Kunst macht Schule
Möglicherweise irritiert der Titel dieses Beitrages. Denn eigentlich hält man es eher für selbstverständlich, dass die Schule Kunst macht. Dies geschieht etwa in den künstlerischen Fächern, also in der Musik, der bildenden Kunst, dem Theater und in vielen Arbeitsgemeinschaften. Der Ansatz von LTTA (Learning through the Arts) geht dabei schon einen anderen Weg, denn hierbei werden die Künste als Mittel der Unterrichtsentwicklung verwendet. Im Rahmen von LTTA gilt der Slogan: Kunst macht Unterricht. Eine künstlerisch-ästhetische Praxis soll dabei helfen, das Kerngeschäft von Schule, nämlich den Unterricht, zu verbessern. Es ist dabei zu zeigen, dass dieses Vorgehen einen Nutzen für alle Beteiligten hat: für die Lehrerinnen und Lehrer, weil es das Lehren erleichtert, und natürlich für die Schülerinnen und Schüler, bei denen mithilfe der Künste das Lernen besser gelingen soll.
Mein Anliegen, das ich im Folgenden erläutern will, geht noch einen Schritt weiter. Denn es geht mir hierbei zwar auch um Unterrichtsentwicklung, ich bette diese allerdings ein in die Entwicklung der gesamten Schule. Hintergrund dieses Ansatzes ist das berühmte Dreieck, das Unterrichtsentwicklung, Personalentwicklung (von Lehrerinnen und Lehrern) und Schulentwicklung in einem Zusammenhang sieht (Bohl 2010). In einem ersten Teil werde ich einige grundsätzliche Überlegungen zur Schule, insbesondere zur Entwicklung der Schule in der Moderne vortragen; im zweiten Teil werde ich diese in Beziehung zu den Künsten setzen.
Teil 1: Einige grundsätzliche Überlegungen zur Schule
- Was ist eine Schule?
Unterricht ist wie oben erwähnt das Kerngeschäft von Schule und damit der Hauptgegenstand der Arbeitstätigkeit von Lehrerinnen und Lehrern. Dazu werden sie sowohl im Studium als auch in der zweiten Ausbildungsphase ausgebildet. Es weiß allerdings jeder, dass sowohl bei Lehrerinnen und Lehrern als auch bei Schülerinnen und Schülern der Unterricht nur einen Teil ihres jeweiligen Schullebens ausmacht. Deshalb haben Expertinnen aus den verschiedenen pädagogischen Disziplinen im Anschluss an eine problematisch verlaufende Diskussion über die ersten Pisa-Ergebnisse in den „Leipziger Thesen" vor etwa zehn Jahren formuliert: Bildung ist mehr als Schule und Schule ist mehr als Unterricht.
Man muss sich nur einmal überlegen, wer alles mit Schule zu tun hat (Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer, Handwerker, Hausmeister, Lieferanten, Verwaltungskräfte, Küchenkräfte, die Schulaufsicht etc.) und welche Rolle die Schule für die verschiedenen Beteiligten spielt (Fuchs 2012). So ist Schule unter anderem:
- eine Institution der Vergabe von Berechtigungen
- ein Schonraum für Kinder und Jugendliche
- ein Schutzraum für Kinder und Jugendliche
- ein Arbeitsplatz für viele Berufe
- ein Ort der Begegnung von Generation, sowohl unter den Schülern (man beachte nur den Altersunterschied zwischen Schülerinnen und Schülern der fünften und der 13. Klasse; auch bei den Lehrerinnen und Lehrern kann es zu einem Altersunterschied von fast 40 Jahren kommen)
- ein Ort systematischen Lehrens und Lernens
- ein Ort der Begegnung mit Gleichaltrigen (Peer Group)
- eine Instanz der Selektion
- ein Ort der Umsetzung des Menschenrechts auf Bildung
- eine Sozialisationsinstanz
- ein Ort der Befreiung vom Elternhaus
- ein Ort der Anerkennung und Demütigung
- ein Ort, der in einer entscheidenden Lebensphase einen sehr hohen Zeitanteil in Anspruch nimmt mit einem bestimmten strengen zeitlichen Regime
- ein gestalteter räumlicher Kontext.
