Kulturelle Teilhabe Älterer in ländlichen Räumen – Ermöglichungsstrukturen schaffen durch Innovation, Vernetzung, Partizipation und Eigensinn

Artikel-Metadaten

von Nina Lauterbach-Dannenberg

Erscheinungsjahr: 2019

Peer Reviewed

Abstract

Wir erleben seit vielen Jahren eine überproportionale Alterung in abgelegenen Regionen. Die demografischen Veränderungen betreffen die ländlichen Räume auf Grund ihrer strukturellen Defizite in besonderem Maße. Andersherum entscheidet der Lebensraum mit, wie Menschen älter werden und wie ihre Teilhabe-Chancen konstituiert sind. Durch diese „doppelte Benachteiligung“ entstehen neue Erfordernisse, die kulturelle Teilhabe Älterer im ländlichen Lebensumfeld zu stärken. Das erfordert von allen Akteuren, innovative Strategien im Bildungs- und Kulturbereich zu entwickeln, um für die Zielgruppe der Älteren attraktiv zu bleiben und sie zur Mitgestaltung zu befähigen. Welchen Wert innovative, vernetzte und eigensinnige Projekte – vor allem Projekte mit einer partizipativen Grundhaltung – haben, da durch sie „Ermöglichungsstrukturen“ in ländlichen Räumen geschaffen werden können, zeigen viele Beispiele guter Praxis.

Einleitung

Die demografische Entwicklung und besonders die Konsequenzen des sich wandelnden Generationenverhältnisses sind heute in vielen ländlichen Gebieten Deutschlands deutlich spürbar. Das Abwanderungsverhalten jüngerer Menschen und der dadurch bedingte Verlust an Wirtschaftskraft in strukturschwachen, peripheren Regionen haben auch Auswirkungen auf den Kulturbereich. Denn je weniger Nachfrage nach Kultur existiert, desto geringer das kulturelle Angebot – und andersherum. Besonders ältere Menschen, die in manchen ländlichen Gebieten heute schon mehr als 30 Prozent der Bevölkerung ausmachen (7. Altenbericht 2017:117), sind von dieser „Ausdünnung“ betroffen. Dass ältere Menschen ein ebenso großes Bedürfnis haben wie Jüngere, sich kulturell weiterzubilden und sich im Bereich ihrer kreativen Bedürfnisse weiterzuentwickeln, ist eindeutig und gleichermaßen nachgewiesen (siehe: Kim de Groote „Entfalten statt liften! Bedürfnisse von Älteren in kulturellen Bildungsangeboten“). Obwohl sie ihren Fokus stark auf Jüngere richtet, bietet Kulturelle Bildung auch älteren Menschen vielfältige Möglichkeiten zu sozialer Integration, zu Lernen und Entwicklung. Kulturelle Bildung kann ein Baustein sein, den Anforderungen des Alterns ressourcenorientiert zu begegnen und das Altwerden gemeinsam mit anderen aktiv zu gestalten. Die lokalen Infrastrukturen und sozialen Netzwerke in der örtlichen Gemeinschaft bestimmen maßgeblich die Lebensqualität im Alter mit (7. Altenbericht 2017:106). Findet das Älterwerden mit all seinen sozialen Herausforderungen nun in einem strukturell besonders geschwächten Umfeld statt – wie wir es in manchem ländlichen Raum vorfinden – stellt sich die Frage, wie älteren Menschen kulturelle Teilhabe dort überhaupt noch ermöglicht werden kann.  

Durch den demografischen Wandel, so die Annahme, entstehen neue Erfordernisse, die kulturelle Teilhabe Älterer in ihrem Nahraum zu stärken – besonders dort, wo Kultur ohnehin auf schwierige strukturelle Rahmenbedingungen stößt. Dies erfordert von den Akteuren, innovative Strategien im Bildungs- und Kulturbereich zu entwickeln, um für die Zielgruppe der Älteren zugänglich und attraktiv zu bleiben – aber auch um selbst von der proportional wachsenden Bevölkerungsgruppe und ihren Potenzialen zu profitieren. Denn Menschen, die selbst künstlerisch aktiv sind, gestalten dadurch ihren Sozialraum und die Gesellschaft mit (de Groote 2019:29).

