Kunstfreiheit und Kunstautonomie – Facetten einer komplexen Leitformel
Problemstellung
Eigentlich dürfte es kein Problem bei der Betrachtung des Zusammenhangs von Kunst und Freiheit geben. Denn Artikel 5 des deutschen Grundgesetzes (GG) lautet lapidar: „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei“. In der Auslegung dieses Artikels versteht man diesen nicht bloß als klassisches Abwehrrecht, das das bürgerliche Individuum gegen willkürliche Eingriffe des Staates schützt, so wie es das ursprüngliche Anliegen der Grund- und Menschenrechte in der Geschichte war. Das Bundesverfassungsgericht interpretierte diesen Artikel sogar als Aufforderung an die öffentliche Hand, Kunst (und KünstlerInnen) finanziell zu fördern. Unabhängig von der Frage, ob es nicht zu Spannungen zwischen Grundrechten kommen kann, wenn etwa künstlerische Werke die Persönlichkeitsrechte anderer tangieren (oder sogar deren Menschenwürde – Art. 1 GG – verletzen), verschwindet das scheinbar Unproblematische an der Frage nach der „Freiheit der Kunst“, wenn man sich auf differenzierende Fragestellungen einlässt. So kann man fragen: Wer oder was sollen eigentlich frei sein: Das Werk, der Künstler, der Schaffensprozess, der Verwertungsprozess, die Rezeption, die Einrichtung, in der das Werk geschaffen bzw. aufgeführt wird?
Man muss zudem das Bedeutungsfeld von „Freiheit“ anschauen, also auch solche Begriffe hinzuziehen, die einen ähnlichen Inhalt haben. Im Bereich der Künste ist dies der Begriff der Autonomie. Wörtlich bedeutet er „Selbstgesetzgebung“, sodass man auch hier analog fragen kann: Wer oder was gibt sich die Gesetze? Mit welcher Legitimation geschieht dies? Wer muss sie befolgen? Gibt es Sanktionen bei Nichtbefolgung? Man wird sich zudem fragen, seit wann man nicht nur von Künsten oder sogar nur von dem Pluralbegriff „Kunst“ spricht – und in welchen Teilen der Erde dies geschieht –, sondern auch seit wann dies geschieht und seit wann man eine solche „Kunst“ mit Freiheit und Autonomie in Verbindung bringt. Und falls sich dies beantworten lässt, man also Entstehungszeit und -ort des Topos der Kunstfreiheit angeben kann, muss man sich die Frage stellen, wieso man dafür universelle Geltung beansprucht. Man stellt zudem fest, dass es sehr unterschiedliche Diskurse sind, in denen von Kunstfreiheit gesprochen wird. Ein juristischer Zusammenhang war unser Einstieg. Verfassungen sind jedoch auch politische Texte, sodass auch mit einem politischen Diskurs zu rechnen ist. Die Geschichtswissenschaft ist in Hinblick auf die Genealogie des Begriffs relevant. Und natürlich handeln die Kunstwissenschaften und die Ästhetik darüber. Es lohnt sich also, die Diskurse zu sortieren und zumindest einige näher zu betrachten. Hilfreich ist dabei, „Kunstfreiheit“ oder „Kunstautonomie“ als Leitformeln zu betrachten. Denn eine – zumindest in Ansätzen existierende – Theorie solcher Kernbausteine einer öffentlichen Kommunikation (Fuchs 2010) kann dabei helfen, Dimensionen, Ebenen und Facetten der Begrifflichkeit auszuleuchten.