All diese Bestimmungsmerkmale führen zu der These:
I. Die Schule ist eine komplexe Lebenswelt eigener Art.
- Die Schule und die Moderne
Die Schule ist eine Lebenswelt mit eigenen Regeln und Abläufen. So sind etwa die Schülerinnen und Schüler freigestellt von der Arbeit. Heute gilt das zumindest für die entwickelten Länder als selbstverständlich, doch hat es einige Jahrhunderte gebraucht, bis sich die Gesellschaften dies auch leisten konnten. Die Schule ist zudem eine teure Einrichtung, denn in den ca. 36.000 Schulen in Deutschland arbeiten knapp 700.000 Lehrerinnen und Lehrern, die alle den höchsten erreichbaren Berufsabschluss haben, nämlich ein akademisches Studium. Wie teuer die Schule ist, kann man an einer zurzeit wieder kursierenden Zahl sehen: Es wird darauf hingewiesen, dass ein Schüler, der ein Jahr wiederholen muss (der „sitzen bleibt“), den Staat 40.000 € kostet.
Mit der großen Zahl der Beschäftigten ist die Schule auch einer der größten Arbeitgeber im Lande. Die Schulzeit ist zudem ein zentrales biografisches Ereignis. Selbst Hochbetagte erzählen gern von der Schule, erzählen von Erfolgen und Kränkungen in einer Weise, dass man den Eindruck erhält, es wäre erst kürzlich geschehen. Die Schule ist neben den Peers, der Familie und den Medien ein Sozialisationsort, wobei sie der einzige Sozialisationsort in der Hand des Staates ist. Dies bedeutet insbesondere, dass die Schule nicht bloß der zentrale Ort der formalen Bildung ist, sondern Schule ist auch ein zentraler Ort für non-formale und informelle Lernprozesse. Dies weiß man eigentlich schon seit den 1970er Jahren, als man über den „heimlichen Lehrplan“ in der Schule diskutierte: Man hat nämlich erkannt, dass Schülerinnen und Schüler selbst im Unterricht sehr viel mehr Dinge tun, als sich die Inhalte des Lehrplans anzueignen.
Die Schule als Idee ist alt. Bekanntlich geht das Wort Schule auf das griechische Wort schole zurück, das unter anderem Muße heißt. Die berühmtesten Schulen der griechischen Antike sind vermutlich die Akademien von Platon und Aristoteles für die gut betuchten männlichen freien Jugendlichen. Hier ging es eindeutig um eine Elitebildung, so dass man beide Bildungseinrichtungen heute sicherlich zu einem so genannten Exzellenzcluster zählen würde. Als flächendeckendes System ist die Schule sehr viel jünger. Zwar gab es schon Ende des 18. Jahrhunderts in Preußen ein Gesetz, das die Einrichtung einer allgemeinbildenden Elementarschule für alle vorsah, doch hat es bis zu dem Beginn des 20. Jahrhunderts gedauert, bis eine solche Schule auch eingeführt war.
Daher kann man behaupten (vgl. Berg 1987 ff.):
II. Die Schule ist ein Kind der Moderne.
- Die Moderne in der Kritik
Ohne mich hier mit Überlegungen zur Abgrenzung der Moderne beschäftigen zu können, kann man feststellen, dass die Moderne viele zivilisatorische Errungenschaften mit sich gebracht hat, auf die keiner heute verzichten möchte. Man erinnere sich nur an den Slogan der Französischen Revolution: Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit.
Es ist seither eine Grundüberzeugung aller Gesellschaften, die sich als moderne Gesellschaften verstehen, dass man sich darum bemüht, diese Grundsätze auch umzusetzen. Die Genese dieser Grundsätze lässt sich bis in die Renaissance zurückverfolgen, als man erstmals davon gesprochen hat, dass der Mensch als einzelnes Individuum selbstbewusst sein Leben selbst gestalten müsse (Fuchs 2001). Begriffe wie Menschenwürde wurden in dieser Zeit erstmals aufgegriffen und durchdekliniert. Damit wurden zugleich Visionen einer Moderne formuliert, die die zunehmend als einengend empfundenen Unterdrückungsverhältnisse des Mittelalters überwinden sollten. Die Erwartungen waren also hoch, so dass es nicht verwundert, dass es schon relativ früh eine heftige Kritik an der mangelhaften Realisierung dieser Visionen gegeben hat.