Begriffsbestimmung Land

„Das Land ist kein Ort, sondern ein innerer Zustand.“ (Valentin Groebner 2018)

Als erstes scheint es sinnvoll, sich die diskutierten Begriffe und die Dynamik ihres Zusammenwirkens genauer anzusehen: Gemeint ist mit Land zunächst einmal ein Alltagsverständnis, das mit Assoziationen wie Ländlichkeit, Natur, Landwirtschaft, kleine Dörfer usw. belegt ist (Hoppe 2010:21). Wir begegnen Defizit-Narrationen wie den Zuschreibungen von Verfall, Überalterung, Entvölkerung, Isolation, Mobilitätsverlust und Marginalisierung. Das führt dazu, dass der ländliche Raum häufig aus einer problem-fokussierenden Perspektive betrachtet wird und in der ebenso problem-kategorisierten Definition „alles, aber nicht städtisch“ auftaucht (Penke 2012:18). Gleichzeitig ist, besonders in der letzten Dekade, eine „Romantisierung“ des ländlichen Raumes zu beobachten – zumindest steht das Land im medialen Fokus: Über journalistische Berichterstattung bis hin zu filmischen und literarischen Darstellungen wird über ländliche Räume „nachgedacht, gesprochen und verhandelt“ (Marszalek 2018:9).

Die Rolle des Wohnumfelds auf kulturelle Teilhabe

Dabei greift diese Entweder-oder-Sicht natürlich deutlich zu kurz; denn „der“ ländliche Raum ist keine gleichförmige Raumkategorie (Penke 2012:18). Es muss vielmehr von „einer Vielfalt ländlicher Räume“ (Danielzyk 2018:42) gesprochen werden, die sich in ihrer Bevölkerungs- und Beschäftigungsentwicklung und Infrastruktur unterscheidet. Die demografischen Veränderungen wirken auf abgelegene Regionen mit starken strukturellen Defiziten und somit auf die alternden Menschen, die in diesen Regionen leben, in besonderem Maße. So konstatieren die Autor*innen des 7. Altenberichts der Bundesregierung: „Räumliche Gegebenheiten und Infrastrukturen des Umfelds bilden Gelegenheits- (oder Barriere-)Strukturen und beeinflussen die Handlungsräume und Verwirklichungschancen von Menschen, die in diesen Räumen leben.“ (2017:106f.) Wie Menschen alt werden, hängt somit nicht ausschließlich von der individuellen Lebenssituation ab, sondern auch davon, wo sie alt werden. So potenzieren sich an diesen ländlichen Orten Lebenswirklichkeiten von alternden Menschen, die als sozial besonders herausfordernd bezeichnet werden können:

  • abnehmende soziale Netzwerke,
  • schwindende Möglichkeiten zum Generationenaustausch,
  • eine Ausdünnung der Infrastruktur und Mobilitätsangebote und
  • bei einem Anstieg von Pflegebedarf ein diametraler Mangel an ärztlicher und pflegerischer Versorgung.

Besonders die Mobilität ist aber eine zentrale Voraussetzung für soziale Teilhabe, da sie den Raum beeinflusst, in dem Menschen aktiv sind (Baumgartner et al. 2013:79). Bezogen auf die kulturellen Teilhabemöglichkeiten führen abnehmende Einwohnerdichte, der Mangel an Infrastruktur und problemfokussierte Zuschreibungen auf den ländlichen Raum ebenfalls zu einer „Abwärtsspirale“: Eine geringe Siedlungsdichte führt zu einer geringeren Nutzung kultureller Infrastruktur, was wiederum zu einer Ausdünnung und Reduktion von kulturellen Angeboten führt usw. So wird das unmittelbare Wohnumfeld entweder zum „Ermöglicher“ oder zum „Verhinderer“ (ebd.:90) – auch von kultureller Teilhabe.

