Kulturgeschichte der DDR – Gegenstand und Narrative

Artikel-Metadaten

von Gerd Dietrich

Erscheinungsjahr: 2021

Abstract

In diesem Artikel geht es zum einen um die Grundlagen materialistischer Kulturgeschichte, den Gegenstand von Kulturgeschichte auf der Basis eines weiten Kulturbegriffs und um die Vernachlässigung von Kulturgeschichte in der DDR-Geschichtsschreibung. Zum anderen werden der hohe Stellenwert von Kultur für die DDR-Gesellschaft sowie sieben allgemeine kulturpolitische Narrative bestimmt und die spezifische Kulturpolitik in den kulturellen Prozess eingeordnet.

Die Kulturgeschichte von Gesellschaften des 20. Jahrhunderts kann sich nicht auf eine Geschichte der Eliten beschränken, sie muss eine Geschichte des modernen Menschen in seinen unterschiedlichen sozialen und kulturellen Lagen sein. Freilich kann in einer umfassenden Kulturgeschichte kaum der einzelne Mensch in den Blick genommen werden. „Wir können es gar nicht allgemein genug sagen. Sieh nur die Losungen an. Da steht nichts von Hinze und Kunze. Im Mittelpunkt steht der Mensch, nicht der einzelne.“ (Braun 1991:124) So paraphrasierte Volker Braun Mitte der 1980er ein zentrales Postulat der SED-Politik. Die Historiker*innen freilich behelfen sich mit Eliten, Klassen und Schichten, mit Generationen und Milieus, mit Regionen und Nationalitäten, um sich Menschen bzw. Menschengruppen zu nähern.

Die Kulturgeschichte der Gesellschaft muss zugleich den Praxisaspekt von Kultur hervorheben. Wie es Karl Marx betont hat: „In der Praxis muss der Mensch die Wahrheit, i. e. [id est – das heißt] Wirklichkeit und Macht, Diesseitigkeit seines Denkens beweisen [...] Alles gesellschaftliche Leben ist wesentlich praktisch.“ (Marx [1845]1972 Band I:196ff) Zwar sei der materialistischen Lehre, „dass die Menschen Produkte der Umstände und der Erziehung sind“, beizupflichten, doch vergesse diese Lehre, „dass die Umstände von den Menschen verändert und der Erzieher selbst erzogen werden muss [...] Der Standpunkt des alten Materialismus ist die bürgerliche Gesellschaft, der Standpunkt des neuen, die menschliche Gesellschaft oder die gesellschaftliche Menschheit.“ (ebd.)

Wenn in der DDR auch zuweilen anders interpretiert, hatte Marx dabei eine moderne und demokratische Gesellschaft im Auge. Und zur Dialektik dieser kulturellen menschlichen Praxis notierte schon der junge Marx: „Die Menschen machen ihre Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbst gewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen. Die Tradition aller toten Geschlechter lasten wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden.“ (Marx [1851]1972 Band II:308). Nach dem Ende des Staatssozialismus hatte eine Berufung auf Marx schlechte Karten. Doch sein historisch-materialistischer Ansatz bleibt ein wesentlicher Beitrag zur modernen Kulturtheorie (vgl. Scharfe 2020:94 ff.). Und materialistische Konzepte, etwa von Antonio Gramsci, Walter Benjamin, Louis Althusser, Raymond Williams, Pierre Bourdieu oder Fredric Jameson, entwickelten die Erkenntnisse von Karl Marx weiter.

Kulturgeschichte als dritter großer Bereich der Geschichtswissenschaft, neben der Politik- und Wirtschaftsgeschichte, blieb in der DDR ein vernachlässigtes Gebiet. Das hatte mehrere Gründe: So kollidierten die kulturellen Realitäten häufig mit dem Selbstbild und den Geschichtsvorstellungen der SED-Führung. Zudem waren die wissenschaftlichen Voraussetzungen ungünstig, kultursoziologische Forschungen gab es kaum und die auf das Politische fixierte Geschichtsschreibung zögerte lange, eine kulturgeschichtliche Sparte überhaupt zuzulassen. Zwar hatte der Historiker Joachim Streisand in den 1970er Jahren an einer Kulturgeschichte der DDR gearbeitet und Vorlesungen dazu gehalten. Er konnte diese Arbeit aber nicht selbst abschließen (vgl. Streisand 1981). Und in den Grundsatzpublikationen der „Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED“ war zwar von verschiedenen Etappen der sozialistischen Kulturrevolution die Rede, diese entsprachen aber den jeweils aktuellen politischen Prämissen und gründeten sich nicht auf historische Forschungen (vgl. Koch 1959; Hanke/Rossow 1977). Handhabbar waren lediglich umfangreiche Chronologien kulturpolitischer Ereignisse und des künstlerischen Volksschaffens, die jene Akademie sowie das Zentralhaus für Kulturarbeit publizierten (vgl. Kulturpolitisches Wörterbuch 1970 und 1978; Unsere Kultur. DDR – Zeittafel 1945-1987 1989; Chronik des künstlerischen Volksschaffens 1945-1951 1970. Es folgten zehn weitere Broschüren, die den Zeitraum bis 1974 abdeckten).

