Lebenskunst als Lernziel Kultureller Bildung?
Ist von „Kultureller Bildung“ die Rede, werden terminologisch weitaus deutlicher als durch den Begriff „Ästhetische Bildung“ Kontextualisierungen angezeigt (Zürner 2015:75ff.). Dies ist besonders hinsichtlich der kritischen Potentiale dieses pädagogischen Projekts von Bedeutung. Denn verdankt „Ästhetische Bildung“ ihre ideengeschichtliche Fundierung zwar dezidierter Kritik an einer vereinseitigten Vernunft und somit einer Problematik, die später unter dem Titel „Dialektik der Aufklärung“ prominent werden wird, so droht der pädagogische Diskurs diesen Impuls in einer Esoterik ästhetischer Erfahrung immer wieder zu verflüchtigen. „Kulturelle Bildung“ macht durch ihre Bezeichnung darauf aufmerksam, dass die Beschäftigung mit den Künsten keine weltlose Sphäre ästhetischen Affiziertseins konstituiert, sondern in konkreten historischen und sozialen Kontexten – mithin in Kultur – verortet ist. Damit hätte sie den Schlüssel zu einem kritischen Bildungskonzept in der Hand, in dem sich ästhetische Subjektivität ihrer dialektischen Vermittlung mit gesellschaftlichen und geschichtlichen Kontexten im Rahmen künstlerischer Praxis bewusst wird (Zürner 2015:83ff.). Setzt sie jedoch auf das „Lernziel Lebenskunst“ (Bockhorst 2013; Fuchs 2011; Fuchs 2008; BKJ 1999), gibt sie diesen Schlüssel wieder aus der Hand, da mit „Lebenskunst“ kaum ein hinreichend konturiertes kritisches Profil Kultureller Bildung gelingen kann. Diese These soll im Folgenden anhand einiger Problematiken dieses „Lernziels“ entfaltet und begründet werden: der extensiven Semantik des Begriffs „Lebenskunst“, der fragwürdigen Triftigkeit einer Metapher vom „Leben als Kunstwerk“, der sozialen und politischen Dimensionierung Kultureller Bildung, der drohenden Technologisierung des Projekts sowie einer Ästhetisierung der Pädagogik. Im Anschluss wird eine klarere Konturierung des kritischen Profils Kultureller Bildung durch das Aufgreifen dreier grundlegender Impulse aus der Kritischen Theorie vorgeschlagen.
Extensive Semantik des Begriffs „Lebenskunst“
Der Terminus „Lebenskunst“ vermag durch eine entwaffnende Direktheit zu faszinieren, mit der er pädagogische Theorie und Praxis auf die existenzielle Frage nach dem „guten Leben“ hin anspricht. Dieser Anspruch kann pädagogisch jedoch nur dann mit einer hinreichend kritischen Prägnanz aufgegriffen werden, wenn sich der Geltungsbereich einer „Lebenskunst“ mit entsprechend hinreichender analytischer Schärfe konkretisieren lässt. Jedoch lesen sich Versuche einer systematischen Ausarbeitung hier wie Kataloge einer umfassend perfektionierten Weisheit (Schmid 2014:49ff.; Schmid 1999), der es schließlich gelingt, das nach einem mittlerweile wohl schon legendären kulturdiagnostischen Diktum von Jürgen Habermas „stillgestellte Zusammenspiel des Kognitiv-Instrumentellen mit dem Moralisch-Praktischen und dem Ästhetisch-Expressiven wie ein Mobile, das sich hartnäckig verhakt hat, wieder in Bewegung zu setzen“ (Habermas 1983:26). Damit aber verbirgt sich hinter der scheinbaren Praktikabilität einer Lebenskunst nichts weniger als der Anspruch, fundamentale Pathologien der Moderne und Brüche der Kultur gleichsam durch gekonnte Lebenspraxis auf der Subjektseite zu heilen. In einer so verstandenen Kulturellen Bildung fände der objektive „Totalitätsbegriff Kultur“ (Fuchs 2012:64) seine Entsprechung damit in einer pädagogisch anvisierten Totalität subjektiven Könnens. Dabei wäre nicht nur ein solch kaum einzugrenzender Anspruch an das Subjekt zu problematisieren (und ein solcher müsste erhoben werden, soll sich Lebenskunst gerade nicht in beschaulich-privater Stilkultur erschöpfen). Auch die Konkretion solchen Anspruchs als ein Können des Subjekts wäre im Rahmen einer sich kritisch verstehenden Kulturellen Bildung zu hinterfragen.
