Kulturpolitik für ländliche Räume
Abstract
Offensichtlich gibt es ein neues Interesse an Kultur und Kultureller Bildung in ländlichen Räumen. Sowohl der Bund als auch etliche Länder widmen sich in ihren Koalitionsvereinbarungen und mit konkreten Förderprogrammen diesem Thema. Vor allem die strukturschwachen und ‚abgehängten‘ Regionen stehen dabei im Fokus. Um welche Strukturschwächen geht es dabei und was könnten sinnvolle Bausteine für eine konzeptbasierte Strategie in den so etikettierten Gegenden sein? Der folgende Beitrag widmet sich diesen Fragen und formuliert einige Vorschläge. Er gibt jedoch auch Anlass für kritische Nachfragen: Offenbar gibt es einen Nachholbedarf an öffentlicher Aufmerksamkeit gegenüber der Kultur in ländlichen Räumen, weil die Kulturpolitik der letzten Jahrzehnte sich allzu einseitig auf die metropolitane Klasse der Kulturbürger konzentriert hat. Das mag für die Städte richtig und wichtig sein, Kultur für alle entsteht so freilich nicht. Auch die Motivlage ist kritisch zu sehen, wenn es vornehmlich darum geht, verloren gegangene Wähler*innen an die Urnen zurückzuholen und für bessere Stimmung zu sorgen. Doch Intention und Wirkung stehen nicht immer in einem Entsprechungsverhältnis. Deshalb liegt auch in diesen neuen Ansätzen das Potenzial für intelligente Konzepte und kluge Lösungen.
Vorbemerkung
Kultur in ländlichen Räumen ist wieder ein Thema. Nachdem die Auswirkungen der demografischen Entwicklungen auf der politischen Agenda stehen, wie es etwa die Demografiestrategie des Bundes (https://www.bundesregierung.de/Webs/Breg/DE/Themen/Demografiestrategie/_node.html) ausweist, und vor allem seitdem sich in den abgehängten strukturschwachen ländlichen Regionen der Unmut in neuen unerwünschten politischen Parteien und Aktionen artikuliert, steht das Thema wieder höher im Kurs. Abgesehen von der Motivlage, ist dies kulturpolitisch mehr als nachvollziehbar. Wenn Kunst und Kultur und mithin die Kulturelle Bildung eine so große Bedeutung für die gesellschaftliche Entwicklung haben, wie es allenthalben konstatiert wird, dann kann davon der ländliche Raum nicht ausgeschlossen bleiben. Kulturpolitik, die sich als Gesellschaftspolitik versteht, muss ihn einbeziehen. Der Freistaat Thüringen hat dies schon vor vielen Jahren erkannt und bereits im Jahr 2012 ein Konzept vorgelegt, in dem die kulturelle Vielfalt im ländlichen Raum ein zentrales Thema war. (http://thueringen.de/imperia/md/content/tmbwk/kulturportal/kulturkonzept-thueringen.pdf) Ausgehend davon wurden in der Folge in zwei Modellregionen Kulturkonzepte entwickelt, an denen das Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft mitgewirkt hat. (https://www.kulturkonzept-kyf-ndh.de/projekt-news/) Die folgenden Überlegungen sind in diesem Projektkontext entstanden und reflektieren daher vor allem die spezifische Situation in den Modellregionen, die seinerzeit untersucht wurden. Dennoch dürften viele Argumente auch auf andere Regionen übertragbar und für die Zukunft von Relevanz sein.
Verortung des Themas im Kulturpolitikdiskurs
Kulturpolitik ist vor allem Stadtpolitik. Der Löwenanteil der öffentlichen Mittel fließt in die kulturelle Infrastruktur der großen Städte und Metropolen, die aus den kommunalen Etats auch die meisten Kultureinrichtungen finanzieren. Theater, Orchester, Museen, Bibliotheken, Festivals und vieles mehr – fast alles, was gut und teuer ist – findet sich in den Städten. Hier leben die meisten Künstler*innen, zurzeit vor allem in Berlin, und hier berichtet das Feuilleton, so es denn noch eines gibt, von den kulturellen Geschehnissen und Inszenierungen. Die kulturelle Selbstverständigung der Gesellschaft, von der gelegentlich etwas vollmundig die Rede ist, findet hier statt. Die Kultur auf dem Lande und in den Klein- und Mittelstädten steht dagegen eher im Abseits, was die Stätten und Veranstaltungen der Kultur angeht, aber auch mit Blick auf die Bedeutung des Themas im kulturpolitischen Diskurs. Dennoch hat es immer wieder Anstöße gegeben, die Kulturarbeit außerhalb der Metropolen auf die Diskurs-Agenda zu setzen. Namentlich die Kulturpolitische Gesellschaft war daran beteiligt, besteht ihr Credo doch von Anbeginn (seit 1976) darin, dass der öffentliche Auftrag der Kulturpolitik darin besteht, Kultur für alle (zumindest für möglichst viele) und von allen zu ermöglichen. Deshalb gehörten die Klein- und Mittelstädte sowie die Gemeinden in den ländlichen Regionen selbstverständlich dazu, zumal hier über 50 Prozent der Bevölkerung lebten.