Viele Autoren kritisierten dabei nicht nur die mangelhafte Umsetzung, sondern sahen in den Grundprinzipien der Moderne die Problematik. Ich erinnere nur an die fulminante Kampfschrift von Jean-Jaques Rousseau, der schon Mitte des 18. Jahrhunderts in seiner Antwort auf eine Preisaufgabe der Akademie von Dijon, inwieweit die Errungenschaften der modernen Wissenschaften zu einer Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse geführt hätten, einen möglichen Fortschritt vehement abstritt. Die Entwicklung der Moderne wird seither von einer heftigen Kritik begleitet, wobei es insbesondere die Kultur der Moderne ist, die im Mittelpunkt dieser Kritiken stand (Bollenbeck 2006). Im Mittelpunkt dieser Kulturkritik der Moderne stand eine Klage über das Leiden der Menschen an dieser Moderne, an der Zerstörung der Natur durch die Technik, an der Entfremdung und Zerrissenheit.
Was hat all dies mit Schule zu tun? Es wurde oben angemerkt, dass die Schule ein Kind der Moderne ist. Als Teil dieser Moderne sind somit auch alle Pathologien der Moderne in der Schule und an der Schule festzustellen (Honneth 1994).
Andererseits ist es ein zentrales Anliegen der Pädagogik in der Moderne, bei der Entwicklung starker Subjekte helfen zu wollen. Subjekte sollen sogar so stark sein, dass sie die Pathologien der Modernen nicht bloß aushalten, sondern möglicherweise auch beseitigen können. Es geht um die Autonomie des Einzelnen, die man als Kern eines jeglichen modernen Denkens betrachten kann (Gerhardt 1999). Dieser Gedanke findet sich auch in jedem der Schulgesetze in Deutschland an einer zentralen Stelle, nämlich gleich am Anfang, wo die Erziehungs- und Bildungsziele formuliert werden. Wir haben es also mit einer Situation zu tun, bei der die Schule als Teil einer pathologischen Moderne eine Vision realisieren helfen soll, die diese Pathologien geradezu verhindert. Daher komme ich zu einer dritten Feststellung:
III. Die Schule ist strukturell widerspruchsvoll.
- Die Kunst in der Moderne
Eine künstlerisch-ästhetische Praxis von Menschen ist schon sehr früh in der Geschichte nachweisbar. Man kann sogar noch weiter gehen und feststellen, dass eine solche künstlerisch-ästhetische Praxis ein entscheidender Evolutionsvorteil war, so dass man nicht bloß mit guten Gründen behaupten kann, dass ohne Kunst menschliches Leben unvollständig ist: Ohne Künste wäre menschliches Leben erst gar nicht entstanden. Die Künste gehören zu dem Kernbereich der Anthropogenese (Frey 1994).
Jung ist allerdings die Idee autonomer Künste. Der Gedanke, dass Künste autonom sind, dass also innerhalb der Künste selber entschieden werden soll, wie die Gestaltungsprozesse ablaufen und welche Funktionen zu erfüllen sind, dieser Gedanke ist erst im 18. Jahrhundert entstanden. Dieser Gedanke ist zudem sehr eng verbunden mit der Genese der bürgerlichen Gesellschaft (siehe unten, vgl. Fuchs 2011).
Im Hinblick auf Schule ist festzustellen, dass nur der anthropologische weite Begriff einer künstlerisch-ästhetischen Praxis sinnvoll anzuwenden ist.
Ähnliches gilt für die Reflektion dieser Praxis, die man heute in den verschiedenen Theorien der Künste und vor allen Dingen in der philosophischen Ästhetik praktiziert (Eagleton 1994). Man erinnere sich, dass Ästhetik als philosophische Disziplin erst Mitte des 18. Jahrhunderts erfunden worden ist. Es war Alexander Baumgarten, der zu dieser Zeit ein entsprechendes Buch veröffentlicht hat. Interessant an diesem Vorgang ist, dass es nicht ein primäres Interesse von Baumgarten war, eine neue Theorie des Kunstschönen zu entwickeln. Bekanntlich denkt der Mensch spätestens seit der griechischen Antike über Schönheit in Kunstwerken nach. Ausgangspunkt von Baumgarten war vielmehr ein emanzipatorischer Impuls: Es ging ihm primär um die Rehabilitation der sinnlichen Erkenntnis. Er stützte sich dabei auf die ursprüngliche Wortbedeutung von Ästhetik, nämlich auf das griechische Wort aisthesis, das zunächst einmal mit Kunst überhaupt nichts zu tun hat, sondern sich auf die sinnliche Seite des Menschen, auf sinnliche Erkenntnis bezieht.
