Kunstunterricht als Lernprozess, als kulturelle Orientierung, als ästhetische Sinnstiftung
Impulsbeitrag zur Auseinandersetzung mit der Frage „Kulturelle Bildung ohne Vermittler?“ im Rahmen der kubi-online Tagung „Streitfälle der Vermessung Kultureller Bildung“ im Juni 2014
Von der Bildungspolitik wird als Reaktion auf einseitige Betonung der sog. Pisa-Fächer die Stärkung der ästhetischen Bildung propagiert - die richtige Idee im Prinzip. Im Alltag verfügen aber zunehmend die künstlerisch-musikalischen Fächer über einen ausgesprochen engen zeitlichen Spielraum für ihre Vermittlung. Der in vielen Schularten und Jahrgangsstufen reduzierte, nur einstündige Unterricht, lässt zu wenig Freiheit für Techniken und Methoden. Anstatt aber die Stundentafeln zu Gunsten von mehr Kunst und kulturellen Fächern zu verbessern und der Marginalisierung der künstlerischen Bildung an den Schulen damit entgegenzuwirken, lautet die Lösung zum Ausstieg aus dem verengt gesehenen Schulübel: Künstler an die Schulen! Und Künstler sollen das leisten, was Aufgabe der Kunstlehrerinnen und Kunstlehrer war und ist.
Wenn Künstler an Schulen Furore mit Kunstprojekten machen, in denen ein außerordentlicher Zeitrahmen vorherrscht und der Personalschlüssel - kleine Gruppe von Kindern und Jugendlichen - deutlich günstiger ist, als im regulären Kunstunterricht, können die schulischen Kunstlehrer dies nicht nur positiv sehen.
Meinen Impulsbeitrag im Forum „Theorie: Kulturelle Bildung – Wo fängt sie an, wo hört sie auf“ zu der Streitfrage „Kulturelle Bildung ohne Vermittler?“ möchte ich mit einem Bild von Joseph Beuys beginnen. Das "Bild vom Künstler" als "Gesellschaftsreformer" ist wohl mit am einprägsamsten durch dieses Bild von 1971 im Gedächtnis der Rezeption verankert worden.
Die Aufnahme zeigt Beuys als „Mann von der Straße“, der in seiner damals bereits typischen „Arbeitskleidung“, Anglerweste über weißem Hemd und wadenhohen Stiefeln, den Betrachtern ebenso schwungvoll wie entschlossen entgegen schreitet. Mithin scheinen Habit und Habitus gleichermaßen zu signalisieren, was Beuys nicht nur „in Worten und Taten“ verfolgte, sondern eben auch in Persona zu verkörpern versprach: „La rivoluzione siamo Noi“; der Titel, der nunmehr zusammen mit dem Hauptstrom-Stempel und dem Namen des Künstlers gleich einer Signatur in der unteren Bildzone zu Füssen des Schreitenden erscheint.
Nicht nur diese mit Brechtscher Klarheit formulierte Botschaft legt die Frage nahe, welche Revolution der Künstler seinem Publikum zu bringen gedachte. Die Antwort muss an dieser Stelle unterbleiben. Allerdings lohnt die Edition mit dem einprägsamen Bild des Künstlers und der scheinbar eingängigen Formel in unserem Zusammenhang einen genaueren Blick.
Ausgangspunkt ist ein Foto, das Giancarlo Pancaldi im Hof der neapolitanischen Casa Orlandi arrangiert hatte, und das in seiner Bildgestaltung auf das berühmte Gemälde „Der vierte Stand“ (Il Quarto Stato) des piemontesischen Künstlers Giuseppe Pellizza da Volpedo Bezug nimmt. Das 293 cm × 545 cm (!) Bild des zeitgenössisch modernen Neoimpressionismus, im Jahr 1898 begonnen und 1901 fertiggestellt, beschwört eine kommende Präsenz und Erstarkung der Arbeiterbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
Der italienische Regisseur Bernardo Bertolucci verwendete das Gemälde im Vorspann seines 1976 produzierten zweiteiligen Monumental-Spielfilms 1900 (Novecento). Durch diese international erfolgreiche Kinoproduktion erhielt „Il Quarto Stato“ im Zuge der gesellschaftlichen Aufbruchbewegung Ende der sechziger Jahre, Anfang der siebziger Jahre zusätzliche Popularität. Der Poster-Nachdruck war als Wand-Dekoration gleichsam als Politikone in zahlreichen Haushalten insbesondere der linken und alternativen Szene verbreitet.