Das Leben als Kunstwerk?
Der Begriff Lebenskunst eröffnet keineswegs einen spezifisch ästhetischen Bereich. Bei Michel Foucault etwa ist damit ein Ensemble von Praktiken angesprochen, „die es dem Einzelnen ermöglichen, aus eigener Kraft oder mit Hilfe anderer eine Reihe von Operationen an seinem Körper oder seiner Seele, seinem Denken, seinem Verhalten und seiner Existenzweise vorzunehmen, mit dem Ziel, sich so zu verändern, dass er einen gewissen Zustand des Glücks, der Reinheit, der Weisheit, der Vollkommenheit oder der Unsterblichkeit erlangt“ (Foucault 2013:289). Die griechische „Techne“ darf hier – wie aus den historischen Studien Foucaults gerade deutlich ersichtlich wird – nicht mit einem im aktuellen pädagogischen Diskurs wirkungsmächtigen Verständnis von Kunst identifiziert werden, das seine entscheidenden Prägungen erst durch die ästhetischen Diskurse der Moderne erfahren hat. Gleichwohl eröffnet die Rede von Lebenskunst fast zwangsläufig einen diffusen ästhetischen Assoziationsraum, der an gegenwärtige konzeptionelle Überlegungen zur Kulturellen Bildung problematische Reize aussendet. Foucault selbst liefert hier eine wenig plausible Interpretation, wenn er seine akribischen Befunde zu Selbsttechniken der v.a. griechischen Antike unter dem ambitionierten Stichwort einer „Ästhetik der Existenz“ zusammenfasst und damit auf einen Terminus zurückgreift, der aus seinem spezifisch modernen Entstehungs- und Wirkungszusammenhang schwerlich herausgelöst und rückprojiziert werden kann. Vollends die Metapher vom „Leben als Kunstwerk“ (Foucault 2013:201 u. passim) verunklart zugunsten der Programmatik einer gewiss faszinierenden ästhetischen Projektion die Unterschiede der Semantiken, die sich mit antiken und (spät)modernen Verständnissen von „Kunst“ verbinden.
Befragt werden müsste jedoch nicht nur die Schlüssigkeit dieser diachronen Projektion bei Foucault. Wenn die Rede vom „Leben als Kunstwerk“ für pädagogische Theorie und Praxis einen heuristischen Wert haben soll, wäre allererst zu klären, welche Vorstellungen von künstlerischem Produzieren bzw. von einem Kunstwerk dabei eigentlich impliziert sind. Denn eine programmatische Formel vom „Leben als Kunstwerk“ kann, will sie in irgendeiner Form für pädagogisches Selbstverständnis klärend wirken, die komplexen ästhetischen Diskussionen nicht ignorieren, die sich um genau diese Vorstellungen entspinnen. Fokussiert Kulturelle Bildung mit dem „Lernziel Lebenskunst“ die Emanzipation des Subjekts, deutet sie die Metapher im Sinne Wilhelm Schmids: „Das Subjekt der Lebenskunst verfährt bei der Gestaltung des Lebens zum Kunstwerk in Analogie zum Künstlersubjekt, das Autonomie für sich beansprucht und diese in einer Serie von Wahlakten exerziert“ (Schmid 2014:75, Hervorhebung original). Das Material des Künstlers/der Künstlerin ist dann das eigene Leben, d.h. „aus der Objektkunst wird eine Subjektkunst“ (Schmid 2014:73, Hervorhebungen original).
