Lehrmeister Corona − Konsequenzen für die Zukunft Kultureller Bildung

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von Olaf-Axel Burow

Erscheinungsjahr: 2021

Abstract

Corona erweist sich als die wirkungsvollste Fortbildungsmaßnahme aller Zeiten. Das Virus zwingt uns zu einer Art High-Speed-Lernen bezüglich unseres Lebens- und Wirtschaftsmodells. Kulturelle Bildung, die zur Überwindung der Corona-Krise und darüber hinaus zum „Welt neu denken“ bzw. „Welt entwerfen“ beitragen will, kann uns alle darin unterstützen, zu aktiv handelnden „Future Designern“ zu werden. Umsteuern nach der Krise heißt, die Lücke zu nutzen, heißt, auch Bildung anders zu denken. Freie Räume brauchen wir dafür. Räume, in denen Kompetenzen entstehen und ihre Wirkung entfalten können. Im Dreiklang von „Sei leidenschaftlich!“, „Sei visionär!“ und „Mach’s einfach!“ kann Kulturelle Bildung Zukunftsgestalter*innen unterstützen und in kulturellen Projekten erfahr- und umsetzbar machen, wie eine zukunftsfähige Kulturelle Bildung den Kompetenzerwerb in der Verbindung von Wissen, Haltung und Handlung sowie Metalernen ermöglicht.

Um die Anregungen dieses kurzen Impulsbeitrags zu vertiefen, veröffentlicht kubi-online im Anschluss an diesen Text weiterführende Fachinformationen des Autors, inclusive eines Filmbeitrags, zur Verwirklichung seines Konzeptes einer Positiven Pädagogik" und zukunftsfähigen Bildung 2030".

Lehrmeister Corona

Eben noch wiegten wir uns in trügerischer Sicherheit einer prosperierenden Wohlstandsgesellschaft mit rosigen Zukunftsaussichten – auch wenn diese durch die absehbaren Risiken des Klimawandels leicht eingetrübt schienen. Doch nur Wenige zweifelten an der Mehrdesselben-Strategie des Höher, Weiter, Schneller. Mehr noch: Vor allem bei den Eliten aus Wirtschaft und Politik war die Bereitschaft zum notwendigen, radikalen Umsteuern − trotz aller Nachhaltigkeitsrhetorik in Sonntagsreden − wenig ausgeprägt. Und dann: Lockdown!

Woran Zivilisationsskeptiker*innen, Kapitalismuskritiker*innen, Nachhaltigkeitsvertreter*innen und Klimawarner*innen unterschiedlicher Couleur scheiterten, gelang dem Virus quasi über Nacht: Corona erweist sich damit als die vielleicht wirkungsvollste Fortbildungsmaßnahme aller Zeiten – und das weltumgreifend! Plötzlich waren die Menschen unterschiedlichster Nationen und Kulturen in der Lage, innerhalb weniger Tage Gewohnheiten aufzugeben, Verhalten radikal zu ändern und erwiesen sich als erstaunlich lernfähig. Ja, mehr noch: Im Zeitalter von Fake News ist das Interesse an wissenschaftlich fundierter Expertise neu erwacht.

Sogar die alte Diagnose des Soziologen Ulrich Beck, derzufolge wir in einer „Risikogesellschaft“ leben, verlässt den begrenzten Raum von Expertendebatten und führt inzwischen auch bei Laien zur Erkenntnis, dass wir mit unserem Lebens- und Wirtschaftsmodell sowie den globalisierten Lieferketten längst eine „Weltrisikogesellschaft“ aufgebaut haben. Der Virus führt uns in dramatischer Weise den faustischen Pakt vor Augen, den wir damit geschlossen haben und zwingt uns zu einer Art High-Speed-Lernen bezüglich der komplexen Wirkungen unseres Lebens- und Wirtschaftsmodells.

Unsere Welt neu Denken – durch Kulturelle Bildung

„Unsere Welt neu Denken“ − für einen kurzen Zeitraum schien dies möglich, wie es die Ökonomin Maja Göpel (2020) in ihrer gleichnamigen Studie vorschlägt. Doch ihre akribische und leserfreundliche Zusammenstellung der Fehlsteuerungen unseres Lebens- und Wirtschaftsmodells leidet darunter, dass nicht klar wird, woher die Kräfte kommen sollen, die das notwendige Umsteuern einleiten können. Schließlich fehlt es uns weniger an Wissen, sondern stärker an Fähigkeiten zur Umsetzung. Und dieser Mangel hat Ursachen: Mit der einseitigen Fokussierung auf die Vermittlung von explizitem Wissen tragen unsere Bildungsinstitutionen zu einer „erlernten Hilflosigkeit bei“, denn wie Rolf Arnold und John Erpenbeck (2014) in ihrer gleichnamigen Untersuchung herausarbeiten: „Wissen ist keine Kompetenz“. Kompetenz erfordert vielmehr die Verbindung von Wissen, Haltung und Handlung sowie Metalernen.