Wenn man davon ausgehen kann, dass die Assoziation mit dem Vor-Bild nicht nur dem Photographen, sondern auch Beuys selbst und - insbesondere in Italien - wohl auch einem Gutteil der potenziellen Adressaten bekannt war, ließe sich in Bezug auf das, was Pancaldi ins Bild brachte, in der Tat von einer „Aktion“ vor der und für die Kamera sprechen. Eine entsprechende „Performanz“ haben das photographische Resultat und das Plakat in jedem Fall entwickelt - wie nicht zuletzt die einschlägige Rezeption belegt, die La rivoluzione siamo Noi bis heute erfährt.
Allerdings beinhaltet Beuys' Version eines Signals auf den Aufbruch der Gesellschaft, zumal dann, wenn es sich um ein „Re-Enactment“ des historischen Gemäldes handeln sollte, eine entscheidende Differenz. Das Bild unterscheidet sich nämlich in einem durchaus bedeutsamen Detail von Volpedos Bild: In der Photographie fehlt nicht nur die geschlossen voranschreitende Menge, die sich im Hintergrund von „Il Quarto stato“ formiert. Während es auf dem Gemälde mehrere Figuren sind, die in vorderster Front gehen, steht für das Noi, das auch im Schriftzug des bearbeiteten Fotos bezeichnenderweise groß geschrieben ist, ein Einziger: „Er ist ein Revolutionär neuen Typs, ein Revolutionär, der kein Manifest einer wie auch immer gearteten politischen Bewegung verkündet, sondern als Programm lediglich die erste Person Plural mit sich führt." (Blume 1999:181 f.)
Unabhängig davon, ob man in diesen Aktivitäten eine mit künstlerischen Mitteln verfolgte politische Utopie oder - wie von kritischer Seite eingewendet - lediglich eine auf den Zeitgeist reagierende Strategie erkennen oder bloß eine hohle Geste sieht, gilt es dreierlei festzuhalten. Zunächst einmal hatte Beuys im Rahmen seiner dezidiert politisch annoncierten Manifestationen stets betont, dass er die Kunst als den einzigen gangbaren Weg einer Politik begreife und diesen Weg selbst gleichwohl als exemplarisch Handelnder beschreite, um mit revolutionären Mittel revolutionäre Ziele zu erreichen.
Schritte, die der Mensch als Einzelner, aus den eigenen Mitteln und Kräften heraus gehen müsse, so wie (im Bild oben) Christus als guter Hirte oder Pantokrator: Pathosformeln, die Beuys mit der borsa a trocolla oder strenger enface - Ansicht (Foto siehe unten) evoziert.
Albrecht Dürer: Selbstbildnis im Pelzrock, 1500, Öl auf Holz, 67 × 49 cm, Alte Pinakothek München.
Eine Beuys ähnliche „Ideologie“ vermittelt das folgende Zitat des ehemaligen NRW Staatssekretärs für Kultur, Hans-Heinrich Grosse-Brockhoff: „Bildungspolitik ist heute offensichtlich nicht in der Lage ist - und schon gar nicht Bildungsbürokratie und Bildungsverwaltung -, der Kunst einen anderen Stellenwert zu geben und Bildung wieder ganzheitlich zu begreifen. Wir haben uns gesagt, das geht nur, indem wir - und jetzt werde ich wahrscheinlich viele von Ihnen beleidigen - nicht auf die wenigen engagierten Kunst- und Musiklehrer in den Schulen setzen. Das würde nicht funktionieren, weil sie es in der Schule viel zu schwer haben. Stattdessen müssten wir das Feld von hinten aufrollen, nämlich über die Künstler. Sie haben vielleicht noch in der eigenen Schulausbildung die entsetzliche Form der Didaktisierung, der Über-Didaktisierung von Kunst und Musik am eigenen Leibe gespürt. Deshalb haben wir gesagt, das Feld müssen wir den Künstlern und Künstlerinnen im Lande überlassen. Wir müssen sie aktivieren, dann werden sie schon die Schule verändern, ja, sie werden die Gesellschaft verändern.“ (Grosse-Brockhoff 2009: 13ff.)