Begriffsbestimmung Alter(n)

„Das Älterwerden ist weniger ein Zustand als eine Aufgabe.“ (Eugen Diederichs)

In Bezug auf das Alter(n) werden die „‚Schrumpfung’, ‘Überalterung‘ und ‚Alterslast‘ der Gesellschaft“ (…) ebenso diskutiert wie ein „zweiter Diskursstrang, der gleichsam eine konstruktiv-optimistische Gegenbewegung zum meist fatalistisch-depressiv anmutenden Demographiediskurs darstellt“, in dem die Potentiale des Alterns hervorgehoben werden (Dyk/Lessenich et al. 2010:15). Doch genau wie der ländliche Raum keine einheitliche Raumkategorie bildet, ist auch das Alter ein Prozess, der im stetigen Spannungsfeld zwischen gesellschaftlichen Zuschreibungen, spezifischen Lebenslagen und individuell empfundenen, sehr heterogenen Lebenswirklichkeiten changiert. So konstatieren Baumgartner et al. (2013:19): „Alter ist eine soziale Konstruktion und kann nicht als biologisch eindeutiges Merkmal aufgegriffen werden.“ Zudem ist es Konsens in der gerontologischen Forschung, eine Binnendifferenzierung innerhalb der Alternsphase vorzunehmen: Diese umfasst demnach z.B. nach Pohlmann (2011:113) junge Alte von 55–69 Jahre, ältere Menschen von 70–80 Jahre, Hochaltrige von 80–99 Jahre und Langlebige ab 100 Jahre. So ist die Lebensphase des jungen Alters noch von großem gesellschaftlich und persönlich bedeutendem generativem Potential gekennzeichnet, der Übergang vom Alter zur Hochaltrigkeit vermehrt von altersbedingten Einschränkungen und Pflegebedürftigkeit. Vor allem lebenslagebezogene, also gesundheitliche, finanzielle und bildungsbezogene Disparitäten bewirken zudem, dass Ältere indirekt von kultureller Teilhabe ausgeschlossen werden (Friebe 2010:145). Besonders Unterschiede in der Bildungsbiografie, aber auch die eigene Einstellung zum Älterwerden beeinflussen die Chancen auf kulturelle und gesellschaftliche Teilhabe ebenso wie die sozialräumlichen Rahmenbedingungen.

Doppelte Benachteiligung

Es wird somit evident, dass wir es beidseitig mit heterogenen Erscheinungen zu tun haben, die jedoch oft mit einseitigen, dichotomen und ambivalenten Zuschreibungen versehen werden. Die Erscheinungsformen von sowohl Land als auch Alter sind aber plural und das eine wie das andere befindet sich im Umbruch. Die Ambivalenz, das Sowohl-als-auch, welches in allen Diskursen steckt, vermag folglich häufig die tatsächliche Gestalt desselben nicht zu beschreiben. Ländlich ist somit nicht gleich peripher (Penke 2012:19) und alt ist nicht gleich pflegebedürftig. Gleichwohl ist die Tendenz zu sozialer Exklusion bei beidem vorhanden, da sowohl die ländlichen Räume als auch das Alter(n) eigene Disparitäten innehaben. Bedeutsam werden die genannten Zuschreibungen schließlich, wenn sie soziale Benachteiligung weiter forcieren oder sich gar gegenseitig verstärken: Die Alterung der ländlichen Bevölkerung hat einen Einfluss auf ihre Umgebung. Diese wirkt wiederum auf den Alterungsprozess der Bewohner*innen und beeinflusst ihre Möglichkeiten, das Alter zu gestalten – so prägt das „Soziale“ den Raum und der Raum das „Soziale“ (Baumgartner et al. 2013:12, 33). Beide Dimensionen, so die Autor*innen des 7. Altenberichtes (2017:104) ergeben eine Problemkonstellation, die seit Mitte der 1990er Jahre auch als „doppelte Benachteiligung“ beschrieben wird.

Innovative Strategien für kulturelle Teilhabe

Um Älteren auch in diesem strukturell herausfordernden Sozialraum kulturelle Teilhabe zu ermöglichen, sind neue Strategien im Bildungs- und Kulturbereich nötig, für die es aus meiner Sicht braucht:

  1. Innovationen,
  2. eine sinnvolle Nutzung vorhandener Ressourcen durch Vernetzung und Synergien,
  3. eine alterssensible Repertoireerweiterung, wie intergenerationelle Konzepte und Kooperationen und
  4. das Fördern von partizipativ angelegten Projekten.

Nicht zuletzt bedarf es finanzieller Unterstützung im Rahmen von Kulturentwicklungsplanung, Dorf- und Quartiersentwicklung und einer großen Portion an „Eigensinn“ bei allen beteiligten Akteuren. Weiterhin ist ein „Ermöglichungsumfeld“ erforderlich, innerhalb dessen Anbieter*innen von Kultureller Bildung eher Begleitende von Prozessen sind und Ältere Schöpfer*innen dessen, was sie in ihrem Aktionsraum vorfinden möchten.