In der aktuellen ästhetischen Diskussion gibt es nun aber Stimmen, die gerade die Triftigkeit einer Vorstellung bestreiten, wonach die Gestaltung des Kunstwerkes als Vermögen eines Subjekts hinreichend beschrieben werden kann (Menke 2013). Auch der Begriff eines Kunstwerks wird seit geraumer Zeit intensiv diskutiert (Fischer-Lichte 2004). Denn wenn etwa in manchen Formen der Performance-Kunst die provokante Transformation des Kunstwerkes in Lebensvollzüge intendiert wird, bedeutet dies nicht etwa eine komplementäre Bestätigung der gegenläufigen Idee vom „Leben als Kunstwerk“ sondern deren aporetische Konterkarierung. Obgleich die Transformation von Kunst in Leben bei Performances realiter und nicht metaphorisch (wie in der Vorstellung von der Lebensführung als Gestaltung eines Kunstwerks) vollzogen werden soll, verdankt sich die ästhetische Orientierung am „Leben“ dabei gerade einer Überwindung des Paradigmas vom Subjekt, das ein Werk gestaltet. An die Stelle des „Werkbegriffes“ rückt dann der „Ereignisbegriff“ (Fischer-Lichte 2004:282), um an den künstlerischen Performances eben das nicht planvoll Gemachte, sondern das im Rahmen einer durch „leibliche Ko-Präsenz“ (Fischer-Lichte 2004:58ff.) von KünstlerInnen und ZuschauerInnen bedingten „feedback-Schleife“ (Fischer-Lichte 2004:59 u. passim, Hervorhebung original) Geschehende ins Blickfeld zur rücken. Die hier im Kontext von Performance-Kunst entwickelten Theorien zur „Performativität“ sind dabei auch auf andere Kunstformen wie Literatur und Malerei übertragen worden (Fischer-Lichte 2012:135ff). Wie plausibel und praktikabel auch immer dieses ästhetische Programm tatsächlich sein mag – wenn Pädagogik zur theoretischen Bewältigung der Kategorie „Leben“ metaphorisch auf Kunstwerke verweist, aus der Kunst jedoch als Antwort das Plädoyer für eine kritische Überwindung des Kunstwerkbegriffs zugunsten des Lebens zurückertönt, stellt diese Aporie den pädagogischen Erkenntnisgewinn durch die Metapher vom „Leben als Kunstwerk“ nachdrücklich in Frage: Denn Resultat wäre dann der tautologische Zirkel vom Leben als einem Kunstwerk, das seinerseits jedoch sein will wie das Leben.
Freilich sind dies nur zwei Beispiele aus einem hoch ausdifferenzierten ästhetischen Diskurs um das Verständnis künstlerischer Produktion und künstlerischer Produkte. Sie machen jedoch deutlich, dass die Rede vom „Leben als Kunstwerk“ ohne eingehende Klärung ihrer ästhetischen Prämissen (die auch bei Foucault nirgends erfolgt) in der Sphäre einer wenig ertragreichen Rhetorik verbleibt.
Soziale und politische Dimensionen
Die Gefahr der Vernachlässigung gesellschaftlicher Dimensionen Kultureller Bildung durch deren Orientierung an einer subjektzentrierten Lebenskunst ist von Anfang an erkannt und diskutiert worden (siehe: Hildegard Bockhorst „Lernziel Lebenskunst" in der Kulturellen Bildung). Zunächst betonen schon Wilhelm Schmid und Michel Foucault nachdrücklich, dass die „Sorge des Selbst um sich […] unter philosophischer Anleitung … zu einer klugen, vorausschauenden Sorge wird, die das Selbst nicht nur auf sich, sonder ebenso auf Andere und die Gesellschaft bezieht“ (Schmid 2014:51) bzw. charakterisieren sie als eine „wahrhaft gesellschaftliche Praxis“ (Foucault 2008:1417). Gleichwohl kann die klar angezeigte primäre Intention einer „Sorge um sich“ – gerade als pädagogisches Programm – Zweifel an ihrer zureichenden theoretischen Erfassung und Reflexion sozialer und politischer Kommunikation bzw. Interaktion nicht überzeugend ausräumen. Foucaults Fokus gilt primär intimeren Zirkeln, so etwa der Familie (vgl. Foucault 2013:263), philosophischen Schulen, „Gespräche[n] mit einem Vertrauten, mit Freunden, mit einem Führer oder Leiter“ bzw. dem „Briefwechsel, in dem man seinen Seelenzustand dartut, Ratschläge erbittet oder austeilt, wo sie gebraucht werden“ (Foucault 2008:1416). Inwiefern dieser doch eher private Kommunikationsraum einer in überschaubaren Gemeinschaften praktizierten antiken Lebenskunst tatsächlich auf die politische Öffentlichkeit von Gesellschaften des beginnenden 21. Jahrhunderts übertragen werden kann, bleibt unklar. Deutlich spürbar ist zudem, dass Foucaults historische Beschreibungen immer schon ein gewisses Maß an Gleichklang der in dieser kultivierten Form kommunizierenden und assoziierten Subjekte voraussetzt.