Ansätze marxistischer Kulturgeschichte in der DDR gingen bezeichnenderweise nicht von Historiker*innen aus, sondern waren mit den Namen von Kulturwissenschaftler*innen und Volkskundler*innen verbunden. Bereits 1964 setzte sich Dietrich Mühlberg mit der verbreiteten engen Kulturauffassung und einer schematischen Trennung von materieller und geistiger Kultur auseinander und schlussfolgerte:

„Die Kulturgeschichte stellt den Entstehungsgang des modernen gesellschaftlichen Individuums in allen seinen Beziehungen durch die verschiedenen Gesellschaftsformationen und lokalen Kulturen dar. Das ist der fortwährende Prozess der subjektiven Aneignung und gleichzeitigen Erweiterung der objektiven schöpferischen Möglichkeiten (die die Kulturgeschichte in dem tatsächlichen Beziehungsreichtum und der wirklichen Freiheit des Individuums gegenüber der Natur und der Gesellschaft erfasst) durch die gesellschaftlichen Individuen und der geistige Reflex dieses schöpferischen Prozesses.“ (Mühlberg 1964:1053) 

Wichtige Anregungen für eine Kulturgeschichte der DDR gingen schließlich von dem Projekt des deutsch-deutschen vergleichenden kulturpolitischen Wörterbuchs aus, das 1983/1988 bei Metzler (vgl. Langenbucher/Rytlewski/Weyergraf 1988) erschien.

Gegenstand der Kulturgeschichte

Für eine Kulturgeschichte der DDR „dürfte von besonderem Interesse sein, dass die Verfechter des gesellschaftlichen Organisationskonzepts von kulturkritischen Ideen geleitet waren, im Ansatz also von kulturellen Prämissen ausgegangen waren, die dann nach und nach verändert, schließlich vernachlässigt und praktisch aufgegeben worden sind“ (Mühlberg 1993:24). So vermutete Mühlberg, „dass die ostdeutsche Kulturgeschichte wahrscheinlich durch zwei divergierende Konzepte und Trends geprägt worden ist. Einerseits wurde versucht, eine ‚Kulturgesellschaft‘ bestimmten Typs zu schaffen, die innere Widersprüche und negative Trends der Modernisierung aufhält, umkehrt oder vermeidet, wie sie am Ende des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Gesellschaft zu zerstören drohten. Andererseits aber folgte diese Gesellschaft zugleich zwangsläufig den Modernisierungstendenzen einer entwickelten Industriegesellschaft (in der Mitte Europas), ihre Organisatoren mussten das Gesellschaftskonzept anpassen und dabei nach und nach intendierte Ziele aufgeben oder in eine unbestimmte Zukunft verweisen.“ (Mühlberg 1993:36f.)

Zwar gehörte es seit je her zu den Grundlagen des sozialistischen Projekts, die menschliche Arbeit und Praxis als Ort der Entfaltung der Persönlichkeit und des gesellschaftlichen Reichtums zu verstehen. Aber in der Konfrontation mit der wirtschaftlich stärkeren Bundesrepublik wurden in der Selbstdarstellung der DDR die kulturellen Werte zumeist höher veranschlagt als die Ökonomie. Denn jene „systembedingte Hypertrophie von ‚Ideen‘, ‚Idealen‘ und programmatischen Vorstellungen“, sollte „eine Alternative zum gnadenlosen Werteverschleiß der westdeutschen Marktwirtschaft“ verdeutlichen und die nationale Geisteskultur in der ostdeutschen Gesellschaft verankern. Daraus war in der DDR eine eigentümliche Verflechtung der ideologischen Machtausübung mit beachtlichen Leistungen entstanden, „die für die Denkmalpflege, für kulturelle Schöpfungen wie für die geisteswissenschaftliche Forschung erbracht wurden, und in denen Utopisches – auch als Widerstand – umging“ (Lehmann 1996:406f.).

Die Kultur blieb ein Feld des Miteinanders und der Gegensätze von Kulturproduzent*innen, Kulturvermittler*innen und Kulturkonsument*innen, von Intellektuellen und Ideologen, ein Feld der Spannungen zwischen Personen und Gruppen, Strukturen und Institutionen. Das war immer auch ein Kampf um Hegemonie. Diese Wechselspiele und die sich verändernden Dominanz- und Kräfteverhältnisse prägten die Kulturgeschichte der DDR und führten zur Fort- bzw. Herausbildung spezifisch traditioneller, intellektueller und populärer, reformerischer und revolutionärer, offizieller und affirmativer, oppositioneller und alternativer Kulturen. Während bisherige Darstellungen in der Regel davon ausgingen, dass die SED-Politik die kulturellen Entwicklungen dominierte und ihre Richtung bestimmte, was zu einem relativ einspurigen und simplen Schema führte, soll nunmehr eine Veränderung der Perspektive vorgenommen werden. Gegenüber der bisherigen Dominanz des Politischen wird ein kulturgeschichtlicher Ansatz favorisiert: Kulturpolitik als Teil eines kulturellen Feldes. Der Politik wird keine Schlüsselstellung eingeräumt, sondern Kultur und Politik werden in ihrer wechselnden Hegemonie und gegenseitigen Einflussnahme betrachtet. Ausgangspunkt ist der Prozesscharakter von Kultur, hineingestellt in die Ambivalenz und Widersprüchlichkeit der DDR-Gesellschaft. Denn die Kultur hat auch eine andere Zeit als die Politik und die Geschichte.