Ein weiteres Anliegen von Baumgarten bestand darin, einen einheitlichen Begriff von Kunst zu konzipieren, der die unterschiedlichen künstlerischen Ausdrucksformen wie bildende Kunst, Theater, Literatur und Musik zusammenfasste. Denn bis zu dieser Zeit verliefen die jeweiligen Diskurse und Entwicklungen unabhängig voneinander. Unser heutiger Kunstbegriff, nämlich die Idee einer autonomen Kunst, ist erst in der Folgezeit entstanden. Mit der Kritik der Urteilskraft von Kant (1790) und den philosophisch-ästhetischen Studien von Schiller (insbesondere mit seinen Briefen zur ästhetischen Erziehung von 1795) wurde eine Verbindung zwischen Autonomie und Freiheit auf der einen Seite und den Künsten auf der anderen Seite hergestellt.
Diese Verbindung hat sehr viel mit der Genese der bürgerlichen Gesellschaft zu tun, da man zeigen kann, dass zwar über das Kunstschöne geschrieben wurde, man im Hintergrund jedoch über die Genese eines starken (bürgerlichen) Subjekts ist verhandelt hat. Insbesondere ging es von Beginn dieser Entwicklung an immer auch darum, die schon deutlich wahrnehmbaren Pathologien der Moderne zu reparieren. So setzte sich Schiller in seinen berühmten „Briefen zur ästhetischen Erziehung“ (1795) sehr ausführlich mit den negativen Folgen der gesellschaftlichen Entwicklung auseinander und bereitet so den Boden für seine Theorie der ästhetischen Praxis:
- Die Künste in der Moderne hatten von Anfang an die Aufgabe, als Reparaturbetrieb für die Pathologien der Moderne zu dienen.
Die Künste wurden so die Hoffnungsträger für eine Verbesserung gesellschaftlicher Verhältnisse, wobei man sofort ihre Möglichkeiten überdehnt hat. Dies hat die Erziehungswissenschaftlerin Yvonne Ehrenspeck zum Gegenstand ihres Buches „Versprechungen des Ästhetischen“ (1998) gemacht.
Was bedeuten diese allgemeinen Bemerkungen über die Genese der Schule einerseits und die Entwicklung der Künste andererseits jetzt für das Thema, die Künste als Mittel einer Entwicklung von Schule zu verwenden. Wir haben skizziert, dass die Schule als Lebenswelt verstanden werden muss, dass sie als Kind der Moderne allerdings auch unter den Pathologien der Moderne in besonderer Weise leidet. Daraus ergab sich ein Widerspruchscharakter von Schule. Es wurde vermerkt, dass der moderne Diskurs rund um die Künste nicht zu verstehen ist, wenn man diese nicht gleichzeitig als Möglichkeit sieht, Pathologien der Moderne abzufedern. Andererseits ist unser Verständnis von Kunst ebenfalls ein Kind der Moderne und hatte in diesem Zusammenhang eine klare gesellschaftliche Funktion.
Wie lassen sich also beide Felder, das Feld der Schule und das Feld der Künste zusammenbringen, um einen Entwicklungsprozess in der Schule zu befördern?
Teil 2: Kunst macht Schule
Im Folgenden will ich vier Überlegungen anstellen, wie sich die Künste auf die Schule beziehen lassen können.
- Kunst und Schule als Handwerk
Die lateinische Bezeichnung von Kunst ist bekanntlich ars. „Ars" ist die Übersetzung des griechischen Begriffs „techne". Beide Begriffe haben zunächst mit den schönen Künsten, so wie wir sie heute verstehen, nichts zu tun. Denn beide Begriffe beziehen sich auf ein regelgeleitetes Tun, auf ein handwerkliches Können, auf das Machen und Herstellen von Dingen. Es geht also eher um Kunstfertigkeit als um das, was wir heute unter Kunst verstehen.
Historisch ist allerdings der Zusammenhang enger, als man heute oft meint. Denn ursprünglich haben die Künste ihre Wurzeln im Handwerk. Die frühen Künstler waren keineswegs die auratischen Personen, als die man sie heute gerne betrachten möchte. Sie waren schlicht Handwerker, die bestimmte Dinge als Auftragsarbeiten herstellten. Dies wollten die Künstler auch, denn sie sahen zunächst einmal eine Möglichkeit der Anerkennung ihrer Tätigkeit darin, ebenso wie die Handwerker in Zünften organisiert zu sein. Später allerdings wurden ihnen die strengen Zunftsregeln zu eng, so dass es Bestrebungen gab, die Künste zumindest als freie Künste (artes liberales) anerkennen zu lassen, denn solche freien Künste waren Gegenstände in der Lehre der Universitäten (Fuchs 2011).