Die Fragwürdigkeit einer zureichenden politischen Dimension der „Sorge um sich“ wird besonders aber im Vergleich mit philosophischen Ansätzen deutlich, die sich expliziter dem Phänomen des Politischen widmen: So charakterisiert das nach Hannah Arendts Typologien menschlicher Vita activa für die politische Öffentlichkeit maßgebliche Handeln im Gegensatz zum Arbeiten und Herstellen eine grundsätzliche Verwicklung in das „Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten“ (Arendt 2013:222). Aufgrund dieses komplexen Verflochtenseins im geteilten dynamischen Handlungsraum einer Pluralität von Subjekten mit „zahllosen, einander widersprechenden Absichten und Zwecken“ (Arendt 2013:226) vermag „der Handelnde so gut wie niemals die Ziele, die ihm ursprünglich vorschwebten, in Reinheit [zu] verwirklichen“. So aber ist „das ursprünglichste Produkt des Handelns … nicht die Realisierung vorgefaßter Ziele und Zwecke, sondern die von ihm ursprünglich gar nicht intendierten Geschichten, die sich ergeben, wenn bestimmte Ziele verfolgt werden“ (ebda., Hervorhebungen C.Z.). Handeln ist damit eine prinzipiell hochriskante Praxis mit unabsehbaren Folgen, da diese im spannungsvollen Interagieren mit anderen Menschen erst entstehenden Geschichten sich einer gekonnten „lebenskünstlerischen“ Gestaltung durch das Subjekt entziehen. So aber scheint ein für die politische Öffentlichkeit konstitutives „Mitsein“ weitaus treffender beschrieben als im Modell einer kunstvollen Assoziation souverän sich abstimmender „Kulturen seiner selber“ (Foucault 2008:1405ff.).
Interessanterweise ordnet Arendt den Bereich der künstlerischen Produktion nicht dem Handeln, sondern dem Herstellen zu (Arendt 2013:481, Anm. 90), den im Gegensatz zum Handeln nicht riskante Verflechtung in die Offenheit eines intersubjektiv konstituierten politischen Raums, sondern ein zweckhaftes und definites Verfertigen der „schier endlose[n] Vielfalt von Dingen, deren Gesamtsumme sich zu der von Menschen erbauten Welt zusammenfügt“ (Arendt 2013:161) kennzeichnet. Wenn Arendt im Bereich des Politischen eine Verdrängung des Handelns durch Denkmodelle des Herstellens (gerade als „Reduktion“ dieses Bereichs auf eine „Kunst“ des Politischen! – Arendt 2013:282) wegen ihres tendenziell verdinglichenden Charakters kritisiert (Arendt 2013:278ff.), wäre von da aus zugleich die kritische Anfrage an eine politisch ambitionierte Lebenskunst zu formulieren, inwieweit sie entsprechend das Politische implizit nicht auch tendenziell nach einem Modell objektivierenden Herstellens konzipiert.
Auch wenn jedoch nicht ein im engeren Sinne politischer Raum, sondern zunächst eher die unmittelbare zwischenmenschliche Begegnung fokussiert wird, bleibt es schwierig, die Existenzialität einer solchen Begegnung mit einem Denken einzuholen, das bei der kunstvollen „Sorge um sich“ seinen Anfang nimmt. Die hier brisantesten Einwände könnten sich etwa auf die Forderung berufen, stattdessen vom Apriori eines existenziellen Anspruchs der Anderen her zu denken, die am radikalsten wohl Emmanuel Lévinas formuliert hat, wenn er das „Antlitz des Anderen“ als „eigentlichen Anfang der Philosophie“ bezeichnet (Levinas 1983:207). Eine so verstandene grundlegende Irritation durch das „Antlitz des Anderen“ aber lässt sich gerade nicht in gekonnten Praktiken des Subjekts regulieren.
Technologisierung Kultureller Bildung
Lebenskunst realisiert sich nach Foucault in Form von „Technologien des Selbst“ (Foucault 2013:287ff.). Diese nüchterne Diktion Foucaults erweist sich für Kulturelle Bildung, die unter Berufung auf dessen Arbeiten ein explizit kritisches und subjektorientiertes pädagogisches Programm initiieren möchte (Fuchs 2011) als prekär. Technologie folgt, wie auch immer kritisch sie sich verstehen will, zunächst dem Prinzip der Effizienz. Die etwas unverfänglichere Rede von „Selbstsorge“ vermag dabei nur unzureichend die grundlegende Ökonomie der unter dem Begriff Lebenskunst subsumierten Praktiken zu verbergen, aufgrund derer eine entsprechend ausgerichtete Kulturelle Bildung formal a priori in gefährliche Nähe zu den bildungspolitischen Modellen gerät, denen sie sich widersetzen will (siehe: Max Fuchs „Kulturelle Bildung als neoliberale Formung des Subjekts? Eine Nachfrage“). Die Beschaulichkeit der individuell gepflegten Ökonomie einer aristokratisch geprägten antiken Lebensweise lässt sich nicht gefahrlos in eine Gegenwart transportieren, in der Ökonomisierung zum alles beherrschenden Prinzip mutiert. Philosophisch kultivierte „Technologien des Selbst“ geraten dort in den Sog einer umfassend technologisierten Praxis, deren Logik den Individuen ohnehin etwa in Gestalt von Postulaten nach „lebenslangem Lernen“ permanent angetragen wird. Angesichts dieser verhängnisvollen formalen Nähe hilft die Hervorhebung inhaltlicher Unterschiede nicht weiter: Denn die pädagogische Fokussierung der „Lebenskunst“ besitzt ihre fundamentale Problematik darin, dass sie nicht etwa den kritischen Geist Kultureller Bildung durch das Beharren auf einem „guten Leben“ rettet, sondern ihn im Gegenteil vollends den kritisierten „neoliberalen“ Strukturen unterwirft: Wenn das Leben unter dem Stichwort Lebenskunst als Angelegenheit eines Lernens und Könnens thematisiert und dabei noch mit dem Kompetenzbegriff operiert wird, ist damit menschliche Existenz schlechthin einer pädagogisch forcierten Optimierungspraxis ausgeliefert, die sich mit den gefürchteten Ökonomisierungen des Bildungswesens bestens verträgt. Das „gute Leben“ mag für bildungstheoretische Reflexion eine unverzichtbare regulative Idee sein. Wird es jedoch operationalisiert und als Produkt von lernbaren Technologien und Praktiken gedacht, bedeutet dies nichts weniger als die vollendete pädagogische Preisgabe des Daseins an die Totalität eines effektzentrierten Denkens, dessen pädagogisches Interesse an den Künsten sich dabei auf deren Einsatz als Kulturtechniken reduziert. Eine so konzipierte Kulturelle Bildung kann dann freilich auch nicht umhin, ihre Effizienz in Form von „Wirkungsstudien“ belegen zu müssen (Bockhorst 2013, Hervorhebung C.Z.). Hierbei zeigt sich zugleich eine doppelte Problematik: Einerseits dokumentiert der Aufweis von „Schlüsselkompetenzen für die Kunst des Lebens“ (Bockhorst 2001) eben die für einen kritischen Impuls Kultureller Bildung verhängnisvolle Totalintegration menschlichen Lebens in den Kompetenzdiskurs. Andererseits sind diese Kompetenzen dann wiederum meist so unverfänglich, dass sie sich ohne größere Schwierigkeiten in „Softskills“ umdefinieren lassen und eine wirklich kritische Ausrichtung des Bildungsprojekts kaum erkennbar ist. Das „Lernziel Lebenskunst“ gerät somit zu einer fast dramatischen Affirmation dessen, wogegen es opponieren will. Solange Kulturelle Bildung sich nicht konsequent von einem technologischen Verständnis löst, ist sie ein viel zu stumpfes Schwert, um „eine neoliberale Ausrichtung des Subjekts in Richtung Flexibilität und Employabilty“ (Fuchs 2011:85) wirksam bekämpfen zu können.