Autonomie als Kampf um das Deutungsrecht
Plato kämpfte aus gutem Grund dafür, das Theater in der Polis zu verbieten. Denn seine Vision war, dass die neue Berufsgruppe der Philosophen, wenn sie nicht schon gleich die Polis als Könige regieren konnte, so doch zumindest ein privilegiertes Deutungsrecht für gesellschaftliche Verhältnisse haben sollte. Und genau dies machten die Stückeschreiber ihnen streitig: Lieber schauten sich die Bürger tragische Aktionen der Schauspieler an, als dass sie den umständlichen Erörterungen der neuen Weltdeuter zuhörten – die zudem ständig im Streit untereinander waren. Im Mittelalter kämpfte man dann gegen eine theologisch-religiöse Bevormundung der Philosophie. Die neuen Naturwissenschaften wollten später weder von der Theologie noch von der Philosophie Vorschriften für ihre Forschungen bekommen. Im 19. Jh. gab es Streit zwischen den Geistes- und den Naturwissenschaften um das Deutungsrecht. Als Deutungsmacht entstand dann auch noch die Soziologie (Fuchs 2011b). Heute gibt es einen Streit über die jeweilige Leitwissenschaft: Mal war es die Kybernetik, dann waren es die Lebenswissenschaften, heute sind es die Neurowissenschaften, die den Ton angeben. Und im politischen Geschäft kann man sich kaum der Dominanz des ökonomischen Denkens erwehren. Neu ist also der Kampf um Eigenständigkeit und Autonomie von Reflexionsbereichen nicht. Und dieser Streit war oft genug verbunden mit einem Ringen um ein privilegiertes Deutungsrecht. Dies gilt auch für die Ästhetik und die Künste. Hierbei geht es um mindestens zwei Fragekomplexe: Zum einen geht es um das Reflexionsfeld rund um das Schöne. Alexander Baumgarten „erfand“ geradezu als neue philosophische Disziplin die Ästhetik, zumindest gab er diesem Feld den Namen. Dabei war die Nähe zum griechischen aisthesis Absicht: Denn es ging ihm (auch) um die Rehabilitation der sinnlichen Erkenntnis. Dies wiederum war kurze Zeit später bereits der entscheidende Grund für Immanuel Kant, sich von Baumgarten zu distanzieren: Das Ästhetische sollte gerade nicht als spezifische Erkenntnisweise betrachtet werden. Ein zweites Anliegen Baumgartens war die Zusammenführung der Diskurse über Bildende Kunst, Musik und Dichtung unter einem einheitlichen Kunstbegriff. Bei beidem war er nicht der erste. Englische Philosophen machten schon vor ihm die Sinne gegen einen kontinentalen Rationalismus stark (John Locke gegen René Descartes und später gegen Gottfried Wilhelm Leibniz). Französische Kunsttheoretiker wiederum versuchten, alle Künste auf ein einziges Prinzip, nämlich das der Mimesis zurückzuführen. Die Ästhetik als eigenständige philosophische Disziplin existierte dann also. Doch sehr lange glaubte auch Kant nicht daran, dass dieses Feld seinen Ansprüchen an eine transzendental vorgehende Philosophie genügen könnte, nämlich synthetische Urteile a priori aussprechen zu können. Als letzte seiner Kritiken veröffentlichte er 1790 seine Kritik der Urteilskraft. Die Umsetzung seiner „kopernikanischen Wende“ bestand auch in diesem Feld darin, dass es nicht objektive Gegenstandsqualitäten sind, auf die sich ästhetische Urteile beziehen. Es sind auch nicht – wie bei den englischen Ästhetikern des 17. und 18. Jh.s – rein psychologische Befunde: Gefühle der Lust und der Unlust als Basis solcher Urteile werden vielmehr dadurch ausgelöst, dass unser System von Vermögen – er hat deren Anzahl erheblich reduziert – angemessen und harmonisch auf den Mikrokosmos wohlgestalteter Kunstwerke reagiert. Der Mensch erlebt lustvoll, dass seine geistige Ausstattung auf Strukturen der Welt passt. Und dies gelingt nur dann, wenn keine äußeren Einflüsse sowohl das Zusammenspiel der Formen im Werk, als auch das freie Spiel der Kräfte stören. Die „Autonomie der Kunst“ wird hier eingeführt als notwendiges Konstruktionsprinzip in einer philosophischen Architektur.