Methodisch geht es darum, sich von der dominierenden politischen Geschichtsschreibung zu lösen und die DDR stärker mit kulturwissenschaftlichen und praxeologischen Ansätzen zu untersuchen, um sie „ambivalenzfähig zu machen“ (Niethammer 2006:11). Ein kulturgeschichtlicher Ansatz versteht sich „in gleichzeitiger Distanz zur politischen Ereignisgeschichte und zur nachhegelschen Geschichtsphilosophie“ (Kittsteiner 1997:16). Eine solche Kulturgeschichte hat sich weder „der politischen Bewertung der nationalen Ereignisgeschichte verschrieben, noch glaubt sie, auf der Sturmwoge des universalen Fortschritts zu segeln [...] Sie betrachtet zunächst nur die Befindlichkeit der Menschen in den von ihnen selbst geschaffenen Strukturen, über deren Gesamtbewegung sie gleichwohl nicht verfügen. Dieser Versuch, erst einmal Distanz zu gewinnen, macht Kulturgeschichte interessant für unsere Gegenwart.“ (ebd.) Die Befindlichkeiten der Menschen in der DDR sind inzwischen in unzähligen Einzeldarstellungen, Erinnerungen und Erzählungen über das Leben, die Arbeit und den Alltag, über Populärkultur und Volkskunst, über Literatur und Kunst, Musik und Theater, Film und Fernsehen wie auch in Publikationen zur Politik-, Sozial-, Wirtschafts- und Alltagsgeschichte der DDR beschrieben worden. Eine zusammenfassende Geschichte der Kultur in der DDR bzw. eine Kulturgeschichte der DDR aber gab es nicht, nicht einmal eine Gesamtgeschichte ihrer Kulturpolitik.

Kulturgeschichte der DDR-Gesellschaft: Eine Einordnung

Kulturgeschichte der DDR-Gesellschaft, damit ist der Rahmen vorgegeben: Historisch geht es um die Zeit von 1945 bis 1990, die Einbeziehung der Jahre 1945 bis 1949 ist keine Frage mehr. Räumlich geht es um das Gebiet der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) bzw. der DDR, das 1945 mit dem Potsdamer Abkommen festgelegt war. Auch wenn vielfach das Synonym Ostdeutschland dafür im Gebrauch ist, sollte nicht vergessen werden, dass auch die „Ostdeutschen“ erst lernen mussten, Ostdeutsche zu sein. Bis 1945 galt dieser Raum als Mitteldeutschland. Erst die neuen Grenzen im Osten verschoben die geographische Zuordnung. Inhaltlich geht es um Kultur, genauer gesagt, um eine Vielfalt von Kulturen, um die Zusammenhänge und Unterschiede zwischen populärer, politischer und künstlerischer Kultur, zwischen Traditionen und Utopien, zwischen Alltag und Feiertag, zwischen Gesellschaft und Kultur. Einerseits sind die Erklärungsmuster auf historische Sinn- und Bedeutungszusammenhänge gerichtet, andererseits wird Kultur als ein relativ selbständiger Teilbereich der Gesellschaft betrachtet und „als System mit eigener Kohärenz“ (Bourdieu 2004:57) behandelt.

Auch die drei bundesdeutschen Kulturgeschichten von Hermann Glaser, von Jost Hermand, von Axel Schildt und Detlef Siegfried verweilten pragmatisch bei Kultur als einer gesellschaftlichen Teilkategorie, aber sie erweiterten diese schrittweise um Alltags- und Populärkultur, um Medien und politische Kultur. Der Ansatz von Schildt/Siegfried „beruht auf der Annahme einer Interdependenz gesellschaftlicher und kultureller Prozesse“. Sie legten ihrer „Darstellung eine idealtypische Unterteilung in Alltags- und Populärkultur, politische Kultur und die Künste zugrunde, die alle Kapitel gleichermaßen strukturiert und eine Erzählung so anlegen lässt, dass lange Linien der Kontinuität, aber auch die Parallelität oder Ungleichzeitigkeit von Bruchstellen entdeckt werden können“ (Schildt/Siegfried 2009:15). Gemäß dem Untertitel beschrieben sie nur einen der beiden deutschen Wege nach 1945 und konzentrieren sich auf den westdeutschen Kulturraum. Der Platz für die andere deutsche Kulturgeschichte blieb frei. Diese Herausforderung stellt sich dieser Artikel in Kurzform und die dreibändige Ausgabe „Kulturgeschichte der DDR“ des Autors (vgl. Dietrich 2019) in Langform.

Eine vergleichbare idealtypische Unterteilung wird auch hier als Orientierung verfolgt. Zwangsläufig erfordert dieses breite Konzept Schwerpunktsetzungen und Eingrenzungen. Die Darstellung von populärer, politischer und hoher Kultur kann nicht gleichmäßig sein, da sich Wertungen und Bedeutungen historisch verschieben. Über die Zuordnungen hat der Autor pragmatisch entschieden und die Themenfelder dort behandelt, wo sie historisch von besonderer Relevanz sind. Den Vorwurf des Eklektizismus fürchtet er nicht und vertraut darauf, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile.