Zukunftsfähige Kulturelle Bildung muss deshalb Formate entwickeln, die dafür sorgen, dass diese − zu oft getrennten − Bereiche miteinander verknüpft und in kulturellen Projekten erfahr- und umsetzbar sind. Nicht von Ungefähr basiert der Erfolg der Fridays-for-Future-Bewegung darauf, dass Jugendliche die Schule verlassen haben, um einen öffentlichen und offenen Raum für die Auseinandersetzung mit Zukunftsthemen und „eingreifende Zukunftsgestaltung“ zu schaffen.

Wie ich in „Future Fridays“ (Burow 2020) zeige, brauchen wir für das jetzt anstehende Neudenken der Welt freie Räume, wie z. B. ein „Schulfach Zukunft“, aber besser noch einen kontinuierlich stattfindenden „Freitag für die Zukunft“. Dies würde bedeuten 20 Prozent der Schulzeit, also einen Freitagvormittag, für Lehrkräfte und Lernende freizustellen, um der verbreiteten Unterschätzung der Folgen unserer Handlungen entgegenzuwirken und Fähigkeiten zur aktiven Zukunftsgestaltung anzubahnen. Dieser freie Raum dürfte nicht curricularisiert werden, sondern müsste offen sein für die innovativen Ideen und Projekte der Beteiligten.

Ich denke hier an vielfältige Formate Kultureller Bildung, wie beispielsweise Zukunfts-, Theater-, Szenario-, Kreativ-, Design-Thinking- und Malwerkstätten, Maker Spaces und vieles mehr – Orte, an denen man sein kreatives Potenzial allein und im Team für das „Weltentwerfen“ entwickelt, wie es von Borries (2016) in seiner politischen Designtheorie konzipiert hat. Eine so verstandene Kulturelle Bildung, die auf eine Befähigung zum Neudenken der Welt abzielt, bezeichne ich als „Future Design“. Future Design zielt in Anknüpfung an die „Positive Psychologie“ auf die Entwicklung eines „Design for Human Flourishing“. In diesem Sinne sollte Kulturelle Bildung Lehrkräfte und Lernende darin unterstützen, zu „Future Designern“, zu Zukunftsgestalter*innen zu werden.

Weltentwerfen bzw. Future Design erfordert drei Grundhaltungen

Wie nachfolgende Übersicht zeigt, geht es dabei um die Entwicklung von drei grundlegenden Haltungen:

  1. Kulturelle Bildung sollte erstens dazu beitragen, dass Lernende ihre spezifischen Neigungen bzw. Begabungen, ihre Leidenschaft entdecken, erproben und entwickeln können. Unter dem Motto „Sei leidenschaftlich!“ geht es hier um ein „Design für Engagement“.
     
  2. Wer sein Element, sein Thema, für das er*sie leidenschaftlich brennt, gefunden hat, braucht eine orientierende Zukunftsvision und die Erfahrung von Selbstwirksamkeit, die sich in einer visionären, zukunftsoptimistischen Grundhaltung manifestiert. Das Motto „Sei visionär!“ unterstützt Kulturelle Bildung durch Formate eines „Design für Zukunft“.
     
  3. Bei der dritten, umsetzungsorientierten Haltung geht es, anknüpfend an die Aufforderung „Mach‘s einfach!“, um ein Design für Simplexität. Simplexität meint die Fähigkeit, komplexe Sachverhalte so auf ihre Kernbestandteile zu reduzieren, dass Handlung möglich wird, ohne unzulässig zu vereinfachen.