„Autonomie“ hat aber auch eine weitere, nämlich unmittelbar praxisbezogene Dimension, deren Beginn man in der Renaissance sieht (vgl. Müller in Müller u.a. 1972:9ff.): die Freistellung des Künstlers und seines Schaffens „von einer materiellen und feudali-deologischen Bindung“ (ebd.). Bis tief ins 19. Jh. mussten Künstler aller Sparten hinnehmen, dass sich Auftraggeber ungeniert in die künstlerische Produktion einmischten – allerdings: Diese konnten es auch, denn sie waren oft sachkundige „Amateure“ (im Sinne von amare: lieben). Heute weiß man, dass dabei der Hofkünstler erhebliche Freiheiten besaß. Seit der Renaissance gab es dabei in allen Sparten Bemühungen, sich bloß ästhetischen Kriterien verpflichtet zu fühlen. In Theater und Literatur versuchte man zudem, ohne einen weiteren Brotberuf bzw. ohne Zugeständnisse an ein Publikum zu schreiben bzw. ein Theater zu führen (Gotthold Ephraim Lessings Versuche in Hamburg sind eines der bekanntesten Beispiele). Es gelang – letztlich bis heute – nur sehr wenigen. Man erinnere sich, dass selbst die bedeutendsten Künstler wie Johann Wolfgang von Goethe oder Friedrich Schiller nicht von ihrer Kunst leben konnten und einen „Brotberuf“ brauchten. Eine andere Frage betrifft nicht das Einzelschicksal von KünstlerInnen, sondern die Genese eines künstlerischen Feldes. Die Moderne – so zumindest die verbreitete Meinung – bedeutet einen Wandel von einer Ständegesellschaft hin zu einer funktional differenzierten Gesellschaft: Es entstehen immer mehr teilautonome Gesellschaftsbereiche, die nach bereichsspezifischen Regeln funktionieren. Man hat daher untersucht, wie dieser Prozess der gesellschaftlichen Modernisierung in verschiedenen künstlerischen Feldern verlief. Pierre Bourdieu (1999) zeigte dies am Beispiel der französischen Literatur im 19. Jh., wobei Gustave Flaubert die entscheidende Persönlichkeit war. Hierbei zeigt es sich, dass nicht ein Einzelner, sondern eine Gemeinschaft bereichsspezifische Regeln definiert. Zur Erinnerung: Der romantische Geniebegriff wurde dadurch bestimmt, dass nur ein Genie sich selbst die Regeln seiner Produktivität gibt. Dagegen sprechen zeitgenössische Kunsttheorien davon (etwa Peter Bürger oder Arthur Danto), dass im Kunstbetrieb jeweils gültige Regeln performativ entstehen.
Kunstautonomie – so eine Zwischenbilanz – kann also verschiedenes bezeichnen:
>> die Emanzipation eines Feldes;
>> die Abwehr von der Bevormundung eines einzelnen Künstlers;
>> den Kampf um das Deutungsrecht;
>> die Möglichkeit, sich ohne Störung bei gesicherter Existenz um die Kunst zu kümmern;
>> den Schutz der Kunst und des Künstlers vor staatlichen Eingriffen;
>> die innertheoretische Architektonik eines speziellen philosophischen Systems.
„Kunstautonomie“ ist also gleichzeitig ein theorieimmanenter, ein berufssoziologischer, ein sozialer, ein politischer und natürlich auch ein ästhetischer Begriff mit einer historischen Dynamik. Dabei ist zu berücksichtigen, dass mit der Existenz eines „autonomen“ künstlerischen Feldes der Streit um die Selbstgesetzgebung innerhalb dieses Feldes nicht nur nicht beigelegt ist, sondern vielmehr eine neue Schwungkraft erhält: Denn dann kämpfen KünstlerInnen und Künstlergruppen darum, sich mit ihrer Kunst (und ihrem jeweiligen expliziten oder impliziten Kunstbegriff) gegenüber anderen durchzusetzen.