Hinsichtlich der populären Kultur stehen vor allem die kulturellen Formen von Alltag, Arbeit und Freizeit, Unterhaltung und Vergnügen im Vordergrund. Einerseits konnte sich der Osten nicht vom Einfluss der modernen westlichen Massenkultur abschotten, die politischen Repressionen und kulturpolitischen Gegeninitiativen scheiterten in der Regel. Andererseits gab es zahlreiche Versuche, das kulturelle Leben zu erweitern und eine „sozialistische“ Breitenkultur zu etablieren. Hierbei werden die modernen Massenmedien und die traditionelle Volkskultur ebenso wie die staatlichen Formen Kultureller Bildung und Massenarbeit, die sozialistischen Feiern und Feste und die jugendlichen und städtischen Formen der Pop-, Rock- und Subkultur ins Auge gefasst. Der Schwerpunkt liegt auf den Bereichen jenseits von Arbeit und Reproduktion.

Bei der politischen Kultur in der DDR soll es weniger um die staatlichen Institutionen, Funktionen und das politische System der SED-Diktatur gehen, sondern es ist vor allem nach den subjektiven Dimensionen der Politik, nach dem Wechselverhältnis zwischen Politik und Gesellschaft zu fragen. Hierfür werden Konzepte politischer Kultur und politischer Generationen herangezogen: die gemeinsamen Erfahrungen, die Selbst- und Fremdverortung sowie die politischen Orientierungen und Mentalitäten der Ostdeutschen. Natürlich spielen dabei die ideologischen und politischen Vorstellungen, die die herrschende Partei der Gesellschaft zu implantieren versuchte, ebenso eine wichtige Rolle wie die kulturellen Ursachen von Opposition und Widerstand. Darum soll zwischen traditioneller, offizieller, alltäglicher, alternativer und oppositioneller politischer Kultur sowie zwischen Gründer-, Aufbau- und Jugendgenerationen in der DDR unterschieden werden.

Die hohe Kultur, insbesondere die Künste, galt lange Zeit als der Mittelpunkt der Kultur. Sie bewegte sich in der DDR zwischen Tauwettern und Eiszeiten, zwischen Klassikmythos und sozialistischem Realismus, zwischen Affirmation und Kritik. Was zunächst unter dem kleinsten gemeinsamen Nenner Antifaschismus, dann der sozialistischen Idee firmierte, war ein weites kulturelles Feld: von traditionellen Konzepten bis zu revolutionären Aktivismen. Und dieses Spektrum bediente auch die Kultur- und Intelligenzpolitik der DDR. Deren Grundwiderspruch aber bestand zwischen dem hohen Respekt vor der Kultur und der ständigen Furcht vor einer Destabilisierung durch Kultur. Das wirft zugleich die Frage nach der kulturellen Substanz und Eigenständigkeit der ostdeutschen Gesellschaft und nach dem widerständigen Potenzial ihrer Kultur auf.

Kulturpolitische Narrative

Aus drei Gründen hatte Kultur in der DDR einen hohen Stellenwert:

  • Zum ersten war die DDR tief in einer protestantischen deutschen Kulturlandschaft und der deutschen Kulturnation verwurzelt. Zu diesem Erbe gehörte auch das besondere Pathos des Wortes Kultur: Kultur als Religions- und Politikersatz wie als Kompensation für politische Freiheiten.
  • Zum zweiten stand die DDR in der Tradition der sozialistischen deutschen Arbeiterbewegung und deren Idee einer Kulturgesellschaft von gleichen und arbeitenden Menschen. So wurde zunächst versucht, eine Gesellschaft zu schaffen, die die negativen Trends der Modernisierung vom Anfang des 20. Jahrhunderts vermeiden sollte.
  • Zum dritten hatte die DDR ein Legitimationsproblem. In der Konfrontation mit der wirtschaftlich stärkeren Bundesrepublik wurden die kulturellen Werte zumeist höher veranschlagt als die Ökonomie. Während andere sozialistische Länder auf dem Selbstverständnis ihrer nationalen kulturellen Identität aufbauen konnten, befand sich die DDR als kleinerer deutscher Teilstaat immer auf der Suche nach Identität. Eine breite Pflege von Kultur gewann darum besondere legitimatorische Bedeutung.

Der Begriff der Kulturpolitik entsprang der Programmsprache der deutschen Klassik. Zunehmend verwendet wurde er aber erst mit Beginn des 20. Jahrhunderts als Bezeichnung für die Kulturpflege des Staates im Kontext mit dem Begriff Kulturstaat. Er bringt die erweiterten staatlichen Aktivitäten auf kulturellem Feld und die veränderten politischen Rahmenbedingungen zum Ausdruck. Dabei ist die „gegenseitige Verstärkung von Kultur und Staat“ von Beginn an „konstitutiv für politisches Handeln bezogen auf Kunst und Kultur und betrifft nicht nur die Neuzeit und die Moderne“ (Wagner 2009:348). Im wohl ersten ausführlichen lexikalischen Eintrag zu „Kulturpolitik“ fasste Eduard Spranger dieses Verständnis 1923 treffend zusammen: Danach hat Kulturpolitik seit ihrem ersten Auftreten nicht nur den Zweck Kunst und Künstler*in zu unterstützen, sondern immer auch die Funktion, dass der Staat sich der Kultur als Mittel für seine Zwecke bedient. Kulturpolitik „hat entweder die Hervorbringung von Kultur zum Ziele, oder sie bedient sich der Kultur als Mittel für ihre Machtzwecke. In der kürzesten Antithese: der Sinn der Kulturpolitik ist entweder Kultur durch Macht oder Macht durch Kultur.“ (Spranger 1923:1087ff.) Der DDR vorzuwerfen, dass sie Kultur auch für ihre politischen Zwecke nutzte, sei es der Repräsentation oder der Legitimation, hat somit wenig Sinn und verfehlt den Zweck von Kulturpolitik.