Innovation

„Soziokultur auf dem Land“, so auch Beate Kegler (2018:83) in ihrem Aufsatz zu Soziokultur in ländlichen Räumen im Themenheft der Kulturpolitischen Mitteilungen, „kann (…) dezentral an unterschiedlichen Orten eines ländlichen Raumes wirksam werden oder auch in mobilen Formen existieren.“ Bibliotheken, Volkshochschulen, Schwimmbäder, alte Schweineställe und sogar Friedhöfe können zu Kunstorten werden. „Sie sind somit Orte der Begegnung und der Auseinandersetzung mit Texten, Wissen, Musik, Theater und Tanz“ (Kegler 2018:83). Ein praktisches Projektbeispiel für die Schaffung eines solchen „Dritten Ortes“ zur Förderung von Kulturteilhabe Älterer ist z.B. die Demenz-Sprechstunde in Münsterländer Arztpraxen, in denen der „freie Mittwochnachmittag“ dazu genutzt wird, unter professioneller Regie (auch) im Alter und mit Demenz Theater zu spielen. Erpho Bell, Theatermacher aus Havixbeck, zeigt mit diesem Konzept, dass Projekte an ungewöhnlichen Orten neue Zielgruppen ansprechen können. Zugehende Projekte können Mobilität neu definieren, wie das Theater Demenzionen, das unter der Leitung von Jessica Höhn Theaterprojekte mit Hochaltrigen und Menschen mit Demenz in Pflegeeinrichtungen – auch als ländliches „Wandertheater“ – durchführt.

Vernetzung und Synergien

Veranstaltungen an Orten wie Arztpraxen und Supermärkten sind zudem eine sinnvolle Nutzung ohnehin vorhandener Ressourcen. Wenn darüber hinaus nachhaltige Vernetzung gelingt – z. B. zwischen Schulen und Altenheimen, einem Heimat-Museum und einer Demenzwohngruppe usw. oder auch Mehrfachkooperationen wie bei Zusammenschlüssen von verschiedenen Akteuren mit derselben Zielsetzung (Arbeitskreise, Netzwerke) – können einmalige Projekte in das „Regelangebot“ eines „Dorfes“ übergehen. Nur als ein Beispiel sei das Café Zeitlos und die „Brutzelküche“ in Arnsberg genannt. Ein Projekt der Kulturgeragogin Petra Fromm, in dem Ältere ins Jugendzentrum kommen, um dort einmal in der Woche künstlerisch-kulturell zu arbeiten und Jugendliche ebenfalls „rüber kommen können“, um gemeinsam zu kochen.  

Alternssensible Konzepte und Intergenerationalität

Dazu gehören auch Konzepte und Projekte, die Begegnung zwischen den Generationen ermöglichen und einen neuen Blick auf die jeweils „anderen“ öffnen. Kulturelle Bildung hat generell viele Funktionen: schöpferische Fähigkeiten und Kreativität fördern und für verschiedene Formen künstlerischen Ausdrucks sorgen, aber auch Teilhabe generieren. Diese Funktionen Kultureller Bildung gleichen denen in der kulturellen Kinder- und Jugendbildung. Ältere haben gleichwohl ihre ganz eigenen Bildungsbedürfnisse und ihre spezifischen Bildungshemmnisse. Dieses Wissen setzt eine alternssensible Didaktik voraus (siehe: Kim de Groote „Entfalten statt liften! Bedürfnisse von Älteren in kulturellen Bildungsangeboten“). Es gilt also, kulturelle Bildungsangebote zu schaffen, die diese alterns- und kohortenspezifischen Voraussetzungen integrieren, die Besonderheiten der Lebensphase Alter(n) mitdenken und eine alternssensible Kunst- und Kultur-Vermittlung vorhalten. Das kann bedeuten, Zielgruppe(n) mit ihren Bedürfnissen, ihrem Potential und ihrer Individualität wahrzunehmen, ohne sich durch Zuschreibungen den Blick zu verstellen. Die Konzepte brauchen sozusagen eine „lebensweltliche Einbettung“, das heißt, sie müssen den älteren Menschen in seiner Lebenswelt abholen und ihn bei der Befähigung des eigenen „Teilhabe-Potentials“ ein Stück begleiten. Es muss zudem gelingen, eine Orientierung an Traditionen mit Berücksichtigung des gleichzeitigen Umbruchs zu gewährleisten – was das Gehen eines „schmalen Grades“ bedeutet. Doch dann kann kulturelle Teilhabe Wege zur Teilhabe generell ebnen, wo „andere Methoden und Zugänge an Grenzen geraten“ (de Groote 2019:29). So sind durch gemeinsam erarbeitete künstlerische oder kulturelle Projekte auch intergenerationell und interkulturell übergreifende Verständigung und Interaktion möglich. Ein anschauliches Beispiel ist das Projekt „HeimArt – Wurzeln, Käfig, Flügel“ des Projektträgers Kolpingsfamilie Saerbeck mit der Volkstanzgruppe Saerbeck, den Hip-Hop-Dancern „True Fame“ und dem Heimatverein der Gemeinde Saerbeck, Münsterland mit Teilnehmenden von 8 bis 80 Jahren.