In diesem Zitat gelangen nahezu wahnhafte, Künstler zu quasi schulischen und sozialen Heilsbringern verklärende Vorstellungen zum Ausdruck. Mögen Künstler auch die Gesellschaft verändern, die Schule verändern sie jedenfalls nicht. Schule veränderte sich - im positiven Sinne - mit bildungspolitisch neu gesetzten Rahmenbedingungen, z.B. dann, wenn schulische Konditionen es zulassen, dass Lehrer über wesentlich mehr Zeit als bisher verfügen, um sich im Sinne individueller Förderungen um einzelne Schüler kümmern zu können. Mit der Kollegenschelte überschreitet ein verantwortlicher Politiker nicht nur deutlich die Grenze zur Diskriminierung, darüber hinaus markiert Grosse-Brockhoffs radikale Außensicht deutlich den Graben zwischen den Systemen und macht die Notwendigkeit einer genauen Zielbestimmung des Einsatzes von Künstlern in der Schule deutlich. Einfach auf das „Auratische des Künstlers“ vertrauen, erscheint mehr als fragwürdig (vgl. Niehoff 2011:330).
Deutlich wird aber einmal mehr, dass die Bedeutung der „Kunst“ im Vermittlungszusammenhang von Kunstpädagogen und freischaffenden Künstlern nicht wirklich deckungsgleich gesehen wird. Das Problem ist nicht neu, betrifft aber den Kern des Vermittlungsgeschäftes und wird deshalb gerne im Ungefähren belassen. Soll Kunstvermittlung der Kunst dienen und nur zur Kunst hinführen oder liegt ihr Sinn und Zweck außerhalb ihrer selbst, in ihrer allgemeineren Ertüchtigung des Menschen, in ihrem Transferpotenzial im Hinblick auf andere Lebens- und Kompetenzbereiche?
Der tiefere Sinn der Beschäftigung mit „Kunst“ mag für eine Mehrzahl der Heranwachsenden schlicht darin liegen, für den Selbstausdruck vielfältige, intensive Formen der Darstellung zu entdecken, kennenzulernen und darüber verfügen zu können. Aus Sicht des Pädagogen im Kunstlehrer mag es zudem darum gehen, kulturelle Bildungserlebnisse eng mit einer Klärung von Wirklichkeit, mit der deutlichen Stärkung der Fähigkeit, mit sich selbst umzugehen, mit gelingender Sinnproduktion und klarer Werteorientierung zu verbinden. Für freischaffende Künstler mag es vor allem darum gehen, die eigene Faszination, die unverwechselbar eigene künstlerische Sicht der Welt und ihre gestalterische Auseinandersetzung mit den Dingen des Lebens zu vermitteln. Für sie sind Schule und das Schulfach Kunst fremde, ja zuweilen befremdliche Kontexte, die sie mit viel Idealismus für die selbst gewählte Aufgabe vor Ort akzeptieren lernen, kaum aber verändern können. Künstler bleiben auch deshalb wesentlich näher bei sich - und können gerade auf diese Weise eine wertvolle, weil eigentümliche Botschaft an die Heranwachsenden vermitteln - oder auf ihrem Potenzial unverstanden sitzen bleiben.
Die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen erfordert immer ein pädagogisches Konzept. In einigen Fällen, insbesondere bei einem Profi-Lernort außerhalb der Schule, ist die Faszination des Unterrichtsgegenstandes so groß, dass spontan eine intrinsische Motivation entsteht; aber auch diese muss pädagogisch weitergeführt werden, wenn ein nachhaltiges Engagement und ein Lernerfolg erzielt werden sollen. Selten genug formulieren Künstler ihre pädagogischen Ansichten. Viele sind auch der Meinung, das Einbringen ihrer Künstlerpersönlichkeit genüge als Konzept. Schmerzlich müssen deshalb viele Teilnehmer an den spezifischen Programmen in den Bundesländern immer wieder erfahren, dass dem nicht so ist und sich das System Schule von einer künstlerischen Arbeit unterscheidet.
Kunstvermittlung, soviel wird erneut deutlich, ist in diesem weiter gesteckten Rahmen eine hochkomplexe, anspruchsvolle Aufgabe. Sie fordert von den verantwortlichen Kunstvermittlern neben professioneller Fach- und Methodenkompetenz selbstverständlich auch ein hohes Maß an Selbst- und Sozialkompetenz und Organisationstalent. Insbesondere geistige Wendigkeit, Glaubwürdigkeit, Begeisterungsfähigkeit, Einfühlungsvermögen und nicht zuletzt Frustrationstoleranz und Ausdauer sollten interne und externe Kooperationspartner also mitbringen, denn ohne diese Kompetenzen oder gar von selbst geht in einem Kooperationsprojekt im Kontext Schule meist nicht viel zusammen.
Andererseits werden sehr hohe Erwartungen an das Fach gestellt. Das Fach Kunst umfasst den gesamten Bereich der Kunstgeschichte als historische Wissenschaft, soll Wahrnehmungstheorie und Medienkompetenz vermitteln, über Selbstreflexionsprozesse Identifikationsmuster reflektieren, und in den Bereichen Malerei, Grafik, Fotografie, Performance und Multimedia arbeiten mit dem Ziel, Gestaltungskompetenzen zu erweitern. Darüber hinaus erwarten die Schulleitungen öffentliche Ausstellungen und Schulgebäudegestaltungen von den Kunstlehrern. Das Berufsbild eines Kunstlehrers ist also von dem eines hochgradig spezialisierten Künstlers, der in der Regel eines oder wenige Verfahren in seiner Produktion anwendet, zu unterscheiden. Grundsätzlich ist deshalb der Einsatz eines Künstlers als Experte für bestimmte künstlerische Verfahren sinnvoll, kann aber keinen Ersatz für den Kunstunterricht darstellen.
Wie nachhaltig zeigen sich die erfahrenen künstlerischen Prozesse? Initiieren sie einen Zuwachs an Erkenntnis im Sinne von Selbstbildung und Selbstausdruck, die sich längerfristig entwickeln und ausformen werden? Welche Kompetenzen werden vermittelt - soziale, bildnerisch-künstlerische, kognitive oder eine Sensibilisierung der Aisthesis? Zuweilen gepriesene Beispiele von künstlerischen Kooperationen, die wie ein Strohfeuer herausleuchten und von der selten spendablen Politik gerne auch als Blendwerk und freundliche Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für schlecht bezahlte Künstler eingesetzt werden, sollten mit sezierendem Blick betrachtet werden. Wenn das Feuerwerk erloschen ist, bleibt die Frage nach dem Ertrag - Ertrag als Zuwachs bei den Schülerinnen und Schülern und auch zugunsten einer dauerhaften Veränderung der Strukturen in der Schule.
Das Zusammentreffen von Künstlern und Schulen mündet nicht selbstverständlich in fruchtbare künstlerische Arbeit, die alle Beteiligten zu neuen Fähigkeiten und Einsichten führt. Die Zusammenarbeit braucht notwendig Voraussetzungen wie gegenseitigen Respekt, Wertschätzung der spezifischen Fähigkeiten und das Wissen um die strukturellen Bedingungen, in denen der schulische Kooperationspartner operiert. Der in vielen Schularten und Jahrgangsstufen reduzierte, nur einstündige Unterricht, lässt zu wenig Freiheit für Techniken und Methoden. Ein gymnasialer bayerischer Kunstlehrer unterrichtet bis zu 600 Schülerinnen und Schüler in der Woche - wie viel Energie und Zeit bleibt da für Kunstprojekte, die er oder sie eigentlich gerne durchführen würde? Von der Bildungspolitik wird in Reaktion auf einseitige Betonung der kognitiven Fächer die Stärkung der ästhetischen Bildung propagiert - die richtige Idee im Prinzip. Anstatt aber die Stundentafeln zu Gunsten von mehr Kunst und kulturellen Fächern zu verbessern und der Marginalisierung der künstlerischen Bildung an den Schulen damit entgegenzuwirken, lautet die Lösung zum Ausstieg aus dem zu einseitigen Schulübel: Künstler an die Schulen! Und Künstler sollen das leisten, was Aufgabe der Kunstlehrerinnen und Kunstlehrer war und ist. Wenn Künstler an Schulen Furore mit Kunstprojekten machen, in denen ein außerordentlicher Zeitrahmen vorherrscht und der Personalschlüssel - kleine Gruppe von Kindern und Jugendlichen - deutlich günstiger ist, als im regulären Kunstunterricht, können die schulischen Kunstlehrer dies nicht nur positiv sehen. Die Einbindung eines Künstlers im schulischen Zusammenhang bedarf also eines Kooperationskonzeptes.