Ästhetisierung der Pädagogik
Eine auf „Lebenskunst“ bedachte Kulturelle Bildung deutet die Metapher vom „Leben als Kunstwerk“ gleichsam wörtlich im Sinne der pädagogischen Inauguration künstlerischer Praxis: Wenn das Leben ein Kunstwerk ist, dient künstlerisches Handeln damit umgekehrt dem Leben. Dabei wird allerdings übersehen, dass die unter dem Begriff „Lebenskunst“ versammelten Praktiken keine spezifisch künstlerischen Praktiken sind. Foucault selbst schreibt: „Da sind die Körperpflegen, die Gesundheitsregeln, die ausgewogenen körperlichen Übungen, die maßvolle Befriedigung der Bedürfnisse. Da sind die Meditationen, die Lektüren, die Aufzeichnungen über Gelesenes oder im Gespräch Vernommenes, auf die man später zurückgreift, das Überdenken von Wahrheiten, die man bereits kennt, aber sich noch besser zu eigen machen muß“ (Foucault 2008:1416). Und auch in Wilhelm Schmids Katalog der „Übungen und Techniken der Lebenskunst“ (Schmid 2014:325ff.) kommt eine dezidiert künstlerische Praxis nicht vor. Dies wird für Kulturelle Bildung zum Problem, insofern sie mit dem subjektorientierten „Lernziel Lebenskunst“ zu letzterer nicht nur eine spezifisch ästhetische Subjektivität beisteuern will, sondern sich ausdrücklich als „subjektorientierte[s] Allgemeinbildungs-Konzept[] einer Lebens-Kunst-Bildung“ in dem „Spannungsfeld von Alltag und Künsten, Individualität und Gesellschaftlichkeit, Ästhetik und Ethik“ versteht (siehe: Hildegard Bockhorst „Lernziel Lebenskunst" in der Kulturellen Bildung). Denn dann ist nicht ersichtlich, wie sich diese umfassende Bildungsintention gerade durch spezifisch künstlerische Praxis verwirklichen lassen sollte, der ja in den herangezogenen philosophischen Fundierungen des Lebenskunst-Konzepts kaum Bedeutung zukommt. Foucaults eher diffuse Rede von einer „Ästhetik der Existenz“ zielt gewiss auf eine kunstvoll gestaltete, nirgends aber auf eine im Medium konkreter künstlerischer Gestaltung realisierte Lebensführung. „Ästhetik“ steht hier für „Stil“ als Habitus, der zu seiner Herausbildung jedoch nicht auf die Künste, sondern auf eine durch Übung inkorporierte Ethik angewiesen ist. Kulturelle Bildung mit dem „Lernziel Lebenskunst“ muss dann entweder auf eine produktive ethische Dimension künstlerischer Praxis setzen – bedient sich so allerdings wiederum einer implizit technologischen Argumentationsfigur – oder den metaphorischen Charakter der Rede von „Lebenskunst“ ausblenden und daraus eine problematische ästhetische Grundverfasstheit menschlicher Praxis überhaupt deduzieren, die jegliche Bildung zu einer im Grunde ästhetischen Angelegenheit macht. Beide Wege werden in der Konzeptionalisierung Kultureller Bildung beschritten, wenn zum einen die „Unheiligkeit“ einer „Allianz“ zwischen Ethik und Ästhetik in Frage gestellt wird (Fuchs 2011a:123ff.) bzw. andererseits das „ästhetische Handeln […] in einem weiteren Sinn als jegliche Form von Tätigkeit“ gelten soll (Fuchs 2012b:155).