In der historischen Perspektive sind zudem nationale Besonderheiten zu berücksichtigen. Es sind dabei nicht bloß realgeschichtlich die Entwicklungen der sozialen Felder der verschiedenen Künste – sowohl in Hinblick auf die verschiedenen Künste in demselben Land als auch im Vergleich zwischen verschiedenen Ländern – höchst unterschiedlich, auch die Begrifflichkeiten sind zum Teil unterschiedlich bzw. bei Verwendung derselben Worte von unterschiedlicher Relevanz. So diskutierten seinerzeit junge Kunsthistoriker (Müller u.a. 1972) – alle wurden später veritable Lehrstuhlinhaber – Kunstautonomie als „bürgerliche Kategorie“, sahen also ebenso wie Bürger (1983) einen politisch-sozialen Zusammenhang zwischen dem Konzept der Kunstautonomie und politisch-gesellschaftlichen Prozessen, den eine rein immanente philosophiegeschichtliche Analyse nicht offen legt. Dass ein solcher Ansatz, der regionale Besonderheiten und Kontexte in Rechnung stellt, auch heute noch Relevanz hat, konnte man an der documenta XI unter der Leitung von Okwui Enwezor sehen. Die Kunstausstellung in Kassel war dabei nur die fünfte Etappe eines internationalen politischen (!) Diskurses, der sehr stark von theoretischen Ansätzen des Postkolonialismus geprägt war (siehe documenta 2002). Die Kategorie der Kunstautonomie wäre hier kaum angemessen bei der Beurteilung der ausgestellten Werke, da es sehr stark um die Freiheit der Menschen ging, deren Fehlen – oft sogar ungeniert plakativ – verhandelt wurde. Ähnliche Erfahrungen konnte man bei nichtwestlichen Teilnehmern bei der 2. UNESCO-Weltkonferenz zu arts education im Jahre 2010 in Seoul machen.
Freiheit und Autonomie – Begriffe der Kunsttheorie?
Gleichgültig ob man den Einzelkünstler oder ein gesellschaftliches Feld betrachtet: Sich selber Gesetze des Handelns zu geben kann sich sinnvollerweise nur auf Menschen beziehen. In der Tat macht dies in anthropologischen Ansätzen auch ein Charakteristikum des Menschseins aus (Gerhardt 1999). Selbstgesetzgebung in der Kunst ist dann lediglich ein spezifischer Anwendungsfall einer allgemeiner zu verstehenden Autonomie. Und diese gehört zunächst einmal nicht in das Feld der Ästhetik und der Künste, sondern in den Bereich der praktischen Philosophie, genauer: zur Ethik und zur Moralphilosophie. In der Tat lässt sich die Geschichte der Ethik unter diesem Leitbegriff schreiben. Wie ist daher das Verhältnis zwischen der Autonomie der Menschen als Problem der Ethik und der Kunstautonomie? Denn es geht in der Geschichte dieses Topos wesentlich um einen Streit über die politische oder moralische Aufladung ästhetischer Prozesse. Bekanntlich hat der junge Schiller noch das Theater als moralische Anstalt beschrieben, während er nach seiner Kant-Lektüre in den 1790er Jahren die Autonomie der Künste fordert. Aber auch dann stolpert man über Redeweisen wie „Schönheit als Freiheit in der Erscheinung“ oder wie den berühmten § 59 „Von der Schönheit als Symbol der Sittlichkeit“ (in der Kritik der Urteilskraft). Immerhin wiederholt Kant in diesem Paragrafen wesentliche, vorher systematisch entwickelte Bestimmungen:
>> das Schöne gefällt unmittelbar (ohne Begriff);
>> es gefällt ohne alles Interesse;
>> die Freiheit (!) der Einbildungskraft wird in der Beurteilung des Schönen mit der Gesetzmäßigkeit des Verstandes als einstimmig vorgestellt.
„Freiheit“ meint hier also das freie Spiel der inneren Kräfte des Menschen, die Feststellung, dass die Kräfte (Einbildungskraft und Verstand) in der Reaktion auf die Rezeption eines Kunstwerkes zueinander passen und dies das Subjekt als lustvoll erlebt: Es geht also um das „Passen“ des Subjekts in die Welt als Grundlage für dessen Freiheit. Bei Schiller wird später die Lust an der zweckfreien künstlerischen Gestaltung, die Lust an der künstlerischen Freiheit also, die Grundlage für die Hoffnung, die lustvoll erlebte Bereichs-Freiheit auszudehnen auf die Gestaltung der Gesellschaft. Die Autonomie der Künste, verstanden als Freiheit von außerkünstlerischen Einflüssen, ist daher die Grundlage für die politische Freiheit. Man könnte dies durchaus als Instrumentalisierung der Autonomie bezeichnen.