Partizipation

Besondere Beachtung verdienen Konzepte, die Ressourcen und Kompetenzen älterer Menschen einbeziehen und sie zur Mitgestaltung anregen. Beispielsweise kulturelle Bildungsprojekte, die Selbstwirksamkeitserfahrungen erlauben und neue Erfahrungsräume öffnen. So werden Ältere zum „Mitgestalter des Kulturangebotes“ (de Groote 2019: 32): Ältere „verschaffen sich Gehör“ (ebd.), indem z.B. Demenzkranke ein regionales Bürgerradio in Wermelskirchen als Moderator*innen  mitgestalten. Oder sie bringen sich als Laienschauspieler*innen für die Lebensqualität vor Ort ein, wie in dem Projekt „Treffpunkt Friedhof“ des Teatron Theaters in Arnsberg: Neben der schauspielerischen Arbeit engagierten sich die Teilnehmenden mit ihrem Theaterstück und in der künstlerischen Auseinandersetzung für den Erhalt eines örtlichen Friedhofes. An diesem Beispiel wird deutlich, wie ältere Menschen durch das aktive Mitgestalten die eigene Lebensqualität in ihrem Sozialraum sichern können, so selbst ein Teil der „sorgenden Gemeinschaft“ werden, sich „Räume aneignen“ dürfen und müssen, um diese zu gestalten.

Partizipation als „Meta-Kategorie“

Essenziell ist eine partizipative Konzeptentwicklung auf Augenhöhe mit lebensweltlicher Einbettung. Es geht nicht „(…) um eine Attraktivitätssteigerung durch pfiffige Kulturangebote, (…) sondern (darum), die Menschen zur Gestaltung des Wandels in ihren Lebensräumen zu befähigen, in denen die Aufrechterhaltung von gleichwertigen Versorgungsleistungen und grundlegender Infrastruktur nicht mehr dauerhaft mit den zur Verfügung stehenden Mitteln gewährleistet werden kann.“ (Kegler 2015:52). Die Strategie der „Partizipation“ könnte bei der Konzeptentwicklung als „Meta-Kategorie“ betrachtet werden. So ist es nicht nur Aufgabe der Kultur-Orte, die kulturellen Bedürfnisse einer älteren Zielgruppe sozusagen zu „bedienen“, sondern diese Zielgruppe(n) mitgestalten zu lassen. Denn „echte“ Teilhabe bedeutet, soziale Räume aktiv mitzugestalten. Partizipation ist kein einseitiges Unternehmen, sondern ein reziproker Prozess. So stellt Sporket (2017:16) in einem Aufsatz Kulturelle Bildungsarbeit für Ältere im Sozialraum fest: dass sich eine sozialraumorientierte kulturelle Bildungsarbeit mit Älteren primär danach fragen müsse, wie sie ältere – und vor allem benachteiligte Menschen – dabei unterstützen kann, sich „ihre“ Räume anzueignen, bzw. (soziale) Räume zu „ihren“ zu machen. Der strukturelle und demografische Wandel verändert diesen Raum – die Menschen in ihm haben die Aufgabe, ihn mit zu verändern bzw. zu gestalten. Auch Janina Stiel und Harald Rüßler postulieren (2017:19f.): „Werden Ältere Menschen als Ko-Produzentinnen und Produzenten begriffen, sind sie nicht nur an der Gestaltung ihres Quartiers entscheidend beteiligt. Sie wirken ebenso an der Entwicklung von Ideen zur Ergänzung der repräsentativen lokalen Demokratie mit (…)“.