Allerdings dauerte es sehr lange, bis sich unser heutiges Verständnis der autonomen Künste entwickelt hat. Zum Teil ist dies erst im 19. Jahrhundert geschehen. Bis dahin gab es auch zwischen den Künsten sehr starke Emanzipationsbestrebungen. So gelang es dem Theater erst im 19. Jahrhundert, sich von der Literatur als eigenständige Kunstform zu emanzipieren. Auch die Musik musste ihren Status als autonome Kunst erst erkämpfen. Denn allzu lange galt sie lediglich als Begleitmedium sowohl für soziale Anlässe als auch für die eigentlich wichtigen Texte. Der Ursprung im Handwerklichen hatte zur Folge, dass es eine enge Verbindung zwischen dem gekonnten Machen, verbunden mit der entwickelten Fertigkeit auf der Basis eines kontinuierlichen Übens gegeben hat. Diese enge Verbindung zu dem Handwerk führte allerdings auch dazu, dass im antiken Griechenland die Wertschätzung dieser Tätigkeiten enge Grenzen hatte. Denn in der griechischen Weltanschauung hatte Handarbeit nur einen geringen Status und war eines freien Mannes unwürdig. So gibt es sogar Warnungen bei Aristoteles und Platon, sich zu intensiv mit den Künsten zu befassen, da der handwerkliche Aspekt eher zur Deformation des Geistigen führe.
Bei der Entwicklung der Schule wiederum spielt das Machen, spielt Kunst in diesem mittelalterlichen Verständnis von techne eine wichtige Rolle. Über lange Zeit – und zum Teil bis heute – spricht man von der Kunst der Schule. Damit ist überhaupt nicht der moderne Begriff einer autonomen Kunst gemeint, sondern es ist der handwerkliche Begriff des Machens gemeint. Denn mit diesem Machen ist verbunden, dass die Schule sehr viel mit praktischen Erfahrungen und mit der alltäglichen Praxis zu tun hat, so dass sie kaum Gegenstand einer wissenschaftlichen Erforschung sein könnte. Daher gehört zur Geschichte der Schule das Ringen darum, wie sich eine wissenschaftliche Schulpädagogik entwickeln kann (Berg 1987ff.).
Interessanterweise gibt es in den letzten Jahren wichtige Bestrebungen, das Handwerk in seiner Wertigkeit zu rehabilitieren. Ich will nur zwei Hinweise geben. Richard Sennett (2008), ein Schüler von Hannah Arendt und Autor vieler kulturgeschichtlich interessanter Werke, hat vor einiger Zeit ein Buch mit dem Titel „Handwerk" vorgelegt. Es geht ihm dabei um die Rehabilitation der Sinnlichkeit, durchaus vergleichbar mit dem Ansatz von Baumgarten Mitte des 18. Jahrhunderts. In unserem Kontext ist dies deshalb interessant, weil Sennett ursprünglich Musiker werden wollte, aber wegen einer Erkrankung an der Hand seine Karriere als Cellist nicht fortsetzen konnte. In seinem Buch beschreibt er die Bedeutung einer sinnlichen Tätigkeit und bezieht sich dabei immer wieder auf Beispiele aus der Musik. Denn auch das Musizieren hat etwas zu tun mit Üben, mit Können, mit Handfertigkeit.
Ein zweiter Hinweis gilt dem Philosophen und Schriftsteller Peter Bieri (Pascal Mercier), der jüngst ein Buch unter dem Titel „Handwerk der Freiheit“(2001) vorgelegt hat. Mit Handwerk hat dieses Buch in zweierlei Hinsicht zu tun: Zum einen demonstriert der Philosoph Bieri auf hohem Niveau, wie man mit dem Handwerk des Philosophen einen komplizierten Begriff analysieren kann. Zum anderen ist Freiheit keine bloße abstrakte Idee, sondern er zeigt, wie Freiheit in praktischem Handeln täglich erworben und gesichert werden muss.