Burow Grafik Bildung 2030

Kulturelle Bildung nach Corona: kritisch reflektieren, neu denken, zukunftsfähig designen

Die drei Grundhaltungen als Basis einer zukunftsorientierten Kulturellen Bildung werden durch drei mal drei Prinzipien konkretisiert. So stützt sich der Appell „Sei leidenschaftlich!“ auf die Erkenntnisse der Selbstbestimmungstheorie von Deci und Ryan (1992), die gezeigt haben, dass die Trias Selbstbestimmung, Kompetenzerfahrung sowie Erfahrung von Sinn und Zugehörigkeit die Grundlage für ein erfülltes und engagiertes Leben ist. Die Umsetzung der Aufforderung „Sei visionär!“ wird unterstützt durch eine „Wertschätzende Erkundung“ (Worin bin ich/sind wir bereits gut?), die Entwicklung einer nachhaltigen Vision (Wofür will ich, wollen wir uns engagieren?) und einen Umsetzungsplan mit konkreten Meilensteinen (Wer macht mit wem was bis wann?). Die Leitlinie „Gestalte es einfach!“ schließlich, gründet auf der Salutogenese Antonovskys, der empirisch belegt, dass wir nur dann ein Kohärenzgefühl entwickeln können, wenn die jeweiligen Anforderungen verstehbar, persönlich bedeutsam und handhabbar sind.

Kulturelle Bildung, die einen Beitrag zur Überwindung der Corona-Krise und darüber hinaus zum „Welt neu denken“ bzw. „Welt entwerfen“ leisten will, kann – statt den schnellen Wandel der Welt passiv hinzunehmen – dahingehend unterstützen, dass wir alle zu aktiv handelnden Zukunftsgestalter*innen, zu „Future Designern“ werden.

„Wir brauchen für das jetzt anstehende Neudenken der Welt freie Räume, wie z. B. ein „Schulfach Zukunft“, aber besser noch einen kontinuierlich stattfindenden „Freitag für die Zukunft“ (Olaf-Axel Burow, Direktor des IF- Institute for Future Design).

 

>> Vertiefende Fachinformationen

  • #2 Was heißt hier Bildung? |Utopie-Studio
    Reinhard Kahl im Gespräch mit der Alemannenschule Wutöschingen und dem Pädagogen Olaf Burow

Diese Schule zeigt, dass Kinder und Jugendliche am besten lernen, wenn die Schule selbst eine lernende Organisation ist. Zum Beispiel bekommt im demnächst fertig werdenden neuen Oberstufengebäude jeder Jugendliche seinen Schlüssel und darf 24 Stunden an 7 Tagen die Woche rein. Für diesen Mut und unglaubliche Erfolge gab es den Deutschen Schulpreis. (Alle Einspielfilme © und V.i.S.d.P.: Reinhard Kahl, Archiv der Zukunft: https://www.reinhardkahl.de/kontakt/​)

Verwendete Literatur

  • Arnold, Rolf/Erpenbeck, John (2014): Wissen ist keine Kompetenz. Hohengehren: Schneider Verlag.
  • Antonovsky, Aaron/Franke, Alexa (1997): Salutogenese: Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Tübingen.
  • Borries, Friedrich von (2016): Weltentwerfen. Eine politische Designtheorie. Berlin: Suhrkamp.
  • Burow, Olaf-Axel (2021): Die Corona-Chance. Sieben Schritte zur Resilienten Schule. Weinheim: Beltz.
  • Burow, Olaf-Axel (2020): Future Fridays. Warum wir das Schulfach Zukunft brauchen. Weinheim: Beltz.
  • Deci, Edward L./Ryan, Richard M. (1993): Die Selbstbestimmungstheorie der Motivation und ihre Bedeutung für die Pädagogik. Zeitschrift für Pädagogik. 39. S. 223–238.
  • Göpel, Maja (2020): Unsere Welt neu Denken. Eine Einladung. Berlin: Ullstein.

Anmerkungen

Der Beitrag ist erstveröffentlicht in: Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung e. V. (2020): Zukunft – jetzt utopisch gerecht No. 19. kubi – Magazin für Kulturelle Bildung. No. 19-2020. Berlin. S. 12 – 17.

Zitieren

Gerne dürfen Sie aus diesem Artikel zitieren. Folgende Angaben sind zusammenhängend mit dem Zitat zu nennen:

Olaf-Axel Burow (2021): Lehrmeister Corona − Konsequenzen für die Zukunft Kultureller Bildung. In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE: https://www.kubi-online.de/artikel/lehrmeister-corona-konsequenzen-zukunft-kultureller-bildung (letzter Zugriff am 16.07.2024).

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Dieser Artikel wurde dauerhaft referenzier- und zitierbar gesichert unter https://doi.org/10.25529/8qbd-ef32.

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