Drei Impulse aus der Kritischen Theorie
„Lebenskunst“ erweist sich aufgrund der dargelegten Problematiken insgesamt als zu fragwürdige konzeptionelle Grundlage Kultureller Bildung: Weder lässt sich damit spezifisch künstlerische Praxis überhaupt plausibel pädagogisch fundieren, noch zudem eine profilierte kritische Dimension dieser Praxis hinreichend verdeutlichen. Gerade beim Bemühen um diese Dimension jedoch könnte die Kritische Theorie in Gestalt der ästhetischen Reflexionen Theodor W. Adornos wichtige Impulse geben. Gewiss sind hierbei aufgrund der dort zugleich entfalteten fragwürdigen Orthodoxie im Hinblick auf einen tolerablen Kanon „großer Kunst“ deutliche pädagogische Vorbehalte anzumelden. Vor allem aber folgende Positionierungen Adornos, deren Weiterdenken keineswegs ein Bekenntnis zu seiner orthodoxen Kanonisierung voraussetzt, wären wichtige Korrektive einer sich an „Lebenskunst“ orientierenden Kulturellen Bildung: der empfindliche Vorbehalt gegenüber Ganzheitsansprüchen (1.), die konsequente Reflexion einer dialektischen Spannung zwischen Kunst und Leben (2.) sowie das entschiedene Zurückweisen eines technologischen Bildungsverständnisses (3.).
- Lebenskunst ist ein „integrativer“ Begriff. Gerade dann, wenn er mehr zu umfassen beansprucht als die ungestörte Pflege eines privaten Exerzitiums, zielt er auf das Ganze der Existenz und weist „Schrumpfformen des Lebensbegriffs in Wissenschaft, Philosophie und in der Praxis“ (Fuchs 2008:184) zurück. Damit stellt er gleichsam die Subjektseite des „integrativen“ Begriffs der „Kultur“ als der Gesamtheit aller Formen dar, in denen und durch die sich „gekonntes Leben“ zu bewähren hat. Aus Sicht der Kritischen Theorie wäre jedoch genau dieser pädagogische Totalitätsanspruch zu hinterfragen, weil sich in ihm eben jene „integrativen“ gesellschaftlichen Tendenzen abbilden, die noch das kritische Aufbegehren gegen ein scheinbar alternativloses Ganzes als dessen letztlich sinnvollen Bestandteil reklamieren und affirmativ umlenken. „Es geht nicht mehr um den Ausschluss des Widersprüchlichen aus dem Werk, das das Leben ist“ heißt es bei Schmid (Schmid 2014:77). Doch gerade die scheinbare Konzilianz dieser Formulierung macht deutlich, dass sie kein Außen des Werkes zulassen will. Denn sogar „[d]as Scheitern kann ein Bestandteil[!]“ sein (ebda.). Schmid geht hier sogar noch weiter als Foucault, in dessen Reflexionen ein Scheitern des Kunstwerks Leben gar nicht thematisiert wird.
Auf diesen Einwand der Kritischen Theorie müsste Kulturelle Bildung dabei keineswegs mit einer pädagogisch gewiss problematischen systematischen Destruktion von Gelingensvorstellungen des Lebens reagieren. Es geht Adornos Argumentation nicht um die zynische Zermürbung des Subjekts. Zu fragen wäre allerdings, inwieweit die Metapher von der Lebenskunst nicht einen impliziten integrativen Druck ausübt, der den Subjekten aufbürdet, „kunstvoll“ eine Totalität zu affirmieren, deren unversöhnte Widersprüche konsequent bewusst zu machen gerade Aufgabe einer von der Kritischen Theorie inspirierten Kulturellen Bildung wäre.