Unterstellt man diese komplexe Bedeutung von Handwerk, dann ergibt sich vielleicht die Plausibilität der folgenden These:
I. Die Schule sollte eine Schule des Handwerks sein.
- Lernen
Die Pädagogik war lange Zeit eine bloße Kunstlehre. Allerdings gab es immer wieder und verstärkt seit der Aufklärung Bemühungen, Pädagogik auch als Wissenschaft zu konstituieren. Dazu musste sich die Pädagogik zunächst einmal emanzipieren. Insbesondere ging es darum, eine gewisse Unabhängigkeit von der Philosophie zu erlangen. Im 19. Jahrhundert sprach daher der Pädagoge und Philosoph Johann Friedrich Herbart davon, dass die Erziehungswissenschaft wie jede andere anerkannte Wissenschaft sogenannte „einheimische Begriffe“ braucht.
Wenn man sich nun selber oder auch andere befragt, welches denn einheimische Begriffe in diesem Sinne der Pädagogik sein könnten, so bin ich ziemlich sicher, dass nachdem „Erziehung" und „Bildung" genannt worden sind, relativ bald auch der Begriff des Lernens genannt wird. Schlägt man nun aber in einschlägigen Hand- und Wörterbüchern nach, in welcher Weise dieser Begriff definiert wird, so stellt man mit Erstaunen fest, dass der Begriff des Lernens fest in der Hand von Psychologen ist. Insbesondere sind es Psychologen, die auf der theoretischen Grundlage der Verhaltensforschung arbeiten. Im strengen Sinne ist Lernen also überhaupt kein erziehungswissenschaftlicher einheimischer Begriff.
Vor diesem Hintergrund ist es interessant, dass es in der Erziehungswissenschaft seit einigen Jahren ein starkes Bemühen gibt, den Begriff des Lernens als einheimischen Begriff zu konstituieren (Göhlich u.a. 2007). Unterstützt wird diese Tendenz dadurch, dass spätestens seit der Postmoderne eine Wiederentdeckung des Körpers oder des Leibes stattfindet (man erinnere sich an die Bemühungen von Baumgarten Mitte des 18. Jahrhunderts). Man entdeckt nunmehr wieder, dass der Mensch nicht bloß aus dem Gehirn besteht, sondern dass er auch einen Körper und einen Leib hat, dass also wesentlich für den Menschen auch seine sinnliche Seite ist. Vor diesem Hintergrund kann man nunmehr feststellen, dass es wichtige Autoren innerhalb der Philosophie gibt, die für diese Sichtweise des Menschen eine erhebliche Vorarbeit geleistet haben. Insbesondere sind im Rahmen der philosophischen Anthropologie etwa Helmut Plessner oder Maurice Merleau-Ponty zu nennen, die bereits vor Jahrzehnten eine Anthropologie des Leibes vorgelegt haben. Diese Ansätze greift man nunmehr auch in der Erziehungswissenschaft auf und erkennt, dass Lernen insbesondere auch als leibliches Lernen stattfindet.
Mit diesem Ansatz wird ein Bezug zu den Künsten hoch plausibel, so dass die nächste These verständlich wird:
II. Eine Schule, in der Lernen gelingen soll, muss als Schule der Sinne verstanden werden.
- Pathologien der Moderne und die Schule
Aus dem komplexen Feld der Pathologien der Moderne will ich nur einen einzigen Aspekt herausgreifen. Es ist schon sehr früh in den Theorien der Moderne – bekanntlich hat Hegel als erster Philosoph eine komplexe Theorie der modernen Gesellschaft vorgelegt – der Gedanke der „Entfremdung“ als zentrale Pathologie der Moderne diskutiert worden. In den letzten Jahrzehnten spielte dieser Entfremdungsgedanke allerdings keine wichtige Rolle mehr. Umso bemerkenswerter ist es, dass nunmehr wichtige Studien vorliegen, die Entfremdung als eine wichtige Pathologie der Moderne erneut aufgreifen. So publiziert die Philosophin Rachel Jaeggi (2005) im Rahmen der Schriftenreihe des Frankfurter Instituts für Sozialforschung den Versuch einer Wiederbelebung dieses Begriff und stützt sich hierbei auf die Untersuchungen von Hartmut Rosa (2013), in dessen Ansatz ebenfalls Entfremdung eine zentrale Rolle spielt.