Einfach war und ist es indes nicht, das Interesse für dieses Thema wachzuhalten. Im Rückblick auf die letzten Dekaden ist festzustellen, dass es Phasen der Konjunktur und der Rezession gab. Ungefähr alle zehn Jahre konnte ein vernehmbares Interesse an dem Thema registriert werden, das dann wieder in der Versenkung verschwand. So gab es Anfang der 1980er Jahre im Kontext der Kulturpolitischen Gesellschaft eine kleine Aufmerksamkeitskonjunktur, die durch Tagungen und Kulturpreisvergaben dokumentiert sind und zunächst einmal das Ziel hatten, darauf hinzuweisen, dass Kultur auch in ländlichen Räumen und Regionen stattfindet (vgl. Kulturpolitische Gesellschaft 1983). Knapp zehn Jahre danach erlebte die kulturpolitische Debatte dann einen neuen thematischen Schub in Richtung Land und Region, und ein neues Interesse an kulturellen Entwicklungsprozessen in ländlichen Räumen machte sich breit. Stellvertretend dafür kann etwa auf die Fachtagung der Universität Oldenburg „Ferne Nähe. Zur Intensivierung der regionalen Kulturarbeit“ im Jahr 1990 in Jever hingewiesen werden (vgl. Kulturpolitische Gesellschaft 1992). Sie stand im Kontext des Modellversuchs „Kultur & Region“, der vom Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft gefördert worden war, und nahm inhaltlich Bezug auf die Bedeutung von Kunst und Kultur für den gesellschaftlichen Modernisierungsprozess und Strukturwandel. Individualisierung, Enttraditionalisierung, Medialisierung und die Spaltung der Gesellschaft in Modernisierungsgewinner und -verlierer waren ab Mitte der 1980er Jahre in Westdeutschland die großen Themen der gesellschaftlichen Debatte und führten auch in der kulturpolitischen Diskussion zu einer neuen programmatischen Standortbestimmung.
Der weite Kulturbegriff sollte die Basis für einen erweiterten Kulturpolitikbegriff, neue kulturpolitische Strategien und soziokulturelle Konzepte werden. Der ländliche Raum schien dafür ein geeigneter Bezugsrahmen zu sein. Es ging darum, die Intensivierung der regionalen Kulturarbeit vom gesellschaftlichen Strukturwandel im ländlichen Raum und den dadurch ausgelösten sozialen und kulturellen Gefährdungen und Chancen her zu definieren. Dass dieser Wandel nicht nur ein Phänomen der Großstädte und der Ballungsräume war und ist, sondern auch des ländlichen Raumes, liegt auf der Hand und erscheint im Rückblick umso klarer: die Umwälzung der wirtschaftlichen Verhältnisse, die Revolutionierung der Landwirtschaft (und das damit verbundene „Bauernlegen“ im großen Stil), die Erosion von Tradition und Brauchtum als Lebensform, die Veränderung der sozialen Struktur durch Schrumpfung, Abwanderung und Alterung und deren Folgen für die soziale Infrastruktur und für die Versorgungslage sind offenkundig, auch wenn sie regional differenziert auftreten mögen und nicht zuletzt in den ostdeutschen Bundesländern ihre ganz besonderen Ausprägungen haben. Im Verhältnis zur Bedeutung des industriellen Strukturwandels in städtischen Räumen (etwa im Ruhrgebiet) sind die Umwälzungen auf dem Land kulturpolitisch bislang jedoch eher unterthematisiert geblieben.
Diese neue Aktualität der ländlichen Räume im kulturpolitischen Diskurs hat jedoch nicht nur nachvollziehbare politische Gründe, sondern verstärkt eine generelle Entwicklung der Kulturpolitik, die mit einem Paradigmenwechsel oder zumindest einer Perspektivenveränderung verbunden ist: von der ‚staatsmäzenatischen‘ Kulturpolitik, die Einrichtungen unterhält, Veranstaltungen fördert und Künstler unterstützt, hin zu einer konzeptbasierten und soziokulturell orientierten Kulturpolitik, die sich stärker als Strukturpolitik versteht, gesellschaftliche Entwicklungen und soziale Kontexte berücksichtigt, Kooperationen befördert und Prozesse anstoßen will (vgl. Sievers/Eichler 2012). Geht die ‚alte’ Kulturpolitik häufig additiv, okkasionell und inkrementalistisch vor, werden schon seit vielen Jahren ergänzende Strategien gefordert, die zielorientierter und systematischer angelegt sind und z. B. auch die Situation und Entwicklung einer Region im Blick haben. Das Kulturfördergesetz des Landes Nordrhein-Westfalen ist dafür ein prägnantes Beispiel. (https://www.mkffi.nrw/sites/default/files/asset/document/kulturfoerdergesetz_kfg_web.pdf) Darin wird paradigmatisch umgesetzt, was im Bericht der Enquetekommission des Deutschen Bundestages „Kultur in Deutschland“ (2007) bereits empfohlen worden war. Die darin angelegte Art, Kulturpolitik und Kulturförderung konzeptbasiert zu denken und zu organisieren, stößt gerade in ländlichen Räumen auf eine positive Resonanz und ist in vielen Programmen, die es bereits gibt und die derzeit aufgelegt werden, angelegt (siehe: Christine Wingert „Förderung für kulturelle Aktivitäten und Infrastrukturen in ländlichen Räumen: Programme, Akteure und mögliche Synergien"). Deshalb ist die Erwartung nicht unberechtigt, dass die aktuelle Konjunktur des Themas nachhaltiger sein wird als die vorhergegangenen. Dabei spielt selbstverständlich auch die politische Aufladung des Themas eine Rolle: Das Verfassungsgebot der „Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse“ wird in der letzten Zeit immer öfter erwähnt (z.B. auch im aktuellen Koalitionsvertrag der Bundesregierung).
