Kulturkritik und Kommerzialisierung
„Kulturkritik“ bezeichnet ein recht heterogenes Feld von Denkansätzen, die soziale Zustände be- und anklagen und in eine allgemeine Geschichte des Verfalls von Werten und Verhaltensnormen einordnen. Im engeren Sinn stellt Kulturkritik einen „Reflexionsmodus der Moderne [dar], der mit ihr entsteht und gegen ihre Zumutungen Einspruch erhebt“ (Bollenbeck 2007:10). Für zunehmende Entfremdung und Veräußerlichung, für den Verlust sozialmoralischer Werte und geistiger Maßstäbe werden sehr unterschiedliche Entwicklungen verantwortlich gemacht. Vereinfachend kann man vier Grundlinien unterscheiden, die sich konkret in wechselnden Mischungsverhältnissen verbinden. Der antimodernen Perspektive gilt der Verlust einer verbindlichen Werte- und Sozialordnung in der Folge rationalistischer Aufklärung als entscheidende Ursache. Aus elitärer Sicht ist der Aufstieg der Massen zur dominierenden sozialen und politischen Kraft verantwortlich. Für die KritikerInnen der Technik hat vor allem die Unterwerfung unter die mit Großtechnologien verbundenen Zwänge zerstörerische Folgen. Kapitalismuskritische Varianten schließlich skandalisieren die Verwandlung aller sozialen Bindungen in Ware-Geld-Beziehungen.
Der deutsche Diskurs über Kulturelle Bildung ist historisch wie aktuell in zweifacher Hinsicht mit kulturkritischem Denken verbunden. Zum einen werden Kunst und ästhetische Erziehung überhöhend mit der Aufgabe betraut, dem epochalen kulturellen Niedergang entgegenzuwirken. Als Ursache der Abwärtsspirale gilt zweitens häufig die Ausbreitung marktwirtschaftlicher Strukturen in geistig-künstlerische Felder hinein. Die sogenannte Kommerzialisierung bewirke über die Bindung kultureller Produktion an Marktgängigkeit zum einen den Verlust kreativer Autonomie und führe zur anhaltenden Senkung ästhetischer und geistiger Standards (siehe Max Fuchs „Kunstfreiheit und Kunstautonomie – Facetten einer komplexen Leitformel“); zum anderen untergrabe die vorrangige Orientierung an wirtschaftlichem Nutzen und Gewinn die Anerkennung und Förderung von Kultur durch die Gesellschaft. Die beiden Aspekte werden daher hier besonders beachtet.
Ästhetische Erziehung
Kulturkritik wie Kommerzialisierungskritik sind keine spezifisch deutschen Phänomene. Sie liefern allen westlich-modernen Gesellschaften herausfordernde Impulse zur Selbstreflexion; dafür stehen der Franzose Jean-Jacques Rousseau wie der Brite Matthew Arnold oder der Amerikaner Henry David Thoreau. Reichweite und Geltung kulturkritischer Argumente sind jeweils im Einzelfall zu erörtern. Im deutschen Sprachraum artikuliert der Diskurs über Bildung und Kultur seit Klassik und Romantik eine ausgeprägte Distanz zur politischen und ökonomischen Praxis der bürgerlichen Gesellschaft (Bollenbeck 1994). Bildung und Kultur werden meist im Gegensatz zu Markt und Erwerbstätigkeit gedacht; eine wichtige Rolle spielt dabei die Rezeption von Friedrich Schillers „Briefen über die ästhetische Erziehung“ (1966/1795). Nach deren Diagnose beschränken Arbeitsteilung, Spezialisierung und Abstraktifizierung des Denkens wie der beruflichen Tätigkeit zunehmend die Möglichkeit der Einzelnen, sich als ganze Menschen zu entfalten. „Ewig nur an ein einzelnes kleines Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch selbst nur als Bruchstück aus, ewig nur das eintönige Geräusch des Rades, das er umtreibt, im Ohre, entwickelt er nie die Harmonie seines Wesens“ (a.a.O.:455). Schillers bildungsidealistische Antwort geht – zugespitzt – nicht in die einige Jahrzehnte später von Karl Marx verfolgte Richtung, der angesichts dehumanisierender Strukturen die Verhältnisse menschlich bilden wollte. Schiller sieht den Ausweg in der „ästhetischen Erziehung“ mithilfe der Potentiale der Kunst: Nur im freien Spiel mit dem im Kunstwerk geformten vernünftigen Schönen sei die sinnlich-geistige Ganzheit des Menschen wieder zu gewinnen (siehe Cornelie Dietrich „Ästhetische Erziehung“).
Schiller appelliert an den Künstler als letzte Hoffnung der Kultur und der Menschen:
„Verjage die Willkür, die Frivolität, die Rohigkeit aus ihren Vergnügungen, so wirst du sie unvermerkt auch aus ihren Handlungen, endlich aus ihren Gesinnungen verbannen“ (465). Erst und einzig der Durchgang durch die ästhetische Freiheit gegenüber der Welt eröffne den Weg zur umfassenden Freiheit des Menschen und zum Ideal des „ästhetischen Staats“ (519).
„Kultureller Antikapitalismus“
Die Dominanz bildungsbürgerlich geprägter Intellektueller über wirtschaftsbürgerliche Sichtweisen führte in der kulturellen Öffentlichkeit des 19. Jh.s zu einer ausgeprägt kritischen Sicht auf die Dynamik des Kultur- und Medienmarkts. Zwar waren es auch in Deutschland innovative unternehmerische Initiativen, die – in Verbindung mit Alphabetisierung und Verstädterung – der Bevölkerung Zugang zu Künsten und ästhetisch gestalteten Gütern des täglichen Gebrauchs eröffneten. Und obwohl vieles in der Populärkultur klassische Schönheitsmaßstäbe verletzte und aufgeklärt-humanistischer Moral widersprach – es gab durchaus Konzepte ästhetischer Volkserziehung, die positiv daran ansetzten. Vorrangig jedoch und mit breiter Resonanz kritisierte der Diskurs über die entstehende Massenkultur Aspekte, die man aus bürgerlicher Perspektive als Sensationalismus, Zerstörung von Werten und Geschmack, Schüren von Sozialneid u.ä. wahrnahm. Als Erklärungs- und Deutungsrahmen diente dabei seit dem letzten Drittel des 19. Jh.s weithin jenes Modell, das später als Kommerzialisierung etikettiert wurde. Danach nötigte die Logik des Marktes mit dem Streben nach möglichst breitem Verkauf der Kulturwaren und nach intensiver Bindung der KäuferInnen die ProduzentInnen (auch die geistigen), ständig die Anspruchsschwellen zu senken und an den niedrigsten Trieben der größten Zahl anzuknüpfen.
Der Einfluss einer grundsätzlich in Distanz zur Sphäre von Geschäft, Erwerb, praktischem Nutzen stehenden Kulturkritik zeigte sich vor allem darin, dass weit über alle konkreten Monita hinaus die Verknüpfung von Gewinninteresse und „Kultur“ grundsätzlich als illegitim und schädlich galt (Maase 2001). Angesichts der vermuteten Unfähigkeit von Volk und Jugend, den sinnlich-triebhaften Verführungen durch „sex and crime“ zu widerstehen, lehnte man kommerzielle Kulturaktivitäten als Übergriff in den Zuständigkeitsbereich kulturpädagogischer ExpertInnen ab, die einzig ästhetisch-ideellen Maßstäben verpflichtet seien. HistorikerInnen haben diese Einstellung, die sogar Forderungen zur Verstaatlichung beispielsweise der Filmindustrie einschloss, als „sozialkonservativen“, „regressiven“ oder „kulturellen Antikapitalismus“ bezeichnet (a.a.O.:328-339). Radikale Kommerzialisierungskritik hat, teilweise mit antisemitischen Subtexten, bis in die zweite Hälfte des 20. Jh.s hinein etwa die Bewegungen gegen „Schmutz und Schund“ und für ästhetische Volkserziehung geprägt (Jäger 1988; Maase 2002).
Kulturindustrie und kulturelle Ökonomie
Vor diesem Hintergrund fand kulturkritisches Denken bis in die 1960er Jahre erhebliche Resonanz (vgl. Bollenbeck 2007:233-251, 263-273). Zwei Ansätze beeinflussen die intellektuelle Sicht auf die Gegenwartskultur bis heute: die Kritische Theorie der Frankfurter Schule und Günter Anders‘ Technik- und Medienkritik. Vielleicht müsste man umgekehrt formulieren: Diese Gedanken wurden breiter rezipiert, insoweit sie sich ins Raster überkommener Kommerzialisierungs- und Kulturkritik einpassen ließen. Die grundlegende Kritik von Max Horkheimers und Theodor W. Adornos (1991/1947) „Dialektik der Aufklärung“ an der beschränkten Zweckrationalität der westlichen Moderne (vgl. Wiggershaus 2010; Honneth 2007) erreichte nur wenige. Wichtig für die „intellektuelle Gründung der Bundesrepublik“ (Albrecht 1999) und für den Blick auf die Gegenwart wurden ausgewählte Gedanken aus dem Kapitel „Kulturindustrie“. Den Begriff kommerzialisierungskritisch verkürzend, konzentrierte man sich auf die Kritik der Massenkultur und beklagte als Ursache für ästhetischen Niedergang und Werteverlust die Verwandlung populärer Kultur in Ware. Dass die Autoren sich von selbstgerechter konservativer Kulturkritik abgrenzten (Adorno 1955), dass sie gerade nicht eine kommerziell verdummende Massenkultur den vermeintlich bleibenden Werten der tradierten Hochkultur gegenüberstellten, dass sie vielmehr in der Spaltung von leichter und autonomer Kunst das Grundproblem der Kultur sahen (Horkheimer/Adorno 1991:121) – all das überging die mehrheitliche Rezeption der Kritischen Theorie und verwandelte so die radikale Selbstkritik der europäischen Aufklärung in das Lamento intellektueller Eliten über den Niveauverlust der anderen.
Günter Anders (1956) konzentriert seine Kulturdiagnose im Bild des „prometheischen Gefälles“. Der moderne Mensch sei der Perfektion seiner Produkte und technischen Apparaturen nicht gewachsen; er stelle mehr her, als er sich mit Blick auf die Effekte vorstellen und verantworten könne. Aus dieser Perspektive ist seine Kritik an Rundfunk und Fernsehen auch keine am Programm und an dessen „Niveau“. Dass es sich hier um kommerzielle Unternehmen handele, ist impliziert (Anders machte seine diesbezüglichen Erfahrungen wie Horkheimer und Adorno in den USA), aber nicht wesentlich für die Argumentation. Die setzt vielmehr an der ontologischen Konstellation an, dass über Lautsprecher und Bildschirm die Welt zum Menschen komme statt er zu ihr; dass er sie so nur in Gestalt von leicht verdaulichen „Phantomen“ erfahre und dass letztlich das wirkliche Geschehen so hergerichtet werde, dass es zum Bild nach den Erwartungen der Medien tauge.
Kulturkritische Denkmuster sind quasi in den Genpool deutscher Kulturreflexion eingegangen. Doch hat die These, wonach vom Kulturmarkt im Grunde nur Negatives zu erwarten sei, in neuerer Zeit erheblich an Durchschlagskraft verloren. Dafür sind Entwicklungen in der Theorie wie in der Empirie verantwortlich. Vor allem die britischen Cultural Studies (vgl. Hepp 2009) haben die Annahme erschüttert, das Massenpublikum sei den Botschaften kommerzieller Anbieter passiv ausgesetzt. So unterscheidet John Fiske (1989:23-47, 2001) im Feld der populären Kultur „zwei Ökonomien“. Die Imperative der Gewinnmaximierung beherrschen danach den finanziellen Bereich zwischen der Produktion entsprechender Waren und deren Kauf bzw. dem „Verkauf“ der durch Programme und Medien versammelten Publika an die werbetreibende Industrie. Daran schließe die „kulturelle Ökonomie“ an, in der Menschen kommunikativ und auf der Suche nach durchaus vielfältigen Varianten von Vergnügen ihre Lesarten der Botschaften entwickeln und austauschen. Die von ihnen erzeugten Bedeutungen könnten bis zur widerständigen Umkehrung dessen reichen, was die ProduzentInnen beabsichtigten.
In konkreten Studien hat etwa Werner Faulstich (Faulstich 1996; Faulstich/Strobel 1987) an einem zutiefst kommerziellen Phänomen wie dem Bestseller gezeigt, dass dessen Durchsetzung mit einem Zugewinn an künstlerischer Komplexität der Werke sowie an demokratischer Autonomie und ästhetischer Kompetenz des Publikums verbunden war. Ebenso weisen Untersuchungen zur „participatory culture“ aktiver NutzerInnen von elektronischen und internetbasierten Medien darauf hin, dass sich neue Konflikte und Aushandlungsformen zwischen kommerziellen AnbieterInnen und NutzerInnen, die sich an der Inhaltsproduktion beteiligen wollen, entwickeln (vgl. exemplarisch Jenkins 2006b; anregend auch Johnson 2006). Ohne Illusionen über Reichweite und Unabhängigkeit der Kreativität im Web 2.0 und in Social Media zu hegen, erweist sich angesichts derartiger Veränderungen die Gleichsetzung von Kommerzialisierung mit Werte- und Individualitätsverlust als eindeutig unterkomplex.
Relevanz für Kulturelle Bildung
Konzepte Kultureller Bildung in Deutschland sind seit weit über 100 Jahren in Diskursumwelten entstanden, die fraglose Annahmen über kulturelle Abwärtsspiralen, Entfremdungsprozesse und den Verlust ganzheitlicher Individualität als Folge moderner Massenkultur pflegten. Das hat dazu beigetragen, dass kulturpädagogische AkteurInnen sich häufig im prinzipiellen Gegensatz zur zunehmend medientechnisch und marktförmig vermittelten kulturellen Kommunikation und kreativen Praxis der Massendemokratie positioniert haben (vgl. etwa Schormann 2011). Daher gehört differenzierte Auseinandersetzung mit kulturkritischen Axiomen weiterhin zu einem zeitgemäßen Selbstverständnis Kultureller Bildung.