Ein weiterer Autor, der in diesem Zusammenhang eine große Bedeutung hat, ist der kanadische Philosoph Charles Taylor. Sein letztes großes Buch (2009) befasst sich mit den Prozess der Säkularisierung. Dieses Thema ist für Taylor auch deshalb wichtig, weil er sich zum einen als politischer Philosoph und kritischer Gesellschaftstheoretiker in aktuelle Debatten einmischt, dies aber als bekennender Katholik tun. Diesem Hintergrund muss ihn interessieren, welche Rolle die Religion in der modernen Gesellschaft spielt. Bekanntlich hat die Aufklärung einen zentralen Impetus in ihrem Kampf gegen die Kirche gesehen.
Charles Taylor entwickelt nun den Gedanken, dass wir einerseits auf die Errungenschaften der Aufklärung (Rechtsstaat, rationale Verwaltung etc.) nicht verzichten wollen, aber andererseits in unserem Privatleben alle auch Romantiker sind, also Emotionen, Kreativität, Sinnlichkeit und Fantasie eine wichtige Rolle spielen. Es geht daher darum, nicht die Aufklärung gegen die Romantik auszuspielen, sondern Wege zu finden, wie man beide Dimensionen zu einer Synthese bringen kann. In diesem Kontext entwickelt er den Gedanken der „Fülle“. Es geht darum, dass der Mensch für ein menschenwürdiges Leben, bei dem er seine Fähigkeiten entwickeln kann, auf ein anregungsreiches Milieu angewiesen ist. Es liegt auf der Hand, dass das Ästhetische einen entscheidenden Beitrag zu dieser Fülle leisten kann und damit eine wichtige Rolle in dem Abbau von Entfremdung spielt.
Dies ist kompatibel mit dem Gedanken, dass Entfremdung dadurch entsteht, dass der Einzelne auf die Artikulation seines Lebens keine Resonanz erfährt. Der Mensch möchte sich äußern, er möchte aber auch, dass diese Äußerungen zur Kenntnis genommen werden. Er will ein Echo bekommen auf seine Fragen des Lebens. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen wird die These einsichtig:
III. Die Schule muss als Ort der Fülle gestaltet werden.
- Das Leiden an der Moderne
Neben der Entfremdung tauchen immer wieder ähnliche Befunde auf, an denen die Kritik an der Moderne festgemacht wird: Heimatlosigkeit, Fremdheit, Selbstfremdheit. Der Soziologe und Philosoph Georg Simmel sprach davon, dass in der modernen Gesellschaft die Seele nicht mehr Herr im eigenen Hause sei. Er sprach zudem von einer Tragödie der Kultur, die darin besteht, dass Dinge, die von Menschen gemacht worden sind, ihm nunmehr feindlich und fremd gegenüberstehen. Wir haben es also mit vielen Zumutungen zu tun, die aus der Gesellschaft an uns gerichtet werden. Die Frage ist, wie man mit dieser Situation umgeht.
Ein Ansatz, der die medizinische Bedeutung des Redens über „Pathologie“ ernst nimmt, stammt aus der Gesundheitspolitik. Bekanntlich hat die Weltgesundheitsorganisation WHO in ihrer Erklärung von Ottawa definiert, dass Gesundheit mehr sei als die Abwesenheit von Krankheit. Es geht um etwas, was man heute als „Wellbeing" bezeichnet. In diesem Kontext wird der Ansatz des israelischen Wissenschaftlers Aaron Antonovski mit seinem Konzept einer „Salutogenese“ relevant. Dieser Ansatz spielte etwa in dem vorletzten Kinder- und Jugendbericht des Bundes eine wichtige Rolle, der unter der Leitung des Münchner Sozialpsychologen Heiner Keupp entstanden ist. Ein Aspekt in der Konzeption dieses Berichtes besteht darin, dass die Menschen und insbesondere die Kinder und Jugendlichen in die Lage versetzt werden, Widerstand gegen unzumutbare Forderungen der Gesellschaft zu entwickeln: Widerstandsfähigkeit wird daher zu einem zentralen pädagogischen Leitbegriff (Bernhard 1996).
An dieser Stelle kann man zwanglos einen Bezug zu den Künsten herstellen. Denn zu den (modernen) Visionen rund um die Künste und eine ästhetische Praxis gehört die Vorstellung, dass diese zur Stärkung des Subjektes beitragen. Einer der wichtigsten Autoren in diesem Zusammenhang ist wiederum Friedrich Schiller, insbesondere mit seinen Briefen zur ästhetischen Erziehung.