Strukturbesonderheiten in ländlichen Räumen
Öffentliche Kulturpolitik und Kulturelle Bildung können die Kultur in einer Region, verstanden als Lebensweise, letztlich weder bestimmen noch prägen. Diese bleibt immer rückgebunden an die gelebten Traditionen, historisch gewachsenen Mentalitäten, Erfahrungen, Erinnerungen der Menschen und die besonderen Begabungen und Potenziale in der Region, die ihr ein eigenes Gepräge geben. Ferner gibt es spezifische strukturelle Voraussetzungen, die den Bedingungsrahmen für kulturelle Beteiligung und Entwicklung in der jeweiligen Region markieren. Gemeint ist damit die kulturelle Infrastruktur, die oft erst die Gelegenheit zur kulturellen Teilhabe eröffnet, aber auch Fragen der verkehrstechnischen Erreichbarkeit, der geografischen, sozioökonomischen, demografischen Bedingungen, der Wirtschaftskraft der Region. Kulturpolitik muss diese Rahmungen berücksichtigen, um ihre Aufgaben zu erfüllen. Gerade in strukturschwachen ländlichen Regionen ist es notwendig, die besonderen Strukturmerkmale zu identifizieren, die Stärken und Schwächen zu erkennen und zur Grundlage einer konzeptbasierten Kulturpolitik zu machen.
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Geografische Lage und touristische Attraktivität
Die geografische Lage von Regionen ist keine zu unterschätzende Bedingung für regionale Kulturentwicklung und Kulturpolitik. Es ist ein Unterschied, ob eine Region eher dünn besiedelt und weitgehend dörflich geprägt ist oder ob es auch Klein- und Mittelstädte gibt, die ein kulturelles Angebot vorhalten. Auch die Lage und ‚Qualität‘ der Region im Kontext der Nachbarregionen ist von Bedeutung, weil für kulturelle Teilhabe die Grenzen der Regionen kein Hindernis sind. Zu bedenken sind zudem die landschaftlichen Qualitäten (z.B. auch Naturparks) und das Potenzial an Stätten des kulturellen Erbes. Sie sind für die kulturelle Lebensqualität und z.B. für den Kulturtourismus wichtige Bedingungen. Dies gilt selbstverständlich auch für die Verkehrsanbindung, die Qualität des öffentlichen Nahverkehrs und für das Vorhandensein von adäquaten Beherbergungsstätten und Restaurants, die für eine touristische Entwicklung eine zentrale Voraussetzung sind. Ohnehin ist in ländlichen Regionen Kulturentwicklung im Zusammenhang zu sehen mit den naturräumlichen Qualitäten sowie dem Freizeit- und Erholungswert der Region. Kulturpolitik sollte hier insofern eingebunden sein in ein regionales Strategiekonzept.
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Demografische Entwicklung und Sozialstruktur
Die Bevölkerungsdichte ist eine wichtige Vorbedingung für kulturelle Teilhabe und ein entscheidendes Kriterium, wenn es darum geht, kulturelle Angebote in der Fläche vorzuhalten. In sozialer Hinsicht bedeutender ist jedoch die demografische Entwicklung in vielen strukturschwachen ländlichen Regionen (vor allem in ostdeutschen Bundesländern, aber nicht nur dort). Die drastische Schrumpfung und die vergleichsweise hohe Alterung, die vielerorts zu verzeichnen sind, verändert die Sozialstruktur in diesen Regionen quantitativ und qualitativ und führt vielerorts zu empfindlichen Veränderungen im Sozialgefüge. In der stadt- und regionalwissenschaftlichen Diskussion wird in diesem Zusammenhang auch von „gelichteten Räumen" und „gelichteten Sozialstrukturen" gesprochen, die einander bedingen (Kersten/Neu/Vogel 2012: 100). Problematisch ist hier insbesondere das Schrumpfen der jüngeren Altersgruppen, die Abwanderung meist gebildeter junger Menschen, überwiegend Frauen, und die Ausdünnung der sozialen Milieus in der Mitte der Gesellschaft, aus denen sich in der Regel die sozial und kulturell aktiven Menschen rekrutieren. Auch die Überalterung beziehungsweise „Unterjüngung“ der Bevölkerung dürfte der kulturellen Teilhabe Grenzen setzen, zumal diese aufgrund der Konzentration der kulturellen Infrastruktur in den Städten eine Mobilität voraussetzt, die älteren Menschen schwerfallen dürfte.
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Öffentliche und private Infrastruktur
Auch die öffentliche Infrastruktur verändert sich mit der demografischen Entwicklung. In Regionen, die durch Abwanderung geprägt sind, führt die Schrumpfung zu Auslastungsproblemen kultureller Einrichtungen und die Alterung/Änderung der Sozialstruktur evoziert andere Bedarfe (z.B. im Gesundheits-, Erziehungs- und Bildungsbereich, aber auch im Kultursektor). Der Rück- und Umbau der öffentlichen Infrastruktur hat jedoch nicht nur Folgen für die Versorgungslage, sondern auch für die Finanzierbarkeit und Sichtbarkeit dieser (Infra-)Strukturen im öffentlichen Raum und für das Personal, das diese betrieben hat. Wenn Schulen geschlossen und öffentliche Dienststellen zusammengelegt werden müssen, wenn Bibliotheken aufgegeben werden und Sozialeinrichtungen schließen, dann fehlen nicht nur Dienstleistungen, sondern auch Orte des öffentlichen Lebens und die Menschen, die die öffentliche Kommunikation getragen haben. Mit anderen Worten: „Vom Beschäftigungsangebot öffentlicher Dienstleistungen geht immer weniger soziale, kulturelle und berufliche Bindungskraft aus. (...) Schrumpfende Infrastrukturen und Daseinsvorsorgeleistungen zehren die Mitte lokaler Gesellschaften aus" (Ebd.: 110). Dies hat soziopolitische Folgen (s.u.), aber natürlich auch Auswirkungen auf die Möglichkeiten und Gelegenheiten der alltäglichen Kommunikation und Geselligkeit, zumal die Schrumpfung und Umgestaltung auch private Dienstleiter und Betriebe betrifft. In der Stadt- und Regionalsoziologie, aber auch in der Kulturpolitik, wird nicht zuletzt deshalb das Konzept der „Dritten Orte“ des amerikanischen Soziologen Ray Oldenburg prominent gemacht (vgl. Pilzer 2018).
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Soziopolitische und -kulturelle Situation
Das Wegbrechen der in ländlichen Räumen ohnehin schwach ausgeprägten bürgerlichen Mitte durch demografische Prozesse hat weitreichende Konsequenzen für die soziopolitische oder -kulturelle Situation, insofern dadurch jene Akteure fehlen, die Initiativen und Verantwortung im Vereinswesen, aber auch in den demokratischen Parteien, übernehmen können, die ohnehin durch Nachwuchssorgen gekennzeichnet sind. Auch die Breitenkultur ist davon betroffen, weil sie auf kulturell engagierte Menschen und Schlüsselpersonen für Entwicklungsprozesse innerhalb und außerhalb von Institutionen angewiesen ist. Dadurch wird das „soziale Kapital“ (Robert D. Putnam) beschädigt, das notwendig ist, um im (vor-)politischen Raum bürgerschaftliches Engagement zu entfalten. Diese Entwicklung ist umso problematischer, wenn sie – wie im Kulturbereich zu beobachten –- einhergeht mit dem Abbau von Verantwortlichkeiten im öffentlichen Sektor. So konnte im Rahmen der Gemeindebefragung in Nordrhein-Westfalen im Jahr 2015/16 gezeigt werden, dass kleinere Gemeinden in der Regel über keine Kulturverwaltung verfügen (vgl. Ministerium für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport des Landes Nordrhein-Westfalen 2017: 98). Wenn jedoch öffentliche Infrastrukturen an personeller Substanz verlieren, werden dadurch jene Verbindungen und Netzwerkstrukturen beeinträchtigt, die für zivilgesellschaftliches Engagement unerlässlich sind, weil dann auch noch die Ansprechpartner fehlen, um Initiativen mit öffentlicher Unterstützung auf den Weg zu bringen. Mithilfe einer Netzwerkanalyse konnte Robert Peper solche „strukturellen Löcher“ z.B. in einigen Landkreisen des Freistaates Thüringen nachweisen (vgl. Peper 2016).
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Wirtschaftliche und finanzielle Bedingungen
Obwohl sich die wirtschaftliche Situation in etlichen ländlich geprägten Regionen in den letzten zwei Dekaden erheblich gebessert hat (z.B. im Emsland, s. https://www.deutschlandfunkkultur.de/das-emsland-in-niedersachsen-boomt-im-land-der-macher.1001.de.html?dram:article_id=400765), gibt es gerade in ostdeutschen Ländern viele ‚abgehängte‘ Regionen (https://www.bbsr.bund.de/BBSR/DE/Raumentwicklung/RaumentwicklungDeutschland/Projekte/abgehaengte-regionen/abgehaengte-regionen-node.html), in denen die Probleme dann schnell kumulativ auftreten. In finanzpolitischer Hinsicht ist das vergleichsweise geringe Steueraufkommen und die Situation der öffentlichen Haushalte in diesen Regionen bedenklich, zumal dies in Relation zu sehen ist zu dem Umfang der Herausforderungen, die oft bevorstehen und zu meistern sind. Dies lässt die Spielräume für „freiwillige Leistungen“ – zumal im Kulturbereich – schrumpfen. Perspektivisch wird sich diese Situation durch die „Schuldenbremse“ ab 2019 noch verschärfen. Für die kulturelle Entwicklung in den Regionen ist jedoch nicht nur die faktische Finanzlage der Kreise und der Gemeinden von Bedeutung, sondern auch die Struktur der Kulturfinanzierung. Die öffentlichen Mittel sind häufig in einem solchen Maße vor allem in den größeren Gemeinden und in den einzelnen Kultureinrichtungen gebunden, dass in vielen kleinen kreisangehörigen Gemeinden faktisch gar keine Kulturförderung mehr stattfindet bzw. nur sehr wenig Mittel zur Verfügung stehen, um außerinstitutionell, projekt- und anlassbezogen Kulturförderung betreiben zu können. Die öffentliche Armut oder Zurückhaltung in diesen ‚abgehängten‘ Regionen korrespondiert dabei oft mit einer ebenso defizitären Lage in den privaten Haushalten, die oft belastet sind mit hohen Kosten, wenn beispielsweise berufsbedingt zwei Autos pro Haushalt zu unterhalten sind. Die üblicherweise geringeren Lebenshaltungskosten in ländlichen Gemeinden werden so für bestimmte Gruppen dennoch zu einem Problem. Und wenn sowohl die öffentlichen als auch die privaten Mittel knapp sind, dann hat dies natürlich Auswirkungen für das Angebot an kulturellen Leistungen wie auch für deren Nachfrage.
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Kulturelles Angebot und Kulturelle Bildung
Das kulturelle Angebot in der Region und die Kulturelle Bildung der Menschen sind entscheidende Voraussetzungen für die kulturelle Teilhabe in ländlichen Räumen. Dabei ist evident, dass vor allem die kulturelle Infrastruktur sich vom städtischen Kulturangebot wesentlich unterscheidet. Die Ortsgröße ist ein klarer Indikator für das Vorhandensein und die Vielfalt der Kultureinrichtungen. Diese Struktur setzt sich auch in den ländlichen Regionen nach unten fort, in denen es in der Regel eine Konzentration der öffentlichen Kulturangebote auf nur wenige Orte gibt. Dies wird wohl auch in Zukunft die Struktur der Verteilung prägen und die ländlichen Räume tendenziell vom Kulturangebot in den Städten abkoppeln. Wo es aber keine Gelegenheit zur kulturellen Partizipation im Sinne der Inanspruchnahme kultureller Einrichtungen gibt, suchen sich die Menschen ihre eigenen Wege, um ihre kulturellen Bedürfnisse zu befriedigen. Dabei spielen ehrenamtlich organisierte Angebote eine große Rolle. Vor allem das Vereinswesen ist dabei (noch) eine tragende Kraft. In kleineren Gemeinden ist die kulturelle Infrastruktur sehr stark gekennzeichnet durch ehrenamtlich geleiteten Einrichtungen (z.B. Heimatmuseen) und Chöre. Ergänzt werden diese nicht selten durch Stätten des kulturellen Erbes (Schlösser, Denkmale) und andere kulturtouristische Destinationen (siehe: Katja Drews „Ländlicher Kulturtourismus - „Dritte Orte“ für (raum)produktive Transformation und partizipative Begegnung"). Für den Bereich der Kulturellen Bildung spielen neben den ehrenamtlich und kommerziell organisierten Angeboten natürlich die Schulen eine gewichtige Rolle.
Bausteine für eine Strategie regionaler Kulturpolitik in strukturschwachen ländlichen Räumen
Erfolgreiche regionale Kulturpolitik muss auf die besonderen strukturellen Bedingungen Rücksicht nehmen, die sie jeweils vor Ort vorfindet, wenn sie einen Transformationsprozess der kulturellen Infrastruktur, sofern diese denn überhaupt vorhanden ist, einleiten oder neue Strukturen aufbauen will. Transformation kann dabei Umbau von Einrichtungen bedeuten. Sie kann aber auch meinen, dass Konzepte und Strategien der Kulturförderung und -vermittlung angepasst werden müssen, um z. B. auch andere – bislang nicht sichtbare – Schlüsselakteure in den Blick zu nehmen und gewohnte Routinen zu durchbrechen. In diesem Prozess der Umorientierung und Neugestaltung kommt wohl keine Region in schwieriger demografischer Lage um die Frage herum, das Verhältnis von Zentralität und Dezentralität, von stationären und mobilen Angeboten, von Kooperation und Konkurrenz, von institutioneller und projektbezogener Förderung, von Angebots- und Nachfrageorientierung, von Innen- und Außenorientierung, von Laienarbeit und Professionalität, von Bewahren und Erneuern, von öffentlichen Offerten und bürgerschaftlichem Engagement sowie von Steuerung und Selbststeuerung zu überdenken. Diese Stichworte markieren die Parameter einer die Kriterien der Verhältnismäßigkeit und Balance berücksichtigenden Kulturpolitik.
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Zentralität und Dezentralität ausgewogen gestalten
Ein entwickeltes kulturelles Angebot bedarf der Zentralität und Dichte. Je mehr Einwohner die Städte haben, umso größer ist im Allgemeinen auch das Kulturangebot und das kulturelle Interesse. Dabei haben die Städte immer auch eine (Mit-)Versorgungsfunktion für ihr regionales Umland, sei es, dass ihre Einrichtungen auch die Kulturinteressierten in der Region gezielt adressieren und zur Teilnahme einladen, sei es, dass sie mit Angeboten (z.B. Ausstellungen, Konzerten etc.) und Zweigstellen (z.B. Bibliotheken) dezentral präsent sind. Regionale Kulturpolitik wird auch in Zukunft auf ein annähernd ausgewogenes Verhältnis von Zentralität und Dezentralität achten müssen, wenn das Prinzip der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse auch kulturell Berücksichtigung finden soll. Dabei kann es selbstverständlich nicht darum gehen, Kulturangebote in gleicher Art und Weise und vergleichbarer Qualität in allen Regionen und Gemeinden vorzuhalten, zumal dies ohnehin Sache der Kreise und kreisfreien Städte ist. Es wird aber notwendig sein, der faktischen Konzentration der Kultureinrichtungen in nur wenigen Städten und dem Automatismus der Zentralität, der allein durch die institutionelle Gravitation bzw. den „Matthäus-Effekt“ („Wer hat, dem wird gegeben.“) entsteht, durch eine bewusste regionale Orientierung gegenzusteuern, um die kulturell und sozial „gelichteten Räume“ wieder zu beleben bzw. lebendig zu halten. Dies ist schon deshalb notwendig, um der Entwicklung weiterer regionaler Disparitäten vorzubeugen und ein „downgrading“ oder eine Abwärtsspirale zu verhindern, die die Lebensqualität und die Zukunftsperspektiven im ländlichen Raum erheblich einschränken könnten, was dann wiederum als Wegzugsmotiv wirksam werden könnte (vgl. Kersten/Neu/Vogel 2012: 76).
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Stationäre Angebote durch mobile Angebote ergänzen
Das Verhältnis von Zentralität und Dezentralität findet seinen Ausdruck nicht zuletzt in der Relation von stationären und mobilen Angeboten. Die Kultureinrichtungen sind das Rückgrat oder das Standbein der kulturellen Infrastruktur. Sie verbürgen Dauer, Professionalität, Qualität und Verlässlichkeit des kulturellen Angebotes und werden dafür mit öffentlichen Mitteln ausgestattet. Im Sinne einer regionalen Orientierung und mit Blick auf die Besonderheiten der kulturellen Infrastruktur im ländlichen Raum sollten sie ihre Aufgabe jedoch nicht nur fokussiert auf ihre eigene Institution sehen, sondern sich auch als Anker- oder Knotenpunkte für das kulturelle Netzwerk und als Motor für die Entwicklung und Stabilisierung akteursorientierter Beziehungsräume in der Region verstehen (siehe: Kristin Bäßler „Kulturelle Feldentwicklung: Wie sich Kultureinrichtungen in ländlichen Räumen weiterentwickeln"). Je mehr öffentliche Einrichtungen in ländlichen Räumen aufgegeben werden müssen, umso mehr wächst die Verantwortung der verbliebenen Einrichtungen, dem Gesamt des Kulturangebotes in der Region Stabilität zu verleihen. Dazu gehört auch, das Verhältnis von „Komm-Strukturen“ und „Geh-Strukturen“ in den Blick zu nehmen und das Kulturangebot mobiler auf den Weg zu bringen. Für die notwendigen institutionellen und managerialen Veränderungsprozesse bedarf es konkreter Hilfen, wie sie die Kulturstiftung des Bundes mit dem TRAFO-Programm anbietet (https://www.trafo-programm.de/).
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Kooperation vor Konkurrenz
Die Teilhabe an kulturellen Bildungsmöglichkeiten steht in Konkurrenz zu vielen anderen Betätigungsmöglichkeiten in der Freizeit. Kultureinrichtungen stehen deshalb in einem Wettbewerb um die Gunst ihrer Besucher*innen und Nutzer*innen und verstehen sich häufig als Solitäre, die nur der Kunst und ihrem Publikum verpflichtet sind. In Regionen mit schrumpfender Bevölkerung und knappen Finanzmitteln kann das Kulturmanagement der Kultureinrichtungen und -akteure jedoch nicht nur auf eine bessere Wettbewerbsposition im Feld bedacht sein, sondern sollte sich im Sinne gemeinsamer Verantwortung auch an den Prinzipien der Zusammenarbeit und Ressourcenoptimierung oder -zusammenlegung orientieren. Es bedarf hier der „Solidarität der Solitäre" (Johannes Rau) und es wird notwendig sein, regionale Kulturförderung stärker als bisher kooperativ und in Netzwerkzusammenhängen zu denken und dabei in trisektoraler Perspektive alle Angebotsträger und Akteure (öffentlich-rechtliche, frei-gemeinnützige und privat-kommerzielle) zu berücksichtigen. Dazu bedarf es geeigneter Methoden, klarer Zuständigkeiten und angemessener materieller sowie immaterieller Ressourcen bzw. die Ermöglichung eines entsprechenden Austausches durch Koordination und Kooperation. Mit dem Konzept der „Kulturknotenpunkte“ hat das Land Schleswig-Holstein dafür einen Ansatz geliefert (vgl. Forbrich 2015 und http://www.landeskulturverband-sh.de/aktivitaeten/kulturknotenpunkte/).
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Institutionelle durch projektbezogene Förderung erweitern
Das Verhältnis von institutioneller und projektbezogener Förderung ist in der Kulturpolitik stark in Bewegung geraten. Immer mehr öffentliche Stellen und private Stiftungen fördern zeitlich befristete Vorhaben und scheuen sich vor langfristigen institutionellen Festlegungen. Dieser Perspektivenwechsel ist bei enger werdenden Finanzspielräumen und der Kostensteigerung bei Institutionen (vor allem Personalkosten) verständlich. Hinzu kommt, dass mit Hilfe projekt- und programmbezogener Förderungen schneller und flexibler auf neue Akteure, Interessen und Optionen reagiert werden kann und konkrete Entwicklungen und Vorhaben in der Region viel zielgenauer unterstützt werden können. Insofern empfiehlt sich die Projektförderung als ein wichtiges Instrument der regionalen Kulturpolitik, um vor allem dezentral aktiv werden zu können. Ähnlich wie in manchen Bundesländern praktiziert (z. B. NRW) wäre dies entweder zentral seitens des Landes oder der Region möglich oder – besser noch – durch einen selbstverwalteten und selbstverantworteten regionalen Fonds, in dem verschiedene Akteure Mittel einspeisen könnten. Zu bedenken ist jedoch, dass die „Projektitis“ inzwischen überhandnimmt und bei vielen kulturellen Akteuren auf Verdruss stößt, weil die Verfahren der Antragstellung, Mittelbewirtschaftung und -abrechnung mitunter sehr aufwendig sind. Deshalb sollten möglichst einfache Verfahren zur Anwendung kommen und ggf. professionelle Beratung und Begleitung auf Regionsebene angeboten werden (vgl. Martin 2015).
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Angebots- und Nachfrageorientierung vermitteln
Das Verhältnis von Angebot und Nachfrage ist auch für den Kulturbereich konstitutiv. Diejenigen Einrichtungen und Angebote, die auf Publikum angewiesen sind, können die kulturellen Interessen und die Nachfrage nicht unberücksichtigt lassen, auch wenn dies nicht das einzige Kriterium ihrer Arbeit ist. Neben der Qualität der (Vermittlungs-)arbeit sind dafür die Interessen und die kulturellen Präferenzen der Menschen in der Region die entscheidenden Bezugspunkte, die sich schon sehr früh herausbilden. Deshalb bleiben die Kulturelle Bildung und ein Angebot, das auf die neuen kulturellen Entwicklungen und Bedürfnisse (Stichwort: Digitalisierung) der Kinder und Jugendlichen reagiert, wichtige Voraussetzungen für die Teilhabe an kulturellen Veranstaltungen und für die eigene kulturelle Aktivität. Unabhängig davon wird es jedoch auch in ländlichen Regionen notwendig sein, über besondere Methoden und Formate des Audience-Buildings nachzudenken und neue, auf die spezifische Situation bezogene Strategien und Konzepte herauszuarbeiten. Dies gilt umso mehr, als es in ländlichen Räumen an professionellen Anbietern im außerschulischen Bereich mangeln wird. Die Vorschuleinrichtungen und die allgemeinbildenden Schulen haben deshalb hier eine noch größere Bedeutung für die kulturelle Bildung.
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Innen- und Außenorientierung ausbalancieren
Das Verhältnis von „innen“ und „außen“ ist vor allem mit Blick auf die überregional wirksamen Kultureinrichtungen im Zusammenhang mit dem Kulturtourismus bedeutsam. Es ist verständlich und zielführend, wenn Kultureinrichtungen sich nach außen orientieren und dabei vor allem auch Kulturtouristen im Blick haben. Allerdings sollten die Strategien für diesen Bereich realitätsnah formuliert werden und an den tatsächlichen regionalen Potenzialen orientiert sein. Ferner muss bedacht werden, dass es womöglich problematisch ist, sich kulturpolitisch auf eine bestimmte Klientel zu fokussieren (z. B. ältere reisefreudige Menschen mit historischen Interessen und Aktivurlauber), denn Kulturpolitik ist nicht nur eine Serviceleistung für den Kulturtourismus, sondern sollte vor allem die heimische Bevölkerung im Blick haben und (auch) junge Menschen sowie Familien und nicht zuletzt auch Zuzügler*innen und Migranten*innen adressieren. Gerade in überalterten oder „unterjüngten“ Regionen ist die Zukunftsperspektive für die Menschen vor Ort bedeutsam. Hier gilt es, eine vernünftige Balance einzuhalten, insbesondere durch die Stärkung von Angeboten im Feld der Kulturellen Bildung – zumal Kulturtourismus nicht ohne ein kulturelles Fundament und kulturpraktizierende sowie -interessierte Einwohner*innen funktionieren kann. Zugleich ist daran zu arbeiten, die Sichtbarkeit der kulturellen Stärken (insbesondere auch derer, die bislang keine Leuchttürme darstellen) nach innen wie nach außen zu verbessern.
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Laienarbeit qualifizieren
Insbesondere ist in ländlichen Regionen das Verhältnis von Professionalität und Laienarbeit zu bedenken. Ohne ehrenamtliches Engagement lässt sich die Breitenkultur in ländlichen Räumen nicht aufrechterhalten. Allerdings gibt es auch hier das Problem der Überalterung in den Vereinsvorständen und die sehr traditionelle Ausrichtung und Anmutung der Angebote und Aktivitäten, die ein jüngeres Publikum nicht mehr oder nicht mehr ausreichend erreichen. Allerdings wird in der Kulturwissenschaft auch eine Veränderung der Publikumsrolle diagnostiziert und gerade bei jüngeren Menschen das Bedürfnis nach mehr Expressivität und Authentizität gesehen, das einer „profanen" Laienkultur, in der die Adressat*innen/Akteur*innen mehr als Teilnehmer*innen und Mitspieler*innen agieren könnten, wieder größere Attraktivität einräumt (s. Göschel 2013). Hier bedarf es womöglich gezielter Anstrengungen zum Coaching und zur Qualifizierung der Akteure in den Vereinen und zur Aktivierung junger aktiver Menschen, um solche (sozio-)kulturellen Settings herzustellen. Dies wird nicht allein aus der Vereinslandschaft selbst entstehen, sondern bedarf der Unterstützung von außen, die jedoch sensibel vorgehen sollte und sich des „metropolitanen Kolonialismus“ (vgl. Martin 2015: 39) bewusst sein muss. Regionale Kulturpolitik sollte auch dieses Thema in den Blick nehmen und Angebote zur Information und Qualifikation machen, aber auch zur Vernetzung z. B. von „alten“ und „jungen“ Vereinen (Tandems u. ä.) beitragen.
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Balance zwischen Neuem und Altem finden
Kulturarbeit in ländlichen Räumen steht wie alle Kulturarbeit im Spannungsfeld von Kontinuität und Innovation. Das Potenzial des historischen Erbes, die über Generationen gewachsenen Alltagskulturen und das Angebot an institutionell verbürgter kultureller Vermittlung steht unter Druck durch die beschriebenen strukturellen Entwicklungen in der Region, durch allgemeine gesellschaftliche Veränderungsprozesse (Stichwort: Ab-/Zuwanderung, Digitalisierung, Medialisierung), aber auch durch veränderte kulturelle Interessen, vor allem der jüngeren Menschen vor Ort sowie derjenigen, die einen Migrationshintergrund haben und in der Regel aus ganz anderen kulturellen Kontexten kommen. Gerade diesen Menschen, die auch in ländlichen Regionen benötigt werden, sollte im Sinne einer „Willkommens- und Anerkennungskultur“ mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden. Dabei gilt es, eine Balance zu finden zwischen dem Bewahren althergebrachter Traditionen und Gewohnheiten und den veränderten soziokulturellen Bedarfslagen und Interessen der Zuwander*innen, auch mit Blick auf die eigenaktive kulturelle Teilhabe und die eher rezeptive Inanspruchnahme kultureller Angebote. Jenseits neuer Strategien und neuer Inhalte sind auch neue Orte und Akteure in den Blick zu nehmen. Künstler*innen und Kreative können dabei wichtige Schlüsselpersonen, Vermittler*innen und Impulsgeber*innen sein. Deren Sichtbarmachung und „Ermächtigung“ als Mitgestalter von Kulturentwicklungsprozessen sollte größere Priorität eingeräumt werden.
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Bürgerschaftliches Engagement und individuelle Akteure stärken
Gerade in ländlichen Regionen, in denen das öffentliche Angebot eher gering ist, spielt das bürgerschaftliche Engagement eine wichtige Rolle. Um es zu entwickeln und zu unterstützen, ist ein subsidiärer Beistand durch Engagement fördernde Infrastrukturen und Strategien notwendig. Dies setzt ein sensibel austariertes Verhältnis von Steuerung und Selbststeuerung voraus. Es ist bekannt, dass durch bürgerschaftliches Engagement hervorgebrachte Lösungen „oftmals von besonderer Kreativität und Innovationskraft“ zeugen und häufig „passfähiger“ sind als Ansätze, die von oben entwickelt werden, weil sie auf die endogenen Vor-Ort-Potenziale zugrückgreifen (s. Kennel/Neumüllers/Willisch 2015: 2). Deshalb sollte jede unterstützende Politik von außen darauf bedacht sein, diese Potenziale zu stärken und nicht zu beschädigen. Die Initiativen, die aus der Gesellschaft kommen, müssen ernst genommen werden und dies zumal dann, wenn sie in lokale/regionale Strukturen „eingebettet“ und kooperativ angelegt wirken, weil sie dann gemeinschaftsbildend sind, den sozialen Zusammenhalt stärken und neue Formen der kulturellen Beheimatung möglich werden (ebd.). Dies ist einmal mehr ein Argument dafür, regionale Kulturförderung so situationsnah und struktursensibel wie möglich zu organisieren. Wo Kultureinrichtungen, -netzwerke und -vereinigungen fehlen, sollte Kulturförderung bis auf die Ebene einzelner Akteure reichen, die als „Raumpioniere“, „Local Heroes“, „Prosumenten“ und „Dorfkümmerer“ kulturelles Engagement wieder entfachen können. Solche "Schlüsselpersonen für Entwicklungsprozesse" sind oft hoch wirksam. Dies zeigt die Erfahrung, dass es oft nur weniger Engagierter braucht, um einen gestaltungsorientierten Prozess vor Ort in Gang zu setzen (s. Kennel/Nielmüllers/Willisch 2015: 4; vgl. dazu kritisch Martin 2015).
Schlussbemerkungen
Kulturpolitik für ländliche Räume beginnt nicht bei Null. Seit Jahrzehnten wird darüber nachgedacht, werden Konzepte entwickelt und umgesetzt. Aktuell gibt es die Chance, diesen Bemühungen einen neuen Schub zu geben. Es bleibt zu hoffen, dass diese dieses Mal konsequenter genutzt wird und einen nachhaltigen Veränderungsprozess in Gang setzt. Voraussetzung des Handelns sollte sein, dass Kultur in ländlichen Räumen sich unterscheidet von der Situation in den Städten. Es kann deshalb nicht darum gehen, städtische Konzepte auf die ländlichen Räume zu übertragen. Vielmehr geht es darum, die besonderen Voraussetzungen und spezifischen Bedarfe zu eruieren und passgenaue Strategien und Instrumente der regionalen Kulturpolitik und -förderung mit allen Beteiligten, die in den Kreisen und Gemeinden, den Vereinen und Initiativen und in den Kirchen und anderen Religionsgemeinschaften tätig sind, zu entwickeln. Das ist eine herausfordernde, aber auch lohnende Aufgabe.