Fazit

Bildung ist „eine zentrale Ressource für ein gutes Leben im Alter (…) und ein maßgeblicher Ansatz zur Verbesserung der Lebensqualität“ (MGEPA NRW 2016:406). Dazu zählen auch die Kulturelle Bildung und Teilhabe. Wie Menschen alt werden, hängt nicht allein von ihrer individuellen Lebenssituation ab, sondern auch davon, wo sie alt werden. Besonders in strukturschwachen ländlichen Räumen fällt (Kultur)Teilhabe deshalb schwer.  

Ist Kultur in Anbetracht der drängenden infrastrukturellen Herausforderungen auf dem Land ein „Luxusthema“? Nein, denn kulturelle (Bildungs)Angebote dienen vielmehr als unverzichtbare „Vermittler“, um die neuen Aufgaben der ländlichen Regionen unter Einbezug der Bürgerschaft im Sinne der Teilhabe umzusetzen. Viele Projekte guter Praxis zeigen auf, wie unerlässlich Kulturelle Bildung im Alter für das „Quartier“, den Nahraum von Älteren ist, um innovative Strategien wie Vernetzung, partizipative Konzeptentwicklung – immer mit der notwendigen Portion Eigensinn – mit Leben zu füllen.

Welche Verantwortung kann dabei die ältere Bevölkerung selbst für das Kulturangebot der Region übernehmen? Vor allem kann sie durch ihr kulturelles Wirken ihre eigene Lebensqualität sichern: Denn die positiven Wirkungen kultureller Aktivität auf das Individuum in den Bereichen Gesundheit, soziale Beziehungen, Selbstwirksamkeit, Persönlichkeitserfahrung, Teilhabeerfahrung sind belegt. Ältere haben dadurch die Möglichkeit, sich „Räume“ innerhalb ihres Quartiers „anzueignen“ und diese eigensinnig zu nutzen. Dazu müssen Ältere natürlich befähigt werden und in ihren Kompetenzen gestärkt werden. Denn „den objektiv gegebenen Bedingungen eines Raumes begegnet das Individuum immer mit seinen persönlichen Kompetenzen und Ressourcen" (Baumgartner et al. 2013:97).

Und was müssen Kultureinrichtungen bedenken, wenn sie vor allem für diese Zielgruppe attraktiv bleiben wollen? Sie müssen ältere, benachteiligte Menschen darin unterstützen, sich „ihre“ Räume anzueignen. Es muss stets eine partizipative Konzeptentwicklung geben und eine ermöglichende Haltung der Kulturakteure. Ältere müssen schon bei der Entstehung eines Projektes einbezogen sein. Außerdem soll die „lebensweltliche Einbettung“ der auf dem Land lebenden Menschen berücksichtigt werden. So sollen die Institutionen sich lebensweltoffen, niedrigschwellig und zugehend zeigen. Die Orientierung an Tradition ist durchaus sinnhaft – mit Berücksichtigung eines gleichzeitigen traditionellen Umbruchs und sich wandelnder Ansprüche. Ohne eine Innovation in der Angebotsstruktur kann gesellschaftliche und kulturelle Teilhabe nicht gelingen. Es muss sich sozusagen eine „Ermöglichungsstruktur“ für die kulturelle Teilhabe Älterer etablieren, die innovativ, kreativ und eigensinnig denkt und handelt. Ihr Credo könnte dabei die partizipationsorientierte Konzeptentwicklung sein – das sich Aneignen von sozialen Räumen mit Älteren auf Augenhöhe (Schanner 2007:23). Kultur-Orte in ländlichen Räumen sollten diese Innovation auch als Akt der Selbsterhaltung betrachten, da unsere Gesellschaft (glücklicherweise) immer älter wird.

Verwendete Literatur

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Nina Lauterbach-Dannenberg (2019): Kulturelle Teilhabe Älterer in ländlichen Räumen – Ermöglichungsstrukturen schaffen durch Innovation, Vernetzung, Partizipation und Eigensinn. In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE: https://www.kubi-online.de/artikel/kulturelle-teilhabe-aelterer-laendlichen-raeumen-ermoeglichungsstrukturen-schaffen-durch (letzter Zugriff am 16.07.2024).

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