Medienkritik und pädagogisches Handeln
Digitalisierung, Internet, Selbstorganisation im Netz, Verschmelzung von alten und neuen Medien haben in den letzten 15 bis 20 Jahren weitreichende Auswirkungen für die Menschen in allen Lebensbereichen mit sich gebracht. Die zeit- und ortsunabhängige Verfügbarkeit von Medien eröffnet den Menschen neue Informations-, Kommunikations-, Bildungs- und Lernmöglichkeiten. Gleichzeitig entwickeln sich Problemfelder, die von einer zunehmenden Kommerzialisierung sozialer Kommunikation, risikobehafteten Mediennutzungen bis hin zu sogenannten digitalen Klüften im Mediengebrauch reichen.
Es war schon immer eine Aufgabe Kultureller Bildung, sich in reflexiv-kritischer Perspektive mit gesellschaftlichen Entwicklungen differenziert auseinanderzusetzen mit dem Ziel, die kreativen Potentiale der Menschen zu stärken und sie darin zu unterstützen, Orientierung, Wissen, Urteils- und Handlungskompetenz für ein souveränes Leben in der Gesellschaft zu verbessern. Medienpädagogik und kulturelle Medienbildung teilen diese Aufgabenstellung und betonen in besonderer Weise die selbstreflexive Auseinandersetzung mit eigenen Medienerfahrungen und die Befähigung zu Selbstausdruck, zu Kommunikation, zu ästhetischer Bildung und zur Partizipation mit Medien.
Medienkritik ist eine übergreifende Aufgabenstellung und bezieht sich auf die Auseinandersetzung mit Einzelmedien (z.B. Fernsehkritik, Filmkritik, Literaturkritik), crossmedialen Angeboten und gesellschaftlichen Medienentwicklungen, ihrer Analyse und Bewertung bezüglich Produktionsbedingungen, Inhalt, Form und Distribution (inkl. rechtlicher, politischer und ökonomischer Aspekte) sowie auf die Reflexion und Selbstreflexion der Mediennutzung in verschiedenen lebensweltlichen Kontexten.
Die kritische Analyse und Bewertung von Medienangeboten und die reflexive Auseinandersetzung mit der Mediennutzung ist ein wichtiges Aufgabengebiet der Medienpädagogik und der kulturellen Medienbildung, kann jedoch keineswegs auf den pädagogischen Bereich begrenzt werden. Kübler (2006) unterscheidet folgende zentrale Felder der Medienkritik: publizistisch-professionelle Medienkritik; institutionelle, routinierte Medienkritik bzw. Medienkontrolle; alltägliche Medienkritik; pädagogische Medienkritik. Der folgende Beitrag legt den Schwerpunkt auf Medienkritik im Kontext pädagogischen Handelns und akzentuiert Aspekte der kulturellen Medienbildung.
Begriffliche Annäherung
„Kritik“, abgeleitet vom griechischen Wort krinein, bedeutet „unterscheiden“, „trennen“. Es geht um Unterscheiden, Vergleichen, Bewerten von Fakten, Eigenschaften, Qualitäten. Wer eine kritische Haltung einnimmt, benötigt Kriterien für die Bewertung. Kriterien sind auch notwendig, um aus der Vielzahl von Angeboten eine bewusste Wahl treffen zu können.
Nach Dieter Baacke (1997) ist Medienkritik neben Medienkunde, Mediennutzung und Mediengestaltung einer der vier grundlegenden Medienkompetenzbereiche. Er differenziert Medienkritik in drei Dimensionen:
>> Die analytische Dimension umfasst die Fähigkeit, problematische gesellschaftlich-mediale Prozesse angemessen zu erfassen.
>> Die reflexive Dimension bezeichnet die Fähigkeit, dass Menschen das analytische Wissen auf sich selbst und ihr Medienhandeln anwenden können.
>> Die ethische Dimension verknüpft das analytische Denken und den reflexiven Rückbezug im Hinblick auf ein gesellschaftlich und sozial verantwortliches Handeln.
Die Entwicklung medienkritischer Kompetenzen ist dabei altersabhängig und wird durch Sozialisationsbedingungen beeinflusst. In Anlehnung an entwicklungspsychologische Studien unterscheiden Sonja Ganguin und Uwe Sander (2007) verschiedene Entwicklungsphasen bzw. -stadien. Während in der „Aneignungsphase“ (bis etwa elf Jahre) Adaption und Nachahmung im Vordergrund stehen, geht es in der „Kritischen Phase“ (Pubertät) vor allem um die Auseinandersetzung mit körperlichen Veränderungen und die Suche nach der eigenen Identität. Jugendliche stehen vor der Aufgabe, Distanzierungs-, Reflexions- und Urteilsfähigkeit zu entwickeln, die zwischen der eigenen Perspektive und der von anderen unterscheidet.
Historische Entwicklungslinien
In historischer Perspektive entzündete sich Medienkritik stets am Aufkommen und der Verbreitung der jeweils neuen Medien. So begründete der griechische Philosoph Platon seine Kritik gegenüber dem Medium Schrift (im Vergleich zur gesprochenen Sprache) unter anderem mit dem schädlichen Einfluss externer Speicher- und Übertragungsmedien auf das Gedächtnisvermögen der Menschen und dem Verlust der unmittelbaren Präsenz des Gegenübers. Platons Einwände gegen Schrift, Dichtung und Malerei können historisch als Beginn einer kulturpessimistischen Medienkritik betrachtet werden. Dies bedeutet, dass in den jeweils neuen Medien einseitig Gefahren für die Kulturentwicklung betont und Potentiale für die kulturelle Weiterentwicklung unterschätzt werden.
So gab es im Zeitalter der Aufklärung nicht nur emanzipatorische Bestrebungen, sondern auch rückwärtsgewandte Stimmen, die z.B. vor den schlimmen Folgen der „Lesesucht“ bei Frauen warnten. Im 19. Jh. häuften sich in pädagogischen Kreisen und Schulbehörden die Bestrebungen, durch Richtlinien und Verordnungen den Lesestoff unter staatlicher Kontrolle zu halten und „Das Elend der Jugendliteratur“ zu bekämpfen. Mit dem Aufkommen des Mediums Film setzte sich kulturpessimistische Medienkritik in Form von bewahrpädagogischen Bestrebungen fort, die im Kinofilm und seiner massenhaften Verbreitung unter anderem eine Bedrohung der traditionellen Künste, eine Verrohung des Geschmacks und eine moralische Verwahrlosung der Jugend durch Kinobesuche erblickte.
Nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Diktatur entstanden in Westdeutschland in den 1960er und 1970er Jahren vor dem Hintergrund von Pressekonzentrationen und der zunehmenden Verbreitung von Fernsehen, Rundfunk und Tonträgern ideologie- und medienkritische Analysen, die vor der nivellierenden Wirkung einer „totalitären Kulturindustrie“ warnten. Gespeist durch die „Kritische Theorie“, die den Waren- und Tauschcharakter von Kunst- und Kulturgütern betonte (Horkheimer/Adorno 1944/1969), wurde ein weitgehender Manipulationsverdacht gegenüber den Massenmedien formuliert.
Öffentlichkeit und Erfahrung der Subjekte wieder zusammen zu bringen, war ein zentrales Anliegen gesellschaftlicher Protestbewegungen vor allem in den 1970er und frühen 1980er Jahren. Gestützt auf Überlegungen von Sergei Michailowitsch Tretjakov, Walter Benjamin, Bertolt Brecht, Hans Magnus Enzensberger, Oskar Negt/Alexander Kluge entstanden Konzepte und Projekte operativer und aktiver Medienarbeit. Diese zielten darauf ab, dass die Menschen mit Medien ihre eigenen Bedürfnisse und Interessen artikulieren und öffentlich machen. Die aktive Medienarbeit wurde auch zu einem zentralen Aufgabenfeld der handlungsorientierten Medienpädagogik, vor allem im außerschulischen Bereich (Schell 1993).
Mediennutzung und Selbstausdruck mit Medien
In Zusammenhang mit gesellschaftlichen Individualisierungs- und medienkulturellen Pluralisierungsprozessen rückte die Förderung ästhetisch-kultureller Ausdrucksformen mit Medien in den 1980er und 1990er Jahren immer mehr in den Vordergrund. In deutlicher Abgrenzung von einem elitären Kulturverständnis und einem pauschalisierenden Begriff von „Masse“ akzentuierten Medienstudien die Aneignungs- und Auswahlleistungen der Subjekte in unterschiedlichen Medienkulturen (Leitfrage: „Was machen die Menschen mit Medien?“). Im Mittelpunkt steht eine multiperspektivische Analyse und Kritik, die medien- rezipienten- und kontextbezogenen Dimensionen verknüpft (unter anderem Cultural Studies). Sich mit Medien kreativ und kritisch zu artikulieren wurde zum Leitmotiv zahlreicher medienpraktischer Aktivitäten.
In den letzten Jahren stand die Auseinandersetzung mit digitalen Medien, Internetkommunikation, mobilen Medien und digitalen Spielkulturen im Vordergrund medienpädagogischer Bemühungen (siehe Christoph Deeg „Digitale Spielkulturen“). Entgegen einer (bewahrpädagogischen) Fokussierung auf Fragen des Kinder- und Jugendmedienschutzes geht es vor allem darum, wie digitale Medien von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen als Chance für Information, Kommunikation, Selbstausdruck und gesellschaftliche Partizipation genutzt werden können. Mit Blick auf die reflexiven Potentiale digitaler Kommunikation betonen verschiedene AutorInnen unter anderem die Kritik-, Ergänzungs- und Kommentierungspraktiken (z.B. bei Weblogs), die Notwendigkeit von Quellenkritik und Kontextualisierung von Informationen (z.B. bei Wikipedia), die kreativen Möglichkeiten digitaler Medienproduktion (z.B. kompilierte Filme erstellen; Röll 2011).
Zweifelsohne eröffnen die technischen und sozialen Möglichkeiten des Web 2.0 neue Chancen für selbstgesteuerte Bildungs- und Lernprozesse an verschiedenen Medienbildungsorten (siehe Franz Josef Röll „Medienkommunikation und Web 2.0“). Dennoch ist darauf hinzuweisen, dass dies kein „Selbstläufer“ ist – die Nutzung dieser Möglichkeiten hängt zu wesentlichen Teilen von den zugänglichen bildungsbezogenen und sozialen Ressourcen ab. Es gibt viele Kinder und Jugendliche, die weder im Rahmen der familiären noch der schulischen Sozialisation hinreichend Anregung und Förderung für einen reflektierten Medienumgang erhalten (Niesyto 2010). Auch sind problematische Medienentwicklungen wie z.B. mediale Aufmerksamkeitserregung (Emotionalisierung, Personalisierung, Dramatisierung in verschiedenen Genres) oder die zunehmende Kommerzialisierung im Social Web nicht zu unterschätzen. Diese Entwicklungen unterhöhlen systematisch Bildungsanstrengungen und verweisen auf gesamtgesellschaftliche Herausforderungen (Stichworte: digitaler Kapitalismus, Primat der Ökonomie, gesellschaftliche Beschleunigung).
Medienkritik als Bestandteil kultureller Medienbildung
Im Unterschied zu einer kulturpessimistischen Medienkritik, die als Alternative zu problematischen Medienentwicklungen und Mediennutzungsformen „medienfreie“ Aktivitäten empfiehlt, fördert die Medienpädagogik und die kulturelle Medienbildung den aktiv-produktiven, kritischen und sozial verantwortlichen Umgang mit Medien. Medienkritik bedeutet in dieser Perspektive z.B., sich mit stereotypen Rollenbildern in Medien auseinanderzusetzen (unter anderem Holzwarth 2006), mediale Ton- und Bildmanipulationsmöglichkeiten zu entdecken (z.B. Inszenierungen in Dokumentarfilmen), in Medienwerkstätten den Umgang mit persönlichen Daten bei Chats, in Foto- und Videoportalen zu reflektieren (vgl. webhelm.de), gemeinsam Computerspiele zu erproben und Spielkritiken zu entwickeln (vgl. spielbar.de) oder neue Kinofilme im Rahmen von Filmjurys und Online-Plattformen zu bewerten (vgl. spinxx.de).
Kulturelle Medienbildung betont vor allem die ästhetischen Dimensionen von Medien und nutzt die Chancen medialer Eigenproduktion und neuer Formen des Lernens in der partizipativ-kreativen Netzkultur (BKJ 2011b). Neben qualifizierten Fachkräften und guten Infrastrukturen (vgl. keine-bildung-ohne-medien.de) braucht es hierfür vor allem ausreichend Zeit. Ein Medienangebot aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten, setzt Zeit für Erkundungen, für Experimentieren, für Nachdenken voraus. Ästhetische Reflexivität überschreitet eine Reduktion auf Kognition, betont das Zusammenspiel Anschauung und Denken, von präsentativer und diskursiver Symbolik (Langer 1942/1987). Bezogen auf mediale Artefakte bedeutet dies unter anderem, sich auf intuitiv-assoziative Suchbewegungen einzulassen und kognitiv-analytische Elemente zu integrieren (z.B. Kenntnis medienspezifischer Kodes, Dramaturgien; vgl. Maurer 2010). Ästhetische Erfahrung und Produktion leben von der Assoziation und Intuition, von der Sprunghaftigkeit und Ungereimtheit der Erfahrung (Selle 1990), von ihrem Ereignischarakter, ihrer Augenblicklichkeit und Nicht-Planbarkeit (Mollenhauer 1990). Gerade assoziativ-intuitive Suchbewegungen benötigen Gelegenheitsorte und Zeiträume, die sich reglementierenden Vorgaben und Zeitdiktaten diverser Art entziehen.
Die vielfältigen Erfahrungen aus der aktiven Medienarbeit (u.a. JFC Medienzentrum Köln 2005) und der kulturell-ästhetischen Medienbildung (unter anderem Zacharias 2010) zeigen, dass der Schritt von der Rezeption zur Eigenproduktion mit Medien entscheidend für ein tieferes Verständnis medialer Funktionsweisen und medienästhetischer Ausdrucksformen ist. In ihrer jeweiligen Medien- und Symbolsozialisation haben sich Kinder und Jugendliche Wissensbestände und Alltagsmedienkompetenzen (Bachmair 2009) angeeignet, die auch in ihren medialen Eigenproduktionen sichtbar sind. In den Eigenproduktionen werden die unterschiedlichen Stile der symbolischen Verarbeitung, die Art und Weise des Auswählens von Bildern und Tönen und des Gestaltens mit Medien deutlich. Reflexiv ist dieser Prozess dann, wenn nicht nur ästhetische Eindrücke und Erlebnisse aneinandergereiht, sondern Räume für symbolische Differenzerfahrungen und Irritationen eröffnet werden.
Gerade Kinder und Jugendliche aus bildungsbenachteiligten Sozialmilieus sind darin zu unterstützen, eigene Themen mit Medien auszudrücken und aus dem Modus der Produktion heraus Kritik- und Distanzierungsfähigkeit auszubilden. Auf der Basis einer handlungsorientierten Medienpraxis ist es vor allem möglich, medienkritische Überlegungen zu Risiken des Internets und zum sozial verantwortlichen Umgang mit digitalen Medien in Bildungsprozesse einzubringen.