragen wir uns dies erstaunlich selten und wenn, dann nur hinter vorgehaltener Hand. Ich bin Karl Ermert außerordentlich dankbar, dass er mit dieser Tagung ein Forum zur Diskussion dieser „unangenehmen Frage“ geschaffen hat, einer Frage, um die wir uns sonst gerne drücken, indem wir lieber die sonnigen Seiten kultureller Bildungsangebote erstrahlen lassen.
Jedem Kind seinen Distinktionsgewinn?
Kunst und Kultur ebenso wie die Teilnahme an kulturellen Bildungsangeboten werden selbstverständlich auch dazu genutzt, soziale und gesellschaftliche Unterschiede zu markieren und zu verstärken. In bestimmten gesellschaftlichen Kreisen braucht man ohne Musikschulanmeldung zum nächsten Kindergeburtstag gar nicht zu erscheinen und zwar spätestens ab EMP-Alter (EMP steht für Elementare Musikpädagogik), der weibliche Nachwuchs wird zusätzlich noch gern in die Ballettschule geschickt. Mir ist bewusst, dass ich den Musikschulen damit Unrecht tue. Es ist durchaus sinnvoll, wenn bereits kleine Kinder die Gelegenheit haben, mit Klängen, Bewegungen und Instrumenten zu spielen, gemeinsam mit anderen. Es geht hier nicht um die Angebote, sondern um die Motive, mit denen sie ausgewählt werden. Tatsache ist, dass es eine Hierarchie der Angebotsformen und Sparten Kultureller Bildung gibt, was ihren Distinktionsfaktor angeht – und da stehen die Musikschulen ganz weit oben auf der Liste, getoppt nur noch vom teuren privaten Instrumentalunterricht. Genauso wie es im Sportbereich eben nicht dasselbe ist, ob man Fußball spielt oder Tennis. Es ist jedoch in der kulturellen Bildungs-Szene geradezu ein Tabu, dies auszusprechen. Auf musikalische Früherziehung folgen Instrumentenkarussell, Instrumentalunterricht (gerne Violine, nicht so gerne E-Gitarre) und „Jugend musiziert“. Wenn alles gut geht, brauchen sich Mami und Papi dann auch nicht vor dem Weihnachtskonzert in der 7. Gymnasialklasse fürchten. Ihr Sprössling wird unter denjenigen sein, die auf eigenem Instrument „Tochter Zion“ zum Besten geben.
Chorsängerinnen und -sänger sind, laut einer Studie der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt zum Chorsingen in Deutschland, hinsichtlich zentraler soziographischer Merkmale untypisch für den Bevölkerungsdurchschnitt. Auffällig ist der geringe Anteil von Hauptschülern sowie der hohe Anteil an Chorsängern mit höheren Bildungsabschlüssen. „Dies legt nahe, dass soziokulturelle Einflüsse Mitgliedschaften in Chören stark beeinflussen“, so die Autoren der Studie.[3]
Auch ambitionierte Programme wie „Jedem Kind ein Instrument“ (JeKi) verströmen ein wenig gönnerhaften Gestus und offenbaren den gesellschaftlichen Distinktionsgehalt musikalischer Bildung: Liebe Arbeiterkinder, ihr dürft jetzt auch mal musizieren! Doch warum sollte jedes Kind musizieren wollen? Manch eines möchte vielleicht lieber Theater spielen oder Geschichten erfinden, malen, filmen, Zirkus machen... Nein! Es muss Musik sein, die Königsklasse. Und was ist, wenn die in der Grundschule geweckten musikalischen Talente aus dem Prekariat nach ihrer vierjährigen Förderung unverschämterweise weiter Musikunterricht nehmen möchten? Ist das zu viel verlangt? – Selbst wenn dies finanziert würde: die Kapazitäten an Lehrern, Instrumenten und Angeboten reichten bei weitem nicht aus, um auch nur einem Bruchteil der JeKi-Kinder Unterricht anbieten zu können. Schon jetzt gibt es lange Wartelisten an den Musikschulen. Am Heinrich-Schütz Konservatorium in Dresden beispielsweise, einer der größten Musikschulen in Deutschland, warten zwischen 800 und 1.500 Schüler auf freie Plätze, rund 5.000 werden derzeit unterrichtet. Für mehr fehlt es an Räumen und Lehrern. Ein Ausbau ist derzeit nicht in Sicht – im Gegenteil. In diesem Jahr muss die Musikschule mit 50.000 Euro weniger an Zuschüssen auskommen.[4] Und das, obwohl JeKi auch in Sachsen für eine deutlich höhere Nachfrage nach Musikschulunterricht gesorgt hat.
Was bei JeKi nur zu ahnen ist, spricht manch anderer ganz offen aus. Mit großer Geste wird dem bildungsfernen Fußvolk Kunstfutter hingeworfen. Michael Wimmer berichtet in seinem aktuellen „Wimmer´s monthly“[5], wie der Intendant des Wiener Konzerthauses, Bernhard Kerres, seine Rolle in der Kulturellen Bildung begreift: „Wir bildungsbürgerlichen Eltern lieben unsere Kinder mehr als Eltern in sozial schwachen Gegenden. Entsprechend wachsen unsere Kinder ganz natürlich mit Musik auf, während Kinder rund um den Brunnenmarkt keine Gelegenheit finden, Musik zu erfahren. Da müssen wir einspringen.“ Hier werde deutlich, so Wimmer, dass Kulturvermittlung auch eine spezifische gesellschaftspolitische Funktion zukommt, nämlich bestehende Formen der Ungleichheit zu bestätigen.
Habitus im Zeitalter des social web
Kulturelle Distinktionsprozesse laufen jedoch in der Regel subtiler ab, quasi als kulturell-habituelle Unterströmung. In einer (Medien-)Wirklichkeit, in der der Zugang zu Kunst- und Kulturproduktionen prinzipiell fast allen möglich ist, ebenso die Gelegenheiten, sich kulturell zu informieren, um „mitreden zu können“ ist nicht so leicht zu greifen, womit sich Eliten und „inner circles“ vom gemeinen Volke abheben. Auch künstlerische Aktivität ist mittlerweile Mainstream – nicht nur durch die Weiterentwicklung der Technik und die Vielfalt offen zugänglicher Programme (mit denen sehr leicht professionelle Produkte erstellt werden können), sondern auch dank der Hochkonjunktur kreativer Hobbys und eines riesigen dazugehörigen Kreativmarktes. Was „Dazugehören“ heute zu einer so herausfordernden Aufgabe macht, ist, dass kulturelle Szenen und Gruppen nicht nur hochkomplex ausdifferenziert sind; ebenso wie ihre komplizierten kulturellen Codes verändern sie sich auch rasant. Dafür muss man nicht soziologisch oder kulturwissenschaftlich forschen, da reicht ein Blick auf das Zeitschriftenangebot einer Bahnhofsbuchhandlung.
Es ist eben nicht egal, welches Titelbild unsere facebook Chronik ziert, wer und wie viele followers unserem „Zwitschern“ lauschen, was für Bilder wir tumblrn oder flickern – und natürlich, ob wir das überhaupt tun oder nicht. Da wird schon genau hingeschaut! Unser Auftritt in social networks ist ebenso relevant für unser gesellschaftliches Zugehörigkeitsgefühl wie die Marke unseres Fahrrads (am besten von irgendeiner kleinen Manufaktur), die Herkunft unseres T-Shirts (bitte fair gehandelt und aus geringer Auflage) oder die Wahl des Kinderwagens (bei der letzten BERLINER LISTE, einer Kunstmesse, sah man fast ausschließlich Modelle der Marke „bugaboo“).
Selbstinszenierung ist bei den „Performern“[6] der Kulturwirtschaft (Grafiker, Architekten, Medienproduktion etc.) zur hochanspruchsvollen Kunstform geworden, auf die viel Zeit und Energie verwendet wird. Doch kennt man die entscheidenden Codes nicht, so hat man fast schon verloren. Wenn wir uns vergegenwärtigen, wie viele Jugendliche und junge Erwachsene ihre berufliche Zukunft im Medien- oder Kreativbereich sehen, wird schnell deutlich, wie groß unsere Verantwortung im Bereich der Kulturellen Bildung ist, hier für mehr Chancengerechtigkeit zu sorgen. Aber auch jenseits der multioptionalen, effizienzorientierten Konsum- und Stilavantgarde[7] findet subtile Distinktion im Sinne des Bourdieu´schen Habitus statt: Wie wir uns ausdrücken, wie wir agieren, wie wir mitgestalten (oder eben nicht) – dies ist nicht nur sozial sondern eben auch kulturell geprägt. Und niemand kann sich dem entziehen, weder was den Blick auf Andere noch das eigene Einsortiertwerden betrifft. Dies alles gibt es natürlich nicht erst seit gestern, doch die beschriebenen Dynamiken beschleunigen derart in ihrer Ausdifferenzierung, dass man die Gegenbewegung schon vorausahnt. Aber wird sie überhaupt ihre Freiräume finden? Das Rennen um den abseitigsten Trend kann niemand gewinnen. Der Song „Solang die Fahne weht“ der Hamburger Punkband MONTREAL illustriert dies treffend:
Ein Lied für alle Angepassten, die Angepasste immer hassten
die Individualisierten, alle nicht Manipulierten,
alle die gern anders wären und sich an den Anderen stören,
über Dekadente meckern und selbst klotzen statt zu kleckern,
alle Trends und deren Setter - underground is always better.
Wer `ne unbekannte Band hört, muss sie hassen, wenn sie Trend wird.
Es scheint so einfach und ist so leicht,
es lebt sich viel entspannter, wenn man nicht ständig vergleicht.
Solang die Fahne weht, egal ob man`s versteht,
ist man zumindest nicht allein.
Hast du keinen Nietengürtel, bist du nichts in deinem Viertel,
keine Chance dabei zu sein.[8]
Lebenskunst lernen – Selbstwirksamkeit erfahren
Worauf kommt es also an? Was kann Kulturelle Bildung in diesem Kontext bewirken? (Außer ein weiteres Distinktionsmerkmal zu sein?) Kulturelle Bildungspraxis, wenn sie sich ihrer Verantwortung bewusst ist, kann Zusammenhänge von Habitus und Machtstrukturen erkennbar machen, ein Bewusstsein schaffen für gesellschaftliche Wirkungsmechanismen. Sie kann im Sinne des Empowerment Selbstwirksamkeitserfahrungen ermöglichen, Handlungsspielräume sichtbar machen, die sonst vielleicht nicht im Blick wären. Es gibt Praxis- und Angebotsformen Kultureller Bildung, die nicht nur erfahrbar machen, wie gesellschaftliche Prozesse funktionieren und damit auch Distinktionsmechanismen entlarven, sondern die auch zeigen, wie man zum Mit-Gestalter wird. Dies ermöglicht ein Bewusstsein dafür, die eigene Position und Rolle besser einordnen und durchschauen zu können, sie bewusst zu bestimmen und zu verändern. Wichtig dabei ist die Erfahrung und Erkenntnis, dass Kunst und Kultur ebenso wie unser gesellschaftliches Leben etwas Gemachtes und fortwährend Gestaltetes ist. Gleichwohl kann Kulturelle Bildungspraxis allein – dies ist fast überflüssig zu erwähnen – natürlich keine gesellschaftlichen Machtstrukturen verflüssigen. Es gibt nun mal eine Mehrheit von Menschen, die wollen, dass die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse so bleiben, wie sie sind.
Die BKJ und ihre Mitglieder definieren Kulturelle Bildung als Bildung mit und in den Künsten. Deren Grundlage sind ästhetische Erfahrungen, die bei eigener künstlerischer Aktivität ebenso wie bei aktiver Rezeption möglich sind. Diese ästhetischen Erfahrungen sind der Schlüssel, um Wirklichkeit aus neuen Blickwinkeln zu betrachten; sie ermöglichen Visionen, eröffnen alternative Wege und erweitern damit Handlungsspielräume.
Doch Vorsicht! Die Potenziale Kultureller Bildung und ästhetischer Erfahrung entfalten sich nicht automatisch, wenn jemand einen Pinsel zur Hand nimmt, den Nussknacker tanzt oder lernt, einer Posaune Töne zu entlocken. Der „Fachkraft“, egal ob es sich um eine Kulturpädagogin, einen Bildhauer, eine Instrumentallehrerin oder einen Choreografen handelt, sollten nicht nur die möglichen künstlerischen Bildungspotenziale gegenwärtig sein, sondern auch diejenigen, die den Menschen im Ganzen betreffen. Allerdings ist bei vielen KünstlerInnen/ Fachkräften eine gewisse allergische Reaktion zu beobachten, wenn sie aufgefordert werden, über mögliche „Bildungswirkungen“ oder „persönlichkeitsbildenden Potenziale“ ihrer Arbeit nachzudenken: Reicht es denn nicht, wenn Kunst einfach Kunst ist, keinen weiteren Sinn hat? Einfach nur fasziniert, wenn der vielbeschworene flow eintritt, wenn sie in den Bann zieht, fesselt, bewegt und berührt?
Neben einem ausgewogenen und ganzheitlichen professionellen Selbstverständnis müssen weitere Qualitätsvoraussetzungen erfüllt sein, die wir zuweilen „Grundprinzipien Kultureller Bildung“ nennen, damit all die guten Wirkungen, die immer beschworen werden, sich tatsächlich entfalten können. Ein Angebot, egal ob Workshop, Kurs oder Projekt, sollte vom Konzept her in sich schlüssig sein: Thema, Ort, Material, Methoden, Menschen, Zeiten, Räume und Rahmenbedingungen müssen zueinander passen, einander bereichern und inspirieren. Das Thema oder der Gegenstand der Auseinandersetzung muss den Menschen/ die Teilnehmer interessieren und Relevanz für sie besitzen. Banal aber wahr: die Teilnahme sollte freiwillig sein; Freiwilligkeit spielt eine nicht zu unterschätzende Rolle, was jeder leicht an der eigenen Erfahrung überprüfen kann. Partizipation gehört ebenfalls zu den Gelingensbedingungen: je stärker sich ein Mensch in den kulturellen/künstlerischen Prozess einbringen, ihn mitgestalten und bereichern kann, umso mehr gewinnt das Ganze. Schließlich: Stärkenorientierung und Fehlerfreundlichkeit. Kulturelle Bildung geht vom kompetenten Menschen aus und begreift so genannte Fehler als Baumaterial künstlerischer Prozesse.
Erst wenn alle diese Grundvoraussetzungen: professionelle Fachkräfte, ganzheitliches und schlüssiges Konzept, angemessene Rahmenbedingungen, künstlerische wie pädagogische Qualität, Relevanz des Themas, Freiwilligkeit, Partizipation, Stärkenorientierung und Fehlerfreundlichkeit erfüllt sind, erst dann kann kulturelle Bildungspraxis ihren Anspruch auf Teilhabe und gerechte Bildungschancen einlösen.
Das Umsetzungsproblem der Kulturellen Bildung
Über mangelnde Erwähnung in visionären Reden kann sich die Szene der Kulturellen Bildung nicht beschweren. Doch sie leidet – so mahnte bereits vor fünf Jahren die Enquetekommission „Kultur in Deutschland“ – unter einem veritablen Umsetzungsproblem. Es fehlt an Reichweite, Angebotsvielfalt, Zukunftssicherheit, verlässlichen Infrastrukturen und wahrscheinlich auch an ehrlichen Motiven bei einigen Entscheidungsträgern – wobei Letzteres schwer zu beweisen sein dürfte. Manch eine/r, so scheint es, möchte mit der Förderung Kultureller Bildung vor allem „glänzen“. Dies führt dann in der Folge zu Leuchtturm- und Prestigeprojekten ohne Nachhaltigkeit, zur Unausgewogenheit der Sparten und zu Quantität, wo Qualität gefragt wäre.
Aus den genannten Gründen gibt es – bei allen Potenzialen – mitnichten gerechte Bildungschancen im Feld der Kunst und Kultur. Auch das soziale, kulturelle und bürgerschaftliche Engagement der Menschen hängt in Deutschland von den Faktoren Einkommen und Bildung ab. Das zeigt sich bereits bei den Kindern, so der 3. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. 73 Prozent der Kinder in Deutschland sind regelmäßig in einem Verein, einer Musikschule oder sonstigen Gruppe aktiv. Von Kindern aus der "untersten Herkunftsschicht" trifft dies aber nur auf 47 Prozent zu. „Je gehobener die Schicht, desto größer ist der Anteil der aktiven Kinder – in der obersten Schicht liegt er bei 89 Prozent."[9]
Vielfalt der Sparten und Angebotsformen unverzichtbar
Ich möchte noch einmal auf die Ausgangsfrage der Tagung zurückkommen: Wirkt Kulturelle Bildung eher als „Verflüssigung“ gesellschaftlicher Herrschaftsstrukturen oder konserviert sie sie, obwohl die meisten Akteure das gar nicht wollen?
Wenn wir sie verflüssigen wollen, hängt das aus Sicht der kulturellen Kinder- und Jugendbildung von einigen weiteren Faktoren ab. Eine entscheidende Rolle spielt die Vielfalt der Sparten, Angebotsformen und Orte. Kulturelle Bildung muss so vielfältig sein, wie die Interessen und Talente der Menschen. Ebenso wichtig ist eine große Vielfalt an Kooperationsformen – mit allgemein bildenden Schulen, Kindertagesstätten, Vereinen, Initiativen. Kulturelle Bildung bietet so unterschiedliche Möglichkeiten an Ausdrucksformen, dass auch für den unmusikalischsten Rhythmuslegastheniker mit zwei linken Händen und einer Rot-Grün-Blindheit auf jeden Fall noch etwas dabei ist. Denn sich auf irgendeine Weise kulturell oder künstlerisch auszudrücken, ist ein menschliches Grundbedürfnis der Selbstvergewisserung, der Orientierung, des Erforschens der eigenen Wirklichkeit, der Neugier und des Gestalten-Wollens: von den Höhlen von Lascaux bis zu Medienkunst und Urban Art.
Einige Angebotsformen, die sich in den letzen Jahren dynamisch entwickelt haben und die großes Potenzial besitzen, gerade solche Zielgruppen zu erreichen, die nur schwer von klassischen Formen Kultureller Bildung erreicht werden, sind im Kontext von Teilhabe und Bildungsgerechtigkeit hervorzuheben: (zeitgenössischer) Tanz, Zirkus und Kinder- und Jugendmuseen. Doch genau diese Sparten haben es auf der Ebene der infrastrukturellen Absicherung der Einrichtungen, Akteure und Fachstrukturen besonders schwer. Wer zu spät kommt, den bestraft die Förderlogik! Insbesondere in den Kinder- und Jugendplänen, aus denen sowohl auf Bundes- wie auch auf Landesebene viele Einrichtungen und Träger kultureller Kinder- und Jugendbildung gefördert werden, sind die Kuchen bereits verteilt. Vergleichsweise neue Akteure kommen nicht zum Zug, was dazu führt, dass sich Träger von Projekt- zu Projektförderung hangeln und wertvolles Potenzial ungenutzt bleibt.
Querschnittsaufgabe Kulturelle Medienbildung
Eine Schlüsselrolle im Hinblick auf Teilhabe und Chancengerechtigkeit spielt die Kulturelle Medienbildung. Sie ist gegenwärtig die zentrale Herausforderung für unser Praxisfeld. „Medial-kommunikative Fähigkeiten sind Schlüsselkompetenzen in der heutigen Netzgesellschaft und damit unabdingbar für gesellschaftliche Partizipation und Inklusion.“ formuliert die BKJ in ihrer Position zur Medienbildung.[10] Kulturelle Bildungspraxis kann und sollte die dafür erforderlichen Fähigkeiten wie Symbol- und Bildsprachenkompetenz, Wahrnehmungs- und Ausdrucksfähigkeit, Text- und Sprachkompetenz auf künstlerische und spielerische Weise vermitteln. Sie sind grundlegende Partizipationsvoraussetzungen.
Nun bringen wir als Fachkräfte der Kulturellen Bildung mehrheitlich schlechtere Startvoraussetzungen im Hinblick auf den Medienwandel und die damit verbundenen Herausforderungen mit als die meisten Kinder und Jugendlichen. Dies führt zu mehr oder minder stark ausgeprägten Abwehrreaktionen, angefangen bei: „Ach, muss ich mich damit wirklich beschäftigen?“ bis hin zu: „Teufelszeug! Ich will den Kindern mit meiner sinnlich-ganzheitlichen Theaterarbeit einen Schutzraum vor der medialen Vereinnahmung bieten.“
Die tieferen Hintergründe dieser zum Teil sehr leidenschaftlich vorgebrachten Ablehnung systematisch zu untersuchen, wäre lohnender Gegenstand einer Forschungsarbeit. Offensichtlich ist aber, dass viele in der Kulturellen Bildung professionell Tätige ihre fachlichen Felle davon schwimmen sehen. Dies hat jedoch fatale Auswirkungen auf die Beziehung zwischen Kulturpädagoge/ Künstler und an dessen Angebot teilnehmendem jungen Menschen, den digital natives. Letztere müssen erfahren, dass das, was sie besonders gut können, was sie fasziniert und was für sie selbstverständlich ist, in den Augen ihres Gegenübers negativ bewertet wird. Dies widerspricht aber dem stärkenorientierten Ansatz Kultureller Bildung. In Gesprächen im Rahmen von Fachtagungen etc. kommt diese Haltung häufig zum Vorschein. Stolz wird berichtet: „Ja, wir machen jetzt auch ganz viel mit Neuen Medien, sonst kriegen wir die ja gar nicht mehr. Die kommen ja sonst gar nicht mehr in meinen Theaterkurs! Aber dann, wenn ich sie gekriegt habe, dann machen wir richtiges Theater, sinnliches Theater!“ Nichts gegen den sinnlichen Eigenwert des Theaters. Es ist nur für einen jungen Menschen schwer nachvollziehbar, warum wir da so große Wertunterschiede machen!
Ich möchte mit Nachdruck dafür plädieren, dass wir kulturelle Praktiken junger Menschen im Bereich der so genannten Neuen Medien nicht abwerten, sondern als ihre besonderen Fähigkeiten und Methoden anerkennen und respektieren. Wir dürfen ihre kulturellen Kompetenzen nicht für weniger Wert halten, weil wir nicht damit aufgewachsen sind, weil wir vielleicht nicht so gut darin sind oder weil wir vielleicht nicht mehr die alleinigen Hüter des Wissens und der kulturellen Erfahrung sind. Wir müssen uns auf eine „gleichwürdige“ Beziehung mit den Kindern, Jugendlichen und jungen Menschen einlassen, mit denen wir arbeiten.[11]
Kulturelle Bildungsgerechtigkeit ernst nehmen
Tobias Knoblich stellte angesichts „rappender Oberschüler“ in seinem Beitrag in der Tagung infrage, ob „dies nun gleich Kulturelle Bildung sei“. Hier kommt eine Deutungsmacht zum Vorschein, die in Bezug auf unser Tagungsthema gefährlich ist. Wir machen oft den Fehler, zu definieren, was zur Kulturellen Bildung zählt und was nicht. Damit sollten wir vorsichtig sein, wenn wir nicht (unbewusst) ausgrenzen und diskriminieren wollen. Ich möchte mich Dorothea Kollands Plädoyer anschließen, dass wir vermeiden sollten – in den besten Absichten – kulturalisierende Zuschreibungen in Bezug auf so genannte Benachteiligte vorzunehmen. Dies können Arbeitsbegriffe sein, doch in der Praxis muss man dafür sorgen, dass daraus kein innerer Habitus entsteht, der in der täglichen Arbeit spürbar wird.
Als positives Gegenbeispiel möchte ich abschließend das Theaterprojekt HAJUSOM aus Hamburg nennen, das in diesem Jahr mit dem Innovationspreis des Fonds Soziokultur ausgezeichnet wird. Dieses Projekt, in dem mit jungen unbegleiteten Flüchtlingen künstlerisch gearbeitet wird, ist ein eindrucksvoller Beweis dafür, das höchste künstlerische Ansprüche Hand in Hand gehen können mit einem Höchstmaß an sozialer Verantwortung und eben auch pädagogischer Qualität sowie einer guten Beziehung von künstlerischen Fachkräften zu ihren Teilnehmern. Diese hört nicht am Bühnenrand auf. Mit einer ganz natürlichen Selbstverständlichkeit geht man auch mal mit zu Ämtern oder in die Schule, wenn es dort etwas zu klären gibt.
Kulturelle Bildung hat, wenn sich ihre Akteure der Verantwortung für Teilhabe und Bildungsgerechtigkeit bewusst sind und die beschriebenen Voraussetzungen vorliegen, große Potenziale – gerade auch als Gegengewicht zur formalen Bildung – soziodemografische Machtverhältnisse und Wirkungsmechanismen sowohl sichtbar zu machen als auch den Einzelnen darin zu stärken, die ihm etwa von seiner familiären Lebenslage „zugewiesene“ gesellschaftlichen Position bewusst zu verändern. Um diese Potenziale besser ausschöpfen zu können, wäre sicherlich jeder Träger, jede Einrichtung und jeder Fachverband gut beraten, sich mit diesem Thema offen und selbstkritisch auseinander zu setzen.
Schließen möchte ich mit einem Appell von Michael Wimmer: „Ja, singt, musiziert, tanzt mit den Jugendlichen. Aber hört auf, sie vorab zu diskriminieren.“[12]
Literatur und Anmerkungen:
[1] BKJ: „Kultur öffnet Welten. Mehr Chancen durch Kulturelle Bildung“, 2011, S. 9
[2] Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, 1982, S. 36
[3] An der standardisierten Befragung, die online und in Papierform erfolgte, nahmen im Zeitraum von Mai bis August 2008 mehr als 3100 Personen teil (32 Prozent männlich, 68 Prozent weiblich). http://idw-online.de/de/news 465934 (Zugriff: 05.03.2012)
[4] „Ansturm auf Musikschulen“ von Christiane Raatz, Sächsische Zeitung vom 29.1.2012
[5] Wimmer, Michael: Wimmers monthly Februar 2012 (http://www.educult.at/ blog/kulturelle-bildung-und-ungleichheit/ (Zugriff: 28.02.2012)
[6] ein Begriff aus den Sinus-Milieus; vgl. http://www.sinus-institut.de/loesungen/sinus-milieus.html, Sinus GmbH (Zugriff: 5.3.12)
[7] Ebd.; Das Milieu der „Performer“ (7 % der Bevölkerung, 4,9 Mio. Menschen) bildet die „multioptionale, effizienzorientierte Leistungselite“, die gekennzeichnet ist durch „Global-ökonomisches Denken. Konsum- und Stil-Avantgarde. Hohe IT- und Multimedia-Kompetenz.“
[8] MONTREAL, aus dem Album „Alles auf Schwarz“ von 2005
[9] 3. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, 2008
[10] BKJ: Kulturelle Bildung in der Netzgesellschaft gestalten. Positionen zur Medienbildung, 2011
[11] „Gleichwürdig“ ist ein Begriff, den der dänischen Familientherapeut Jesper Juul in die Bildungsdiskussion eingebracht hat. Vgl. z. B. Jesper Juul: „Dein kompetentes Kind“, 2009
[12] Wimmer, Michael: Wimmers monthly Februar 2012 (http://www.educult.at/ blog/kulturelle-bildung-und-ungleichheit/ (Zugriff: 28.02.2012)
Anm.: Dieser Beitrag wurde von Kirsten Witt im Rahmen der Tagung Kultur für alle oder Produktion der „feinen Unterschiede"? der Bundesakademie für Kulturelle Bildung Wolfenbüttel vorgetragen. Mehr zum Thema und die Beiträge anderer ReferentInnen finden sich in: Karl Ermert (Hrsg.): Kultur für alle oder Produktion der „feinen Unterschiede"? Wozu kulturelle Bildung dient. Wolfenbüttel 2012 (Wolfenbütteler Akademie-Texte Bd. 55) ISBN 978-3-929622-55-3