Kulturelle Schulentwicklung und die Rolle der Kunst
Abstract
Bildungspolitisch geht es nach der Pandemie um versäumten Lernstoff. Heranwachsende dagegen beklagen die Zeit ohne die anderen, Gleichaltrige, aber auch Lehrer*innen. Die Politik setzt auf eine digital getunte Aufholjagd. Dahinter steckt ein Muster, das die moderne Schule von Anfang an charakterisiert: Erkenntnisse, Probleme, Haltungen, die die Gesellschaft für ihre Zukunft und die der Heranwachsenden für wesentlich hält, werden in Schulstoff verwandelt, in Fächer und Portionen aufgeteilt, die in Unterrichtsstunden passen. Immer mehr wird die Welt der Erfahrung überformt durch vorgefertigtes Wissen. Diese Entwicklung „vom Fisch zum Fischstäbchen“ (Horst Rumpf) beschränkt sich nicht nur auf die Schule, aber der Schule kommt dabei abhanden, wofür sie eingerichtet worden ist: Wissen, das über den alltäglichen Erfahrungsraum hinausgeht. Was folgt daraus? Der Beitrag greift dazu anthropologische Erkenntnisse darüber auf, was junge Menschen für ihr Lernen und Aufwachsen brauchen. Es ist die Erfahrung leibhaftiger Praxis, eigener Gestaltung und schöpferischer Befreiung. Eine Umgebung zu schaffen, die dies ermöglicht, ist die Zukunftsaufgabe der Schule, die ihr niemand abnehmen kann. Und hierbei kommen der Kunst und der siebenfachen Erfahrung der Freiheit, die sie erschließt, eine zentrale Rolle zu.
„Vom Fisch zum Fischstäbchen“ (Horst Rumpf)
Was wird aus der Schule nach der Pandemie? In der politischen Öffentlichkeit stehen zwei Themen im Mittelpunkt. Die Schüler*innen sollen durch umfangreiche Programme dabei unterstützt werden, den coronabedingt versäumten Lernstoff nachzuholen; dabei sollen die Schulen, längst überfällig, digital aus- und aufgerüstet werden. Die Schüler*innen dagegen beklagen vor allem die Verarmung ihres Soziallebens – untereinander ebenso wie im Verhältnis zu den Lehrer*innen. Ihnen fehlt das eigene Tun, die Erfahrung eigener Wirksamkeit außerhalb des begrenzten Raums der Familie, das Zusammensein mit Gleichaltrigen: Sie vermissen die vielen absichtsvollen und beiläufigen Begegnungen mit Menschen und Sachen.
Auf den ersten Blick könnte man sagen, beide Reaktionen sind wie erwartet: Erwachsene sorgen sich um den Lernfortschritt, Kinder und Jugendliche vermissen ihre Freunde. Der zweite Blick lässt etwas sehr viel Grundlegenderes erkennen, nämlich – bei der politischen Öffentlichkeit – ein Reaktionsmuster, das die Schule von Anfang an prägt, vielfach kritisiert worden und inzwischen vermutlich ganz und gar unzeitgemäß geworden ist – und sich dennoch immer wieder durchsetzt. Gemeint ist dies: Die Schule antwortet auf neu aufkommende Themen, Wissensbereiche, pädagogische Probleme, zuspitzend formuliert, mit immer Mehr vom Gleichen: Mit Unterrichtsstoff, mit speziell für die Schule erzeugtem Wissen. Das ist auch jetzt so: Der Stoff soll so schnell wie möglich, am besten in den Ferien, nachgeholt werden, und zwar nach Möglichkeit beschleunigt, indem endