Das Malspiel als inklusiv-künstlerischer Spielraum
Abstract
Im folgenden Beitrag wird vor dem Hintergrund diversitätsorientierten und inklusionspädagogischen Perspektiven das Malspiel nach Arno Stern vorgestellt. Ausgehend von der Kunstauffassung des Surrealismus und des Zenbuddhismus werden Winnicotts Konzepts der Kreativität sowie semiotische und ausdruckssemiologische Zugangsweisen mit dem Malspiel in Beziehung gebracht. Im Malspiel lernen Menschen, sich möglichst ohne vorgefasste Bewertungen auf den Malprozess einzulassen und eigenen Bestrebungen Ausdruck zu verleihen. Es wird die These vertreten, dass Erfahrungen im Malspiel für die Kinder selbstbildend und individuationsfördernd wirken, unabhängig von Behinderung und gesellschaftlicher Zuschreibung.
„Man hat die Tätigkeiten der Kinder so eingerichtet, dass es Hauptbeschäftigungen und Nebenbeschäftigungen gibt. Ein Kind soll erst mal seine Aufgaben machen und wenn es noch Zeit hat, dann darf es noch ein bisschen spielen. Ich gehe davon aus, dass Spielen lebenswichtig ist, und ich würde weitergehen und sagen, Kinder sollen nicht belehrt werden, das Leben der Kinder sollte darin bestehen, in den Malort zu gehen, das Malspiel zu erleben und tanzen zu dürfen“ (Wagenhofer/Kriechbaum/Stern 2013: 60f.).
Im vorliegenden Text wird das freie Malen für Kinder, das an Grundschulen wöchentlich angeboten werden könnte, zur Diskussion gestellt. Obwohl Arno Stern (2018) das freie Malen, für welches er den Begriff des Malspiels wählt, nicht als Kunst bezeichnet, möchte ich das Malspiel als inklusiv-künstlerischen Spielraum umschreiben. In diesem Zusammenhang bezieht sich der Artikel auf Kunstauffassungen und Positionen von Kunst und Künstler*innen, die einen Kunstbegriff geprägt haben, welcher mit dem bildnerischen Prozess im Malspiel korreliert.
Ein anderer Kunstbegriff
Viele Künstler*innen waren im Laufe der Geschichte vom gesellschaftlichen Bereich der Kunst ausgeschlossen. Es herrschte eine Kunstauffassung und Kunstlebeweise vor, die den kulturellen Entwurf der Kunst als „l´art pour l´art“ markierte. Wenn man einen Blick auf einzelne Kunstströmungen wirft, die eine andere Kunstanschauung geprägt haben, dann können beispielsweise die Kunstauffassungen des Surrealismus sowie jene des Zen-Buddhismus genannt werden.
Die von ausgegrenzten Menschen der Gesellschaft stammende Kunst erweckte am Beginn des 20. Jahrhunderts das Interesse der Öffentlichkeit in Europa. Hans Prinzhorn (2016) untersuchte in seinem Werk „Die Bildnerei der Geisteskranken“ Zusammenhänge zwischen der modernen Kunst und jener der sogenannten Geisteskranken. In dieser Tradition stehen unter anderem die Surrealisten, die sich um Befreiung der Wahnsinnigen aus den psychiatrischen Anstalten bemühten, und die Arbeiten der Psychiater A. Bader und L. Navratil (vgl. Navratil 2015), welche die Merkmale künstlerischer Produkte schizophrener Menschen beschrieben.
Jean Dubuffet, einer der Vertreter des Surrealismus, prägte im vergangenen Jahrhundert den Kunstbegriff „(…) Art Brut (Rohe Kunst). Die gegen 1948 von dem Maler Jean Dubuffet im Gegensatz zur „kulturellen Kunst“ vorgeschlagene Benennung bezeichnet die künstlerische Produktion von Autodidakten, die - entweder wegen ihrer sozialen Herkunft oder infolge besonderer Umstände - von den gewöhnlichen kulturellen Aktivitäten und den Plätzen, wo diese sich äußern (Kunstschulen, Museen, Galerien), ferngehalten werden. Da sie somit nicht mehr aus einem gesellschaftlichen Ritus hervorgegangen ist, sondern aus einer strengen Notwendigkeit, zeichnet sich L´Art Brut durch eine Art Spontanerzeugung aus(...)“ (Pierre 1989:22).
In Bezug auf die Verwendung des Begriffes „Kunst“ drängt sich zum einen die Frage auf, ob das, was in künstlerischen Spielräumen mit Kindern entsteht, wohl Kunst ist. Zum anderen wird die Frage aufgeworfen, ob „Kunst“ den Kunstprozess oder vielmehr das fertige Produkt bezeichnet. Für künstlerische Spielformen von (allen) Kindern erscheint es sinnvoll, die „Kunst“ auf den Kunstprozess zu beziehen. Das Ergebnis eines Malprozesses tritt in den Hintergrund. Ähnlich wie in der Kunsttherapie sollte es nicht um die Produktion von schönen Kunstwerken gehen. Die Kunst wird auf das Kreieren, auf die Tätigkeit selbst verlagert.
Die Kunst ist in diesem Kontext mehr in ihrem Geschehen und ihrem Tun zu begreifen. Hier möchte ich das Zitat eines Zen-Meisters, D.T. Suzuki hinzufügen.
„Wenn der chinesische Künstler malt, so ist ihm das Wesentliche die Konzentration des Gedankens und die unmittelbare, kraftvolle Reaktion der Hand auf den leitenden Willen. […] Wer überlegt und den Pinsel bewegt mit der Absicht, ein Bild zu schaffen, wird die wahre Kunst der Malerei gewißlich verfehlen“ (Suzuki 1958:30). In der Zen-Malerei ist die „Wahrheit“ der Kunst nicht in der Perfektion der Formen zu suchen, sondern sie geschieht vielmehr in ihrem bildnerischen Prozess. Ähnliche Bezüge finden wir in der modernen Kunst.
Das „action painting“, eine malerische Strömung, die um die Mitte des letzten Jahrhunderts in den USA entstanden ist, verkörpert eine der Zen-Malerei ähnliche Haltung. Die Vertreter*innen des „action paintings“ berufen sich in ihrer Auffassung von Malerei auf die surrealistische Technik des Psychischen „Automatismus“. Diese fordert von der malenden Person, dass sie sich in einen traumhaften Zustand versetzt, um möglichst unzensiert zu seiner innerer „Wahrheit“ zu gelangen, um diese in einem zweiten Moment in dem malerischen Prozess auszudrücken (vgl. Pierre 1989:43).
Ähnlich wie Arno Stern (2018) heben die vorgestellten Kunstauffassungen den nicht-willentlichen Akt des eigenen Ausdrucks, der aus einer inneren Notwendigkeit heraus entsteht, hervor. Den Begriff der Kunst lehnt Arno Stern für den Ausdruck der Malspur von Kindern ab. Auch Georg Peez (2015:107) weist daraufhin, dass Kinder von sogenannten Kunstansprüchen befreit werden sollten und präferiert in diesem Kontext den Begriff der Kreativität. Anderseits eröffnet das Etikett „Kunst“, die sich auf den Selbstbildungsprozess bezieht, Außenseiter*innen einen Weg zu gültigem Ausdruck und Anerkennung. Die Notwendigkeit des Ausdrucks, wie sie in der Konzeption der „Art brut“ enthalten ist, kann als zentrale Dimension inklusiver Prozesse im Malspiel gesehen werden. Mit „Kunst“ ist ein „Tun“ gemeint, welches in Auseinandersetzung mit ästhetischen Medien entsteht und es ermöglicht, seinen eigenen inneren Bestrebungen eine Form zu geben.
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Offenheit und Prozesshaftigkeit des Kunstbegriffes, wie er durch die vorgestellten Kunstpositionen geprägt wurde, dazu beigetragen hat, normalisierende Bewertungen von künstlerischen Praktiken und Produkten in der Gesellschaft in Frage zu stellen und somit die Kunstpädagogik zumindest tendenziell in eine inklusivere Richtung zu entwickeln. Gleichzeitig bleiben Reformbestrebungen der inklusiven Kunstpädagogik - bedingt durch schulische Strukturen - in Widersprüchen verstrickt (Brenne/Kaiser 2022).
Inklusive Kunstpädagogik – Verortungen
Wenn man einen Blick auf Forschungsarbeiten in den Themenbereichen „inklusive Kunstpädagogik“ oder „Kunst und Inklusion“ wirft, kann gesagt werden, dass in den letzten Jahren mehrere kunstpädagogisch (z.B. Kaiser 2020, Kaiser 2019, Sindermann 2018, Loffredo 2016) und kunsttherapeutisch orientierte Publikationen (z.B. Hampe/Wigger 2020, Bogaczyk-Vormayr/Kapferer 2020, Wichelhaus/Müller 2018) veröffentlicht wurden, die sich mit der Frage der Inklusion und Förderung von benachteiligten Kindern befassen.
Im Diskurs zu Inklusion und Kunst steht zum einen die Erforschung und Entwicklung didaktischer Konzepte für den inklusiven Kunstunterricht (Kaiser & Brenne 2021, Sindermann 2018) im Zentrum. Zum anderen werden kunsttherapeutische Angebote in den Blick genommen, die darauf abzielen, Kinder mit sozial-emotionalen und psychischen Beeinträchtigungen, motorischen und geistigen Behinderungen (z.B. Menzen 2021), mit progredienten Erkrankungen (z.B. Nickles 2022, Menzen 2021) in ihren Interessens- und spezifischen Förderbereichen durch ästhetische Zugänge zu fördern und zu stärken. Wenn der Ist-Zustand zur gleichberechtigten Teilhabe an künstlerischen Bildungsmöglichkeiten im schulischen und außerschulischen Bereich in den Blick genommen wird, muss ins Treffen geführt werden, dass benachteiligte und vulnerable Kinder in unserer Gesellschaft selten gleiche Chancen haben, an diesen künstlerischen Aktivitäten teilzuhaben. Das Recht von Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen (z.B. Theunissen/Schubert 2022) oder anderen Behinderungen an künstlerischen Bildungsprozessen teilzunehmen, ist in der UN-Behindertenrechtskonvention festgeschrieben (z.B. Poppe/Schuppener 2015).
Im menschenrechtsbasierten Ansatz steht vor allem der normative Aspekt von Teilhabemöglichkeiten an gesellschaftlichen Aktivitäten im Mittelpunkt. Der soziologische Ansatz hingegen beleuchtet im Rahmen eines deskriptiven Zugangs den Ist-Zustand von Inklusions- und Exklusionsprozessen (Hoffmann 2018) hinsichtlich eines, in der UN-Konvention beschriebenen, Lebensbereiches, nämlich die Teilhabe an Kunst von Menschen mit Behinderungen. Die Schule und die Kunstpädagogik befinden sich weiterhin im Dilemma zwischen dem normativen Anspruch, alle Schüler*innen gleichberechtigt am (Kunst)Unterricht teilhaben zu lassen und dem Anspruch der Aufrechterhaltung einer komplexen Fachlichkeit (Brenne/Kaiser 2022). Der menschenrechtsbasierte Ansatz fordert eine Schule, die sich Schüler*innen anpasst und nicht umgekehrt. Im kunstpädagogischen Bereich, in dem unterschiedliche kunstpädagogische Positionen vertreten sind, wird derzeit diskutiert, wie eine inklusive Kunstpädagogik aussehen könnte. Georg Peez nennt in seinem Aufsatz „Kunstpädagogik“ drei gegenwärtig relevante kunstpädagogische Positionen. Der Ansatz der „Bild-Orientierung“ hat die Aneignung von Bild-Kompetenzen zum Ziel. Die kunstpädagogische Position der „Kunst-Orientierung“ stellt die künstlerische Bildung auch im Rahmen eines erweiterten Kunstbegriffes von Beuys in den Mittelpunkt des eigenen Unterrichts. Der dritte Ansatz der ästhetischen Forschung entspricht der kunstpädagogischen Position der „Subjektorientierung“, die didaktisch eher bei den Kindern und ihren Biografien ansetzt (Peez 2013/2012). Kaiser/Brenne 2021 geben einen guten Überblick zu unterrichtsmethodischen Settings inklusiver Kunstpädagogik dieser drei kunstpädagogischen Grundpositionen. In einer Zusammenschau verschiedener Ansätze inklusiver Kunstpädagogik unterscheiden die Autor*innen unter Berücksichtigung des aktuellen Forschungsstandes den „Gegenstandbereich des Faches“ („Gestalterische Kompetenz“ oder „Bildanalytische Kompetenz“), das „unterrichtsmethodische Arrangement“ (z.B. „Themenbezogene Bildbetrachtung anhand von an die Inklusion anschlussfähigen Bildmotiven“), das im Kunstunterricht zur Anwendung kommt, und die „Zielperspektive“ (z.B. „Erwerb von differenzversierter Bildlesekompetenz“), die im jeweiligen Setting anvisiert wird (Kaiser/Brenne 2021). Die Analyse dieser Zusammenschau macht deutlich, dass inklusive Kunstpädagogik einerseits darauf abzielen kann, das Thema „gesellschaftlich produzierte Diversität“ (z.B. soziale Herkunft, Geschlecht, Behinderung, Migration) im Kunstunterricht zu bearbeiten. In der Auseinandersetzung mit dichotomen, essentialistischen Zuschreibungen (z.b. Migrant*in/Nichtmigrant*in etc.) sowie in deren De-Konstruktion liegt sicherlich ein Potential einer inklusiven bzw. diversitätsorientierten Kunstpädagogik.
Die Bezüge, in die wir hineingeboren sind, und durch die wir im Laufe unserer Sozialisationsgeschichte geprägt sind, werden in der Welt wirksam. Nach Dewey können durch die Auseinandersetzung mit ästhetischen Medien Differenzerfahrungen zum Alltagsbewusstsein evoziert und soziokulturelle Selbstverständlichkeiten hinterfragt und neu strukturiert werden (Dewey 2021).
Andererseits zeigt die Zusammenschau zu unterrichtsmethodischen Settings, dass inklusive Kunstpädagogik auch der wichtigen Frage nachgeht, wie Kinder an einer Schule für alle gemeinsam lernen können. Aus Sicht einer inklusiven Didaktik ist, jenseits interner fachlicher Divergenzen, die Entwicklung von didaktischen Konzepten notwendig, die einzelne Gegenstände im Kunstunterricht in einer Art und Weise elementarisieren und differenzieren, sodass sich Kinder auf unterschiedlichen Entwicklungsniveaus mit dem gleichen Unterrichtsgegenstand befassen können. Das Konzept des Malortes, in dem laut Arno Stern (2018) ideale Bedingungen für das Malspiel von Kindern entwickelt wurden, lässt sich meiner Ansicht nach nicht einer dieser kunstpädagogischen Positionen (Peez 2013/2012) und/oder einem in Kaiser/Brenne 2021 dargestellten inklusiven Setting zuordnen. Der Kunstpädagoge Georg Peez schreibt folgendes zum Malspiel: „Dass Stern kein Kunstpädagoge ist, macht seine Erfahrungen und Thesen für den Kunstunterricht umso wertvoller. Sie sind durchaus anschlussfähig an die Kunstpädagogik und doch zugleich vollkommen unkonventionell, weil sie fast alle bisherigen Formen der Vermittlung im Bildnerischen infrage stellen. […] Der radikale Ansatz des „Malspiels“ verdeutlicht […], dass wir Kindern oft zu wenig Raum und Zeit geben, sich spielerisch, d.h. zweckfrei, im Bildnerischen auszuprobieren, sich schöpferisch zu entwickeln und sich selbst individuell zu entdecken. Angesichts der zunehmenden Heterogenität der Schüler und Schülerinnen aber kann es wichtig sein, einen „Malort“ etwa in einer Grundschule einzurichten, um Kindern unabhängig von ihren kulturellen Wurzeln und Voraussetzungen das „Malspiel“ zu ermöglichen“ (Peez 2020: 27).
Im Malspiel, das ab den 1950er-Jahren im Pariser Malort entwickelt wurde, wird kein „inklusiver Kunstunterricht“ vermittelt. Die Kinder kommen in den Malort, um das Malspiel zu erleben und um die eigene Malspur zum Ausdruck zu bringen. Es geht nicht darum, ein Bild im klassischen kunstpädagogischen Sinne zu erzeugen. Arno Stern konnte beobachten, dass die Kinder im Malspiel ein relativ einheitliches Reservoir an Requisiten (Zeichen, Figuren und Themenschwerpunkte) verwendeten. Zudem wiederholten sich bei vielen verschiedenen Kindern immer wieder die Entwicklungsmuster des bildhaften Ausdrucks. Die langjährigen Erfahrungen als Malspielpädagoge in Paris und seine Forschungen in verschiedenen Ländern in Afrika, Nord- und Südamerika bestärkten Arno Stern in seiner Überzeugung, dass es so etwas wie eine „ursprüngliche Äußerung“ gebe. Nach Arno Stern folge das freie Malen einer Entwicklung, die bei allen Menschen eine universale Sprache bildhafter Muster aufweist. Diese Muster umschreibt er mit dem Begriff „Formulation“ (Stern 2018).
Aus diversitätsorientierter und inklusionspädagogischer Perspektive ist es relevant, dass das Malspiel nach Arno Stern „kulturneutral“ ist, dass im Malort alle verschieden und doch alle gleich sind, da sich nach Arno Stern jeder Mensch der universalen Sprache bildhafter Muster bedient, und dass die Bilder der Kinder im Malort nicht bewertet werden und dadurch nicht der Wunsch nach Konkurrenz mit anderen entsteht. Der Malort ist ein geschützter Raum und besteht aus einer speziellen Einrichtung: vier Wände aus Weichfaserholz, keine Fenster, ein speziell angefertigter Maltisch mit insgesamt 18 Farb- und 18 Wasserbehältern und 54 Pinseln. Die Malspielstunden sollten regelmäßig (1x in der Woche) und dauerhaft (z.B. ein Schuljahr) stattfinden, in Gruppen von höchstens 12-15 Beteiligten. Es gibt klare Spielregeln, was den Umgang mit den Pinseln und den Farben betrifft. Die Kinder nehmen die Farbe immer mit einem der spezifischen Farbe zugeordneten Pinsel auf und tragen die Farbe auf ihren, durch die Reißnägel an der Weichfaserholzwand befestigten, Papierbogen auf. Bei diesem Prozess ist es wichtig, achtsam mit dem hochwertigen Malmaterial umzugehen. Die Farbe soll mit der Pinselspitze aufgenommen und weder zu trocken noch zu nass auf das Blatt Papier aufgetragen werden. Diese klaren Regeln sollten eingehalten werden, damit jedes Kind das Malspiel ungestört erleben kann. Beim Malen in der Gruppe lernen die Kinder, spontan und erfolgreich als Gruppenmitglied zu agieren. Das entstandene Bild selbst ist nicht als kommunikatives Medium zu werten. Die erwachsene Person versucht das Ich der Kinder zu stärken, indem sie ihnen respektvoll, wertschätzend und anerkennend zur Seite steht und ihnen zu eigenen technischen Lösungsmöglichkeiten während des kreativen Prozesses verhilft.
Das Malspiel, die ursprüngliche Kreativität und das Konzept des intermediären Raumes
Der Psychoanalytiker Winnicott liefert mit seinem speziellen Beitrag zu den frühen Objektbeziehungen wichtige Impulse zum Verstehen des Malspiels von Kindern. Anhand seiner Beobachtungen der frühen Mutter-Kind-Beziehung entwickelte Winnicott ein Konzept der ursprünglichen Kreativität. Das Kleinkind erschaffe „Übergangsobjekte“, um das Moment der mütterlichen Abwesenheit besser überbrücken zu können. Winnicotts intermediärer Raum ist der Lebensraum, in dem sich das Kind zum ersten Mal mit einem „nichtmütterlichen“ Objekt befasst und dieses begehrt. Das Begehren des Übergangsobjektes und das Spiel mit demselben sind für Winnicott die ersten Zeichen kreativer Betätigung beim Kleinkind. Dieser Kreativitätsbegriff lässt sich nicht mit dem Malen von schönen Bildern oder Bauen prächtiger Gebäude vergleichen, sondern meint eine allgemeine Kreativität. Die Kreativität, von der Winnicott spricht, beschreibt das Prinzip des inneren Lebendigseins. Der Mensch, der eine kreative Einstellung lebt, wird in diesem Sinne als gesund gesehen, wobei Winnicott sich sehr stark gegen das Ziehen einer scharfen Grenze zwischen Gesundheit und Krankheit sträubt (Winnicott 2007).
Das Übergangsobjekt im intermediären Raum hat für Winnicott eine unermessliche Bedeutung. Der Mensch ist am Anfang seiner Entwicklung seiner Umwelt ausgeliefert und daher auch durch ein gewisses Abhängigkeitsverhältnis gekennzeichnet. So kann das Übergangsobjekt als wichtiges Potential im „Individuationsprozess“ gesehen werden. Das Spiel im intermediären Raum symbolisiert zum einen eine stabile Struktur, die Halt vermittelt, und zum anderen Befreiungsakte aus den Fäden der menschlichen Abhängigkeit und den damit zusammenhängenden Ohnmachtsgefühlen. Es stellt damit einen wichtigen Schritt im menschlichen Individuationsprozess dar. Durch das Konzept des Malspiels werden einerseits die Entwicklung von Kreativität und anderseits die menschlichen Individuationsprozesse gefördert. Die Individuation wird im Malort durch die spezifische pädagogische Haltung der erwachsenen begleitenden Person geprägt. Das Kind wird im Malort hinsichtlich der bildlichen Gestaltung nicht angeleitet und belehrt. Dadurch wird das Vertrauen in die eigene gestalterische Kraft und in die eigene Person gestärkt. Versteht man Winnicotts Begriff des Übergangsobjektes im wörtlichen Sinne, dann wird klar, dass dieser das „Stirb und Werde“, wie es Goethe beschrieben hat, beinhaltet. Die Schaffensprozesse im Malspiel sind Reifungsprozesse der eigenen Person, die wie Häutungen von Malstunde zu Malstunde immer wieder von neuem vollzogen werden. Da das Kind im Malspiel keine inhaltlichen, gestalterischen Vorgaben von Seiten des Erwachsenen erhält, ist es gefordert im Malprozess einen Zugang zur eigenen Kreativität zu finden und diese zu genießen. Im Malspiel werden laut Arno Stern (2018) malerische Themen sehr oft wiederholt. Diese Wiederholungen ermöglichen den Kindern immer wieder neue Ausdrucksmöglichkeiten der eigenen Spur, die wie eine Urschrift des Leibes ist. Diese „Ur-Schrift ist jene, die die Empfindungen, in direktem Zugriff, der Gebärde aufprägen, noch ehe die Domestizierung durch die graphische Schulung sie, um daraus eine „Zeichnung“ zu machen, von dieser Funktion ablenkt; und ebenso, wenn der Mensch (das Kind jeden Alters) an diesem Ort den ursprünglichen Gebrauch seiner Fähigkeiten wiederfindet“ (Stern 2009: 13). Der Ausdruck dieser Spur ist für Stern eine Handlung bei welcher der Mensch „an die Impulse des Körpers angeschlossen“ (Stern 2009: 40) ist. Im Malspiel handelt das Kind unbewusst und wird nach Stern von Impulsen aus dem sogenannten Leibgedächtnis gesteuert. Nach Stern kann sich der Maltrieb, der analog zum Spieltrieb zu betrachten ist, im Rahmen des Malspiels in seiner ganzen Fülle entfalten. Im Unterschied zur Psychoanalyse wird das Bild des Kindes im Malspiel nicht gedeutet oder über die Bilder geredet. Die Malspur wird nur betrachtet. Die Bilder brauchen nicht verstanden, verbessert oder interpretiert werden. Ein Deuten und Bewerten des Bildes von Seiten des Erwachsenen würde nach Stern den Prozess des Malspiels und des Ausdrucks der eigenen Spur stören und beeinträchtigen (Stern 2009).
Semiotische versus ausdruckssemiologische Perspektiven auf die gemalten Bilder im Malspiel
Die Philosophin Susanne Langer befasste sich in ihrer auf das menschliche Bewusstsein bezogenen Symboltheorie mit unterschiedlichen Typen von Symbolen (vgl. Bua 2006, 2009, 2014). Langer unterscheidet zwischen diskursiven und präsentativen Symbolen: Mit diskursiven Symbolen meint Langer die Symbole als Sprache. „Wörter kennen nur eine lineare, gesonderte, sukzessive Ordnung; sie reihen sich, wie Perlen des Rosenkranzes, eins ans andere [...]" (Langer 1992:87). „Die Sprache hat ein Vokabular und eine Syntax. Ihre Elemente sind Wörter mit festgelegten Bedeutungen" (Langer 1992:100). Die kennzeichnende formale Struktur der präsentativen Symbole besteht nicht aus der sukzessiven Aneinanderreihung von Symbolen, sondern diese erscheinen gleichzeitig im Bild. „Visuelle Formen – Linien, Farben, Proportionen usw. – sind ebenso der Artikulation, d.h. der komplexen Kombination fähig wie Wörter" (Langer 1992:99). Was ein Bild „darstellt, wird […] durch seine Logik diktiert – durch die Anordnung seiner Elemente" (Langer 1992:77). Auch präsentative Symbole sind nach Langer Zeichen, die eine Botschaft vermitteln. Die gemalten Bilder von Kindern, die im Rahmen ästhetischer Spielräume entstehen, sind dem semiotischen Ansatz zufolge als symbolhafte Handlungen zu verstehen und können der Kommunikation bzw. der Deutung im Rahmen von kunstpädagogischen und kunsttherapeutischen Konzepten dienen.
Konträr zu diesen Thesen äußert sich im Rahmen eines ausdruckssemiologischen Ansatzes der Reformpädagoge Arno Stern. Wie bereits mehrmals betont, wird das freie Malen mit Kindern in einem geschlossenen Atelier von ihm nicht als Kunst betrachtet. Dabei geht es nicht darum ein Kunstwerk zu schaffen, dessen Zweck die Vermittlung einer Botschaft bzw. die Kommunikation ist, sondern es steht der Ausdruck der eigenen Spur im Mittelpunkt. Im Malort steht weder eine Darstellung, Interpretation noch das Kommentieren oder Beurteilen der Bilder im Vordergrund. Dazu kommt, dass die im Malort entstandenen Bilder weder ausgestellt noch mitgenommen werden. Sie werden von der dienenden Person (der Pädagog*in) archiviert (Stern 2018).
Resümee: Diversitätsorientierte-inklusionspädagogische Perspektiven auf das Malspiel – Grenzen und Möglichkeiten der Inklusion
Benachteiligte Kinder in unserer Gesellschaft stehen unter einem starken schulischen Leistungsdruck, der zum Teil aufgrund der Vergleiche unter Schüler*innen und durch das selektive Schulsystem generiert wird. Die Befreiung vom gesellschaftlichen Druck könne laut Winnicott in einem intermediären Raum (z.B. in der Kunst) erfolgen (Winnicott 2015:23f.). Dieser Zwischenraum entwickle „sich direkt aus dem Spielbereich kleiner Kinder, die in ihr Spiel „verloren“ sind“ (Winnicott, 2015:24). Im Malspiel gehe es nicht um Leistung- und/oder Kompetenzorientierung. Es müssen keine ästhetischen Leistungen und keine Kunstwerke vollbracht werden (Stern 2018).
Der Vergleich mit anderen in der Schule und die damit verbundene verinnerlichte (Selbst)Abwertung kann einen negativen Einfluss auf das Selbstkonzept, Selbstwertgefühl und auf die Selbstwirksamkeit von Kindern haben. Aus Sicht von Arno Stern (2018) sollte eine Pädagog*in nicht die bildhafte Sprache eines Kindes vergleichen, deuten, kommentieren oder bewerten. Bei diesem Modell rücken das Konkurrenzprinzip und das Vergleichen zwischen den Akteur*innen in den Hintergrund. Die Person, welche die „dienende Rolle“ im Malspiel innehat (Pädagog*in), nimmt während dieses Spiels eine aufmerksame, nicht-deutende und nicht bewertende Haltung ein, indem sie das Kind bei diesem Prozess begleitet und wenn notwendig, technisch unterstützt.
In der diversitätsorientierten Phänomenologie wird die These vertreten, dass jeder Mensch singuläre und originäre Erfahrungen macht, gleich ob ein Mensch als Migrant*in, Mensch mit Behinderung etc. diskursiv in seiner Lebenswelt adressiert wird (Boger/Brinkmann 2021).
In einem Malort, in dem es eine stabile Struktur mit spezifischen Spielregeln gibt, kann das Kind das freie Malspiel in seiner ganzen Fülle erleben. Hierbei kann es dem Kind gelingen, die eigene Spur und personale Wahrheit zu erfahren. Diese Erfahrungsdimension kommt einer befreienden Wirkung sehr nahe, da im Malspiel das eigene So-Sein, die eigene Originalität sowie die Singularität der eigenen Erfahrung und nicht die gesellschaftlich erfahrene Behinderung und/oder Zuschreibung im Mittelpunkt stehen.
Im Kontext eines menschenrechtsbasierten Ansatzes in der Inklusion sollte jedem Kind die Möglichkeit geboten werden, das Malspiel (im schulischen Kontext) zu erleben. Im aktuellen Konzept des Malspiels können Barrieren für Menschen mit diverser motorischer und körperlicher Entwicklung und/oder mit komplexer Behinderung entstehen. Barrieren sind im sozialen Modell von Behinderung veränderbar. Als Pädagog*innen sind wir immer Teil der Lösung und des Problems. In Rahmen eines inklusiven Settings sollten Pädagog*innen die Kinder im Malspiel begleiten, didaktische Konzepte entwickeln, um einem Kind mit komplexer Behinderung die gleichberechtigte Teilhabe am Malspiel zu ermöglichen. Ziel der Inklusion im Malspiel sollte es sein, eine gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen anzustreben. Jedes Kind ist einzigartig, kompetent und entwickelt sich kreativ in den eigenen Möglichkeitsbereichen. Gleich wie im inklusiven Kunstunterricht sollen auch im Malort für jedes Kind gemäß den Anpassungsfähigkeiten der Pädagog*innen und des Systems Barrieren vermindert werden, damit alle Kinder gleichberechtigt am Malspiel teilnehmen können.