Die allgemeinen Absichten und Ziele kulturpolitischen Handelns lassen sich an den Hauptfiguren des kulturpolitischen Denkens ablesen. Diese sind nicht allein staatlich verordnet, sondern mehr oder weniger Konsens aller kulturellen Akteure. Gerhard Schulze hatte für die Bundesrepublik kulturpolitische Leitmotive entwickelt (vgl. Schulze 1992:499). Neudeutsch würde man von Narrativen sprechen. Der Autor greift diese Typologie auf, wendet sie vereinfacht und erweitert an und ist dabei auf sieben kulturpolitische Narrative für die SBZ/DDR gekommen:

  1. Das Umerziehungsnarrativ
    Die Alliierten hatten sich 1945 darauf geeinigt, dass in Deutschland „die nazistischen und militaristischen Lehren völlig entfernt werden und eine erfolgreiche Entwicklung der demokratischen Ideen möglich gemacht wird.“ (Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDR 1968:109f.) Amerikaner wie Russen setzten auf die Wandelbarkeit und Einsicht der Menschen. Umerziehung war das Grundprinzip der geistigen und kulturpolitischen Einflussnahme der Sowjetischen Militäradministratur (SMAD), der KPD und SPD bzw. SED wie der antifaschistischen Intellektuellen. Wenn man auch das Misstrauen gegenüber den Deutschen, die Hitler bis zuletzt gefolgt waren, nicht aufgab, so glaubte man doch, unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen eine neue Ideologie und Kultur verbreiten zu können. Die antifaschistische Umerziehung sollte mit der Erziehung der Erzieher*innen einsetzen und in die sozialistische Erziehung eines „neuen Menschen“ und einer „gebildeten Nation“ einmünden.
  2. Das Hochkulturnarrativ
    Nach 1945, und bis weit in die sechziger Jahre hinein, griff Kulturpolitik ästhetische Vorstellungen des bürgerlichen Zeitalters auf. Ihr Ziel war, wie in den Jahrhunderten davor, die Bestandssicherung der Hochkultur. Kulturpolitische Maßnahmen bezogen ihre Rechtfertigung aus dem Motiv der Pflege des „kulturellen Erbes“ in Abgrenzung vom Kulturbetrieb der Nazis. In der DDR rechtfertigte man auch restriktive Maßnahmen mit diesem Bezug, wenn zum Beispiel zeitgenössische Kunst an klassischen Schönheitsidealen gemessen und verworfen wurde. Politisch wurde damals – wie heute – Hochkulturpflege vor allem durch die personelle und institutionelle Sicherung öffentlicher Darbietungen verwirklicht – wie Theater, Konzerte, Museen und Denkmalspflege. Das gesellschaftspolitische Ziel war dabei stets, die Existenz der Kunst zu garantieren. Es wurde ergänzt durch das pädagogische Ziel, mehr Menschen hochkulturfähig zu machen.
  3. Das Demokratisierungsnarrativ
    Aus der Arbeiterbewegung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts ist der zentrale Gedanke der Emanzipation der Arbeiter*innen durch Bildung bekannt. Diese Idee war bereits in zahlreichen Arbeiterbildungsvereinen praktiziert worden, bevor sie von der öffentlichen Kulturpolitik aufgenommen wurde. Nach 1945 knüpften SPD wie KPD bzw. SED an diese Tradition an. Den bisher Benachteiligten sollten alle Bildungsmöglichkeiten erschlossen und ein breiter Zugang zur Kunst eröffnet werden. Demokratisierung von Kultur bedeutete zunächst nicht kulturelle Aufwertung des Volkstümlichen oder der Massenkultur, sondern Popularisierung der Hochkultur. Sie war vor allem ein kulturelles Hebungsprogramm. Einerseits wurde in der Kultur eine Pflichtaufgabe gesehen, im Sinne von Erziehung und Zwangsbeglückung, andererseits wurde mit Kultur das Recht auf Genuss und Entfaltung für alle beschworen.
  4. Das Kampfnarrativ
    Kultur und Kunst im Kampf der Klassen und Systeme, der Weltanschauungen und Ideologien – ein immer wiederkehrendes Thema. Auf der einen Seite die alte Geschichte von „politisch Lied, garstig Lied“, auf der anderen „Kunst ist Waffe“ –1928 von Friedrich Wolf geprägt, um die Kunstschaffenden an die Seite der „proletarischen Revolution“ zu rufen – und in der DDR vielfach beschworen. In den Zeiten des Kalten Krieges waren damit wechselseitige Dämonisierungen an der Tagesordnung. Die Ablehnung „sozialistischer“ Ismen im Westen wie die Bekämpfung „bürgerlicher“ Dekadenz im Osten bezogen ihre Rechtfertigung aus dem Impetus der Systemauseinandersetzung wie aus dem Motiv der „Verteidigung“ der nationalen Kultur. Für die „Feinde“ der je eigenen Kultur sollte es keine Freiheit geben, wovon in der DDR vor allem die Praktiken der Zensur und des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) zeugten.
  5. Das Produktivitätsnarrativ
    Kulturpolitik – ausgerichtet auf den Zuwachs von Produktivität – spielte in der DDR von Anbeginn eine wichtige Rolle. Leistungsentwicklung und Arbeitsproduktivität betrachtete man als einen Faktor, der direkt von Bildung und Kultur abhing. Lange Zeit wurde auf eine einfache Gleichung gesetzt, nach der zunehmende Bildung und Kultur auch wachsende Produktivität bedingten. Kulturpolitik wurde damit direkt in den Dienst der ökonomischen Strategie gestellt. Ironisches Zitat von Hanns Eisler: „Wir brauchen Kartoffeln, also – eine Kartoffel-Kantate! Wir brauchen [...] Produktionssteigerungen, also [...], schreibt Lieder, Gesänge und Kantaten, um unsere Produktion zu steigern!“ (Eisler/Bunge 1975:238).
  6. Das Breitenkulturnarrativ
    Volksnahe Kulturarbeit war ein Produkt des bürgerlichen Konzepts der Volkserziehung aus dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts. Die DDR knüpfte daran an und etablierte in den fünfziger Jahren ein Konzept von Breitenkultur, das im Kontrast zur Spitzenkultur stand und als geistig-kultureller Aufstieg der Werktätigen verstanden wurde: die*der singende, musizierende, schreibende, malende, tanzende, filmende und Theater spielende Arbeiter*in. Damit wurde die Herausbildung einer sozialistischen Lebensweise angestrebt, die sich von der westlichen Massenkultur unterscheiden sollte. Zunächst ging es vor allem um künstlerisches Volksschaffen und die Aufhebung der Unterschiede zwischen Berufs- und Laienkunst. Später umfasste Breitenkultur unter Begriffen wie kulturelle Massenarbeit oder kulturelles Volksschaffen nahezu alle mehr oder weniger organisierten Aktivitäten im Freizeitbereich.
  7. Das Unterhaltungsnarrativ
    In der Tradition der Arbeiterbewegung galt alles Massenkulturelle lange Zeit als „Ablenkung vom Klassenkampf“. Kultur wurde auch in den 1950er und 1960er Jahren als eine Pflichtaufgabe gesehen, ihre Hauptkomponenten waren die erzieherische und ideologische Wirkung. Natürlich leugnete man nicht die Aussagen der Klassiker zur Unterhaltungsfunktion der Künste, aber dazu sollten die Arbeiter*innen eben erst erzogen werden. Ein Verständnis von Unterhaltung als Recht auf Genuss und Vergnügen, auf Entspannung und Entfaltung, Unterhaltungskultur als Produkt konkreter historischer Verhältnisse, oder anders gesagt: der modernen Industriegesellschaft; ein solches Verständnis und eine Orientierung an den Bedürfnissen der Menschen konnte sich erst im Zusammenhang mit einem „weiten“ Kulturbegriff in den 1970er Jahren durchsetzen.