- Solcher Totalität würde im Rahmen Kultureller Bildung pädagogisch widersprochen, wenn diese die künstlerische Praxis gerade nicht undialektisch in das Ganze der Kultur „integrierte“, um Kunst und Leben dann auf der Subjektseite zu einer umfassenden Lebenskunst bzw. in einer umfassenden „Lebens-Kunst-Bildung“ (siehe: Hildegard Bockhorst „»Lernziel Lebenskunst« in der Kulturellen Bildung“) zu verschmelzen. Foucaults Hinweis auf den „Dandyismus des 19. Jahrhunderts“ (Foucault 2013:210) blendet historisch aus, wie verzweifelt und vergeblich sich etwa die Frühromantik um eine gelingende Vermittlung ästhetischer Erfahrungen mit den Ansprüchen eines aufgeklärten common sense bemüht (Zürner 2006). Diese Vergeblichkeit noch als grandios gescheitertes bzw. unvollendetes Kunstwerk zu bezeichnen oder die Ursache schlicht in einer realitätsfernen Überspanntheit frühromantischer Reflexion zu suchen, wäre in der Tat zynisch. Entschieden kritisch sich verstehende Kulturelle Bildung hätte im Gegenteil diese Tragik als eine in der Kunst sich zutragende prekäre Verknüpfung von „schärfste[m] Realitätsbewußtsein … mit Realitätsentfremdung“ (Adorno 1997:21) neu zu durchdenken und dürfte das Beharren der Ästhetischen Theorie auf einer dialektischen Spannung zwischen Kunst und Kultur bzw. Kunst und Leben nicht preisgeben. Als „autonom“ und „fait social“ (Adorno 1997:16 u. passim) versetzt künstlerische Praxis das künstlerische Subjekt in eine spezifische Position, aus der heraus „Kultur“ als geschichtlicher und gesellschaftlicher Kontext dieser Praxis bzw. das eigene „kulturell verfasste“ Leben zwar kritisch transparenter werden, damit aber noch lange nicht als „Materialien“ gekonnter ästhetischer Gestaltung gelten können. Kulturelle Bildung bleibt damit, auch wenn sie künstlerische Praxis vermittelt, primär Bildung eines kritischen Bewusstseins. Eben darin ist sie Allgemeinbildung, dass sie dieses Bewusstsein fördern will. Und darin ist sie Bildung, dass sie es gegen eine bildungspolitisch allerorten geforderte „Praxisrelevanz“ verteidigt.
- Mit Wahrung dieser dialektischen Spannung ist schließlich auch einem technologischen Verständnis Kultureller Bildung widersprochen, das auf die umfassende Wirksamkeit der Künste im Sinne von das Kulturganze umfassend fördernden Kulturtechniken bzw. von zur kunstvollen Bewältigung des Kulturganzen durch sie umfassend ausgestatteten Subjekten bedacht ist. Denn an die Stelle einer lerntheoretischen Fokussierung der Subjekte, die noch den existenziellen Vollzug des eigenen Lebens mit dokumentierbaren Kompetenzen verknüpft, hätte sich Kulturelle Bildung unter Rekurs auf Kritische Theorie mit dem Ziel einer reflektierten ästhetischen Subjektivität zu bescheiden, die sich ihrer Verortung in „Kultur“ bewusst wird und nach den Nähen und Fernen zu anderen Subjektformen etwa ethischer oder politischer Art fragt, ohne sich mit ihnen allerdings vorschnell zu identifizieren. Eine kritische Bildungsbedeutsamkeit des Ästhetischen lässt sich nur durch eine möglichst differenzierte Beschreibung und Bestimmung dieser spannungsvollen Konstellation, nicht im diffus „ganzheitlichen“ Amalgam einer Lebenskunst konkretisieren.
An die Stelle einer Technologie der Wirksamkeit künstlerischer Praxis hätte eine Hermeneutik dieser Praxis selbst jenseits von Effizienzpostulaten zu treten – eine kritische Hermeneutik, die dann allerdings danach fragen müsste, inwiefern nicht auch für die das ästhetische Subjekt konstituierenden künstlerischen Praktiken gilt, was Foucault den primär ethischen Praktiken einer Lebenskunst attestiert: dass sie „nicht etwas sind, was das Subjekt selbst erfindet“, sondern „Schemata, die es in seiner Kultur vorfindet und die ihm vorgegeben, von seiner Kultur, seiner Gesellschaft, seiner Gruppe aufgezwungen sind“ (Foucault 2013:266).