Als ein aktuelles Beispiel zitiere ich den Musiker und Soziologen Klaus Holzkamp: „So gesehen sind in vorfindlicher Musik stets auf irgendeine Weise Möglichkeiten zur Bewältigung, Gestaltung, Steigerung subjektiver Befindlichkeit historisch kumuliert. Im Vollzug der musikalischen Bewegung hebt sich in meinem Befinden das Wesentliche, Überdauernde, Typische gegenüber deren bloßen Zufälligkeit und Zerstreutheit meines Befindens heraus… In jedem Fall gewinne ich aber über die Musik eine neue Freiheit und Unabhängigkeit gegenüber den Anfechtungen und Wirrnissen des Naheliegenden – ändere ich durch meine Ergriffenheit von Musik, die mir keiner wegnehmen oder ausreden kann, mich selbst, meine Lebendigkeit, meine widerständige Präsenz in dieser Welt. Quasi in reiner und gesteigerter Form erfahre, bin ich – mindestens vorübergehend – weniger bestechlich, nicht mehr so leicht einzuschüchtern.“ (Holzkamp 1993:70)
Ähnliche Befunde lassen sich auch für andere künstlerische Praxen finden. Daher komme ich zur nächsten These:
IV. Die Schule muss als Ort der Stärkung der Widerständigkeit des Subjektes gedacht werden.
Schlussbemerkung
Man kann sich nun fragen, ob all diese Hoffnungen bloß im Traum existieren und mit der Realität nichts zu tun haben. Daher ist es wichtig festzustellen, dass viele der vorgetragenen Überlegungen inzwischen schon längst in der Realität angekommen sind. Vor diesem Hintergrund haben wir in Remscheid seit einigen Jahren das Konzept einer Kulturschule entwickelt (Fuchs 2012), bei der es darum geht, das Prinzip Ästhetik in allen Qualitätsbereichen von Schule, also natürlich im Bereich des Unterrichts, aber auch im Bereich der Schulkultur oder des Schulgebäudes anzuwenden.
Ich will zwei praktische Beispiele geben, in denen solche Gedanken auch umgesetzt worden sind.
Erstes Beispiel ist das Projekt creative partnerships in England, bei dem seit vielen Jahren versucht wird, die ästhetisch-künstlerische Dimension in der Schule zu stärken. Inzwischen hat diese Initiative einige 1000 Schulen in England erreicht. In England werden Schulen sehr streng von einer neutralen Instanz evaluiert (OFSTED), so dass man jetzt auch eindeutige Belege dafür hat, dass ein solches kulturelles Profil einer Schule erhebliche Verbesserungen bei den Schülerinnen und Schülern und bei den Lehrerinnen und Lehrern mit sich bringt.
Ein zweites Beispiel ist das inzwischen im dritten Jahr laufende Programm "Kulturagenten für kreative Schulen" der Stiftung Mercator und der Bundeskulturstiftung. Im Rahmen dieses Programmes werden in 150 Schulen in fünf Bundesländern über vier Jahre kulturelle Entwicklungsprozesse in Schulen angeschoben.
Wie mehrfach erwähnt ist Unterrichtsentwicklung der Kern einer jeglichen Schulentwicklung. Der hier vorgetragene Gedanke besteht nun darin, den Nutzen, den eine ästhetisch-künstlerische Praxis in allen Unterrichtsfächern im Hinblick auf eine Verbesserung des Lernens hat, nunmehr auf die Schule insgesamt zu übertragen. Die Künste sollen also nicht nur als Mittel dienen, die Lernkultur in der Schule zu verbessern, sondern es ist auszuloten, wie sie als Medien der Schulentwicklung insgesamt dienen können. Interessanterweise findet sich diese Vision schon in einer sehr frühen Quelle einer sich entwickelnden Schulpädagogik, nämlich in der Großen Didaktik des tschechischen Philosophen und Pädagogen Johann Komensky (Comenius) Mitte des 17. Jahrhunderts. Es geht ihm nämlich um die „vollständige Kunst, alle Menschen alles zu lehren“, und zwar „rasch, angenehm und gründlich“. Deshalb gilt es, „die Unterrichtsweise aufzuspüren und zu erkunden, bei welcher die Lehrer weniger zu lehren brauchen, die Schüler dennoch mehr lernen; in den Schulen weniger Lärm, Überdruss und unnütze Mühe herrschen, dafür mehr Freiheit, Vergnügen und wahrhafter Fortschritt…“ (Comenius 1970:7).