Keines der kulturpolitischen Narrative ist ohne Widerspruch geblieben. Jedes war hineingestellt in die Ambivalenzen dieser Gesellschaft. Früher oder später, ganz oder teilweise fanden sie Anerkennung wie ebenso Kulturpolitik überhaupt. Denn Kulturpolitik, so die allgemeine Meinung auch in der DDR, konnte vielleicht besser oder schlechter, liberaler oder restriktiver, aber nicht wirklich von Übel sein, weil Kultur noch immer das „Wertvolle“ und „Erhabene“ repräsentierte. Die Kultur, die im Osten entstand, konnte sowohl traditionell als auch modern sein. Sie zeigte sich zuweilen in Enge und Einfalt und strebte zugleich nach Weite und Vielfalt. Ob da Entwicklung oder gar Fortschritt zu konstatieren sind, bleibt fraglich und fragwürdig. Konflikte zwischen Politik und Kultur gibt es freilich in jeder Gesellschaft, denn Politik geht vom Großen und Ganzen aus, während Kultur den einzelnen Menschen im Blick hat. „Ist Politik das Einende, so ist Kultur das Differenzierende.“ (Eagleton 2009:84)

Zugleich aber war die engere, die partei- und staatliche Kulturpolitik von den Kulturvorstellungen der Politiker*innen und Funktionäre und deren Traditions- bzw. Pfadabhängigkeit geprägt. Diese besaßen zwar politisches Kapital, aber an kulturellem Kapital mangelte es ihnen bekanntlich. So machten die unterschiedlichen Einflüsse Kulturpolitik zu einem schwer durchschaubaren Instrument politischer, ideologischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Interessen. Dabei hatte sie vor allem die Funktion, die politischen Konstrukte und ideologischen Zeichen in den kulturellen Bereich zu implantieren und konkurrierende Angebote dort zu verdrängen, was ihr zwar punktuell und zeitweise, aber nie allumfassend und dauerhaft gelang.

Offensive und defensive Strategien wechselten sich in dieser Kulturpolitik ebenso ab wie Taktiken der Konfrontation und der Liberalisierung. Zwar waren die Konzepte stets auf den „ganzen Menschen“ gerichtet, doch in der Praxis umfasste Kulturpolitik nur einen eingegrenzten Sach- und Zuständigkeitsbereich. In ihrer passiven Form war die Kulturpolitik in der DDR vor allem traditionelle Kulturpflege sowie Sozial- und Bildungspolitik. In ihrer aktiven Form war sie einerseits Ideologiepolitik mit einem entwickelten Apparat, der die Chancen von Innovation und Selbststeuerung einschränkte, z.B. das „Formalismusplenum“ 1951, die SED-Kulturkonferenz 1957, das „Kahlschlagplenum" 1965 oder die Biermann-Ausbürgerung 1976 und die FDJ-Kulturkonferenz 1982. Andererseits war sie bis in die 1960er Jahre hinein oft öffentliche Kampagnenpolitikz.B. der Zwickauer Plan 1953, der Nachterstedter Brief 1955 oder der Bitterfelder Weg 1959. Und sie war seit Ende der 1950er eingebettet in die Bewegung „Sozialistisch arbeiten, lernen und leben“. Wobei zunächst Kultur nur für „leben“ zuständig war, bis man in den 1970ern mit einem weiten Kulturbegriff auch „arbeiten“ und „lernen“ einbezog und für „leben“ auch feiern und unterhalten anerkannte. Gleichwohl gelang es der SED nicht, trotz wiederholter Versuche, den kulturellen Bereich vollständig oder auch nur überwiegend zu instrumentalisieren.

Kulturpolitik selbst wurde zu einem Konglomerat unterschiedlichster Einzelaktionen. Zwar verloren die alten stalinistischen Kulturpolitiker an Einfluss, etwa jene „Viererbande“, Alexander Abusch, Otto Gotsche, Alfred Kurella und Hans Rodenberg, aber nach übernahm das Ministerium für Staatssicherheit den Part der „Wachsamkeit“. Kurt Hager, seit 1955 Sekretär des Zentralkomitees der SED, verantwortlich für Wissenschaft, Bildung und Kultur, klagte später „FDGB, FDJ und andere Massenorganisationen sowie die Blockparteien entwickelten eigene Initiativen […] Im Großen und Ganzen herrschte auf dem Gebiet der Kultur ein ziemliches Durcheinander“ (Hager 1996:346). Und Hans-Joachim Hoffmann, Kulturminister seit 1973, benannte als ein „ganz besonderes Dilemma: In der Armee wurde diese Kulturpolitik praktiziert, in der Staatssicherheit jene, und im Volksbildungsministerium wieder eine andere… Es gab Bezirkssekretäre der SED, die machten eine annehmbare, wenig reglementierende Kulturpolitik, und auch welche, die gingen höchst subjektivistisch heran, die verboten Filme und Theateraufführungen. In der ehemaligen DDR existierte im Grunde keine einheitliche Auffassung über Inhalte und Formen der Kulturpolitik.“ (Hoffmann 1992:119f.)

Im Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands (Einigungsvertrag) von 1990 war verankert, die „kulturelle Substanz“ Ostdeutschlands zu erhalten. Das schloss die Vielfalt der Kulturlandschaft, den erweiterten Kulturbegriff und ebenso die Annahme ein, dass in der DDR, unbeschadet des politischen Systems, sowohl kulturell Bedeutendes bewahrt als auch Beachtens- und Erhaltenswertes geleistet worden war. Freilich ist die Debatte darüber, was zu dieser ostdeutschen kulturellen Substanz gehört, noch keineswegs abgeschlossen. Nicht zuletzt deshalb verlangt und drängt jene Substanz auch nach einer eigenen Kulturgeschichte, selbst wenn manche Historiker*innen nur eine „Misserfolgsgeschichte“ der DDR kennen oder Soziolog*innen vor dem „Weichspülen“ der DDR warnen. Hier geht es in der Tat um die „weichen“ Faktoren im historischen Prozess. Aber nicht, um diese gegen die harten Faktoren auszuspielen oder von der diktatorischen Herrschaft abzulenken, sondern um eine Gesellschaft als Ganzes in ihren menschlichen Zusammenhängen erklären zu können.

Zum einen ist die Kultur nicht etwas Abgehobenes, das über allen Schwebende, sie ist eben „nicht der Überbau, sondern die Basis menschlicher Tätigkeit“ (Weiss 1981:645) Und zum anderen transportiert sie einen antizipatorischen Überschuss, den uns die Zeiten überlassen haben. Schon Walter Benjamin hatte notiert:

„Der Klassenkampf, der einem Historiker, der an Marx geschult ist, immer vor Augen steht, ist ein Kampf um die rohen und materiellen Dinge, ohne die es keine feinen und spirituellen gibt. Trotzdem sind diese letzteren im Klassenkampf anders zugegen, denn als die Vorstellung einer Beute, die an den Sieger fällt. Sie sind als Zuversicht, als Mut, als Humor, als List, als Unentwegtheit in diesem Kampf lebendig und sie wirken in die Ferne der Zeit zurück. Sie werden immer von neuem jeden Sieg, der den Herrschenden jemals zugefallen ist, in Frage stellen.“ (Benjamin [1940] 1984:157f.)

Das galt und gilt selbstredend für die Herrschenden in der DDR, aber auch für die in der alten wie in der neuen Bundesrepublik.