Auch in der Sozialgeschichte des Bürgertums im 19. Jh. spielte die „autonome Kunst“ eine wichtige Rolle. Denn das in Deutschland chronisch erfolglose Bürgertum brauchte geradezu als identitätsstiftenden Bereich ein eigenes Betätigungsfeld. Der Historiker Thomas Nipperdey (1990) zeigt eindrucksvoll in seiner Geschichte des 19. Jh.s, wie ein ständig weiter ausgebautes System von Einrichtungen, in denen diese „autonome Kunst“ gepflegt wird, diese Rolle der Identitätsstiftung übernommen hat. Die „reichste Theater- und Museumslandschaft der Welt“ in Deutschland hat hierin ihren Ursprung. Diese identitätsstiftende Funktion des Kunstbereichs beschreibt auch Richard Münch (1986:824f.):
„Die hohe Kultur von Literatur, Musik, Bildender Kunst und Schauspiel ist eine Sache der Eingeweihten, von der die Masse der Bevölkerung ausgeschlossen bleibt. Unverständlichkeit für den Durchschnittsbürger und leere Reihen im Schauspielhaus gelten hier als gute Zeichen hoher Kultur. Ungleichheit der kulturellen Teilnahme ist eine Tradition, die so fest eingewurzelt ist, dass sie als ebenso selbstverständlich hingenommen wird wie die kräftige Subventionierung einer reinen Intellektuellenkultur durch Steuergelder von eben jener Masse der Bevölkerung, auf deren Unverständnis für die angebotene Kultur der Künstler sich noch etwas einbildet.“
Man wird kaum sagen können, dass sich seit dieser Analyse vor 30 Jahren etwas wesentlich verändert hat.
Dieser besondere historische Entwicklungsweg in Deutschland (vgl. Plessner 1974) hat auch Einfluss auf die politisch-soziale Sprache. In seiner praktischen Philosophie begründet Kant die Forderung, dass der Mensch niemals Mittel für einen Zweck sein dürfe, der außer ihm liegt. Dies macht die moralphilosophische Bedeutung seiner Autonomie aus. Dieser Ansatz steht in einer spezifischen Traditionslinie. In einem historischen Vergleich vierer westlicher Länder hat Münch (1986) – durchaus kompatibel mit den Analysen, die Helmut Plessner (1974) 50 Jahre vor ihm durchgeführt hat – die Besonderheit des deutschen Freiheitsverständnisses herausgearbeitet: Freiheit als Kernbegriff der politisch-sozialen Sprache (vgl. Conze 2004) meint in der deutschen (von Martin Luther geprägten) Tradition weniger die (äußere) politische oder ökonomische Freiheit (wie in England oder den USA), sondern vielmehr die innere Freiheit:
„Über allen Differenzierungen des Freiheitsverständnisses steht ein heroischer Individualismus der inneren Freiheit, der Individualität und Universalität zur Identität bringt und nur in der Einsamkeit außerhalb der Gesellschaft verwirklicht werden kann“ (ebd.:816).
Auch in einer weiteren Perspektive ist der Zusammenhang zwischen der Funktionalität des Ästhetischen und seiner Autonomie zumindest dialektisch. Volker Gerhardt weist darauf hin, dass es kein Zufall ist, dass – bis auf wenige Ausnahmen – in philosophischen Systemen der Baustein „Ästhetik“ zuletzt eingefügt wird: Er sieht eine systematische Ursache darin, dass ein eigenes Bewusstsein für das Schöne erst dann aufkomme, wenn man zur Selbständigkeit des eigenen Handelns entwickelt sei (Gerhardt 2000:212). Der Mensch müsse selbständig entscheiden und handeln können, um für ästhetische Reize empfänglich zu sein. Moralphilosophische Autonomie wäre dann die unverzichtbare Grundlage für ästhetische Autonomie, der Mensch als Ästhet somit nur zu verantworten, wenn er zuvor ein ethisches Bewusstsein entwickelt hat. Andererseits kann dem handlungsfähigen Menschen das Ästhetische dabei helfen, ethische Probleme zu lösen (Fuchs 2011a:Kap.4). Dass das ästhetische (autonome) Erlebnis den Menschen in seinem Willen zur Freiheit stärkt, beschreibt der Musiker und Psychologe Klaus Holzkamp in Bezug auf Musik:
„So gesehen sind in vorfindlicher Musik stets auf irgendeine Weise Möglichkeiten zur Bewältigung, Gestaltung, Steigerung subjektiver Befindlichkeit historisch kumuliert. Im Vollzug der musikalischen Bewegung hebt sich in meinem Befinden das Wesentliche, Überdauernde, Typische gegenüber deren bloßen Zufälligkeiten und Zerstreutheiten meines Befindens heraus […]. Meine eigene Befindlichkeit tritt mir in der Musik in überhöhter, verallgemeinerter, verdichteter Form entgegen, ohne dass dabei die sinnlich-körperliche Unmittelbarkeit meiner Betroffenheit reduziert wäre […]. Ich mag aber über die Musik […] eine neue Distanz zu meinen aktuellen emotionalen Lebensäußerungen gewinnen, wobei diese Distanz nicht nur „kognitiver“ Art ist, sondern ihre eigene unverwechselbare Erfahrungsqualität gewinnt: Als „innere Ruhe“, Übersicht, Gelassenheit, bis hin zur kontemplativen Versunkenheit als Gegenpol zu musikalischer Extase. In jedem Fall gewinne ich aber über die Musik eine neue Freiheit und Unabhängigkeit gegenüber den Anfechtungen und Wirrnissen des Naheliegenden – ändere ich durch meine Ergriffenheit von Musik, die mir keiner wegnehmen oder ausreden kann, mich selbst, meine Lebendigkeit, meine widerständige Präsenz in dieser Welt, quasi in reiner und gesteigerter Form erfahre, bin ich – mindestens vorübergehend – weniger bestechlich und nicht mehr so leicht einzuschüchtern“ (Holzkamp 1993:70).
Der Mensch kann also im Umgang mit den Künsten stärker werden, an Souveränität gewinnen. Offenbar gelingt dies – so die Visionen von Schiller bis Holzkamp – besonders gut in einer handlungsentlasteten Situation, mit „autonomen“ Künsten. Wenn an starken selbstbewussten Menschen gelegen ist und daher das Interesse besteht, den Souveränitätsgewinn durch einen Umgang mit Kunst zu erreichen: Was nützt in dieser Situation die Redewendung von Kunstautonomie?
Letztlich geht es nicht um das Abstraktum Kunst und deren Autonomie, sondern es geht um die Autonomie des Menschen. Von Kant bis zu Theorien der ästhetischen Erfahrung (siehe Ursula Brandstätter „Ästhetische Erfahrung“) der Gegenwart geht man davon aus, dass sich im Umgang mit den Künsten der Mensch in seinen Möglichkeiten entdeckt und entwickelt. Was bedeutet dies für das Konzept der „Kunstautonomie“? Natürlich gehören Eigensinn der Künste und Handlungsentlastung der künstlerischen Tätigkeit zu den Standardtopoi im Kunstbereich. Doch ist auch folgendes zu bedenken: „Der ästhetische Begriff Autonomie bleibt auf den engen Bereich der deutschen „Kunstperiode“ zwischen Weimarer Klassik und Romantik beschränkt und tritt selbst da nur bei Kant, Schiller, Friedrich Wilhelm Schelling und August Wilhelm Schlegel auf“ (Wolfzettel/Einfalt 2000:432). Dieser historische Kontext zeigt zudem, dass man die Wirkungsgeschichte des Begriffs kaum versteht, wenn man nicht gleichzeitig die Debatte über „Kunstreligion“ und insgesamt die Sakralisierung des Künstlerischen im frühen 19. Jh. einbezieht. Zu diesem Zugang gehört dann auch, die Umwandlung des Autonomiegedankens in die l’Art pour l’Art-Bewegung zu berücksichtigen. Insgesamt kann dieser ganze Prozess kaum verstanden werden, wenn man ihn von der Entwicklung der Moderne – vor allem den bereits früh erkannten Pathologien der Moderne – loslöst. Auch in der Selbstbeschreibung von KünstlerInnen wird der Begriff kaum verwendet. Eine verbreitete Nutzung gibt es heute lediglich in der Kulturpolitik und in der Kulturpädagogik. Könnte es daher sein, dass es sich bei seiner Verwendung lediglich um Selbstvergewisserungs- und Legitimationsrituale handelt und daher eher eine ideologiegeschichtliche Untersuchung angebracht wäre?