Zur Genese: „Kulturgeschichte der DDR“

Es war überfällig, eine Kulturgeschichte der DDR vorzulegen, um diese Lücke in der DDR-Geschichte wie in der deutschen Kulturgeschichte überhaupt zu schließen. Es war ebenfalls an der Zeit, der dreibändigen Kulturgeschichte der Bundesrepublik von Hermann Glaser (1985-89), der zweibändigen von Jost Hermand (1986/88), und dem Band von Axel Schildt und Detlef Siegfried (2009) ein gleichwertiges DDR-Pendant zur Seite zu stellen. Und eine methodisch kontrollierte und theoretisch reflektierte Kulturgeschichte kommt dabei mit einfachen moralischen Rastern oder verstaubten Konzepten, wie etwa „Unrechtsstaat“ oder Totalitarismustheorie, nicht aus. Drei Jahrzehnte nach dem Ende der DDR wird ein differenzierter Blick in die Geschichte verlangt. Keine Perspektive, die einseitig Opfer- oder Tätererfahrungen artikuliert, sondern ein Interpretationsansatz, der entwicklungsoffen und historisch-kritisch die relative Normalität des Lebens in der DDR beschreibt, einer Gesellschaft, die nicht in der diktatorischen Herrschaft aufging und ihren Eigensinn und Eigenwert besaß.

Auf die Frage, wie der Autor diese drei Bände zustande gebracht hat, gibt er zumeist die ironische Antwort: 40 Jahre Material gesammelt, 20 Jahre dazu gelehrt und fünf Jahre daran geschrieben – plus ein Jahr Verlagssuche und ein Jahr betteln um Druckkostenzuschüsse. Die Rezensionen sprechen von einem opulenten und monumentalen Werk, von einem Kompendium, das zur rechten Zeit erschienen ist, von einem Nachschlagewerk, das für lange Jahre Bestand hat. Christoph Kleßmann, Nestor der deutschen Zeitgeschichte, meinte:

„Diese imposante Gesamtdarstellung, angesiedelt zwischen Handbuch und durchgehender Synthese, ist ein fulminanter Beitrag zur deutschen Zeitgeschichte, den in diesem Zuschnitt wohl nur ein Autor realisieren konnte, der ein Leben lang dazu intensiv geforscht hat und sowohl über ein besonderes Sensorium als auch eine spezifische Expertise verfügt. Dietrich hat als ‚Einzelkämpfer‘ die gesamte DDR-Geschichte bzw. die Berge von Literatur dazu durchforscht, was kaum noch zu schaffen ist. Dass viele Werke fehlen, ist dabei unvermeidlich und ebenso wie ein vollständiges Literaturverzeichnis am Schluss zu verschmerzen. Als kompetente, Deskription und Reflexion verbindende, mit zumeist sehr treffenden Zitaten versehene und über weite Strecken brillant formulierte Texte verdienen die Bände trotz der angedeuteten Defizite mehr als nur das beliebte Etikett Standardwerk.“ (Kleßmann 2020:388)

Die 2018/2019 erschienene „Kulturgeschichte der DDR“ verfolgt die Intention, eine neue Sicht auf das Wechselspiel der verschiedenen Kräfte und Faktoren im kulturellen Feld anzubieten. Was die Lesenden erwartet, sind darum keine Erinnerungen oder Manifeste von Ostalgica, sondern zuallererst, immer noch und schon wieder, leider ist der Titel bereits vergeben: Nachrichten aus Ambivalencia (vgl. Kunert 2001).

Verwendete Literatur

Akademie für Gesellschaftswissenschaft beim Zentralkomitee der SED/ Institut für Marxistisch-Leninistische Kultur- und Kunstwissenschaft (1989): Unsere Kultur. DDR – Zeittafel 1945-1987. Berlin: Dietz.
Benjamin, Walter (1940): Über den Begriff der Geschichte. In: Kleinschmidt, Sebastian (1984): Allegorien kultureller Erfahrung – Ausgewählte Schriften 1920-1940. Leipzig: Reclam.
Berger, Manfred/ Hanke, Helmut (Hrsg.)(1978): Kulturpolitisches Wörterbuch. 2. erweiterte Auflage. Berlin: Dietz.
Bourdieu, Pierre (2004): Schwierige Interdisziplinarität. Zum Verhältnis von Soziologie und Geschichtswissenschaft. Münster: Westfälisches Dampfboot.
Bühl, Harald/ Heinze, Dieter/ Koch, Hans/ Staufenbiel, Fred (Hrsg.)( (1970): Kulturpolitisches Wörterbuch. Berlin: Dietz.
Braun, Volker ([1985] 1991): Hinze-Kunze-Roman. In: Texte in zeitlicher Folge, Band 7. Halle: Mitteldeutscher Verlag.
Dietrich, Gerd (2019): Kulturgeschichte der DDR, Band I: Kultur in der Übergangsgesellschaft 1945-1957, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.  
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Anmerkungen

Gerd Dietrichs dreibändige Ausgabe „Kulturgeschichte der DDR" erschien 2019 im Göttinger Verlag Vandenhoeck & Ruprecht.  

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Gerd Dietrich (2021): Kulturgeschichte der DDR – Gegenstand und Narrative. In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE: https://www.kubi-online.de/artikel/kulturgeschichte-ddr-gegenstand-narrative (letzter Zugriff am 19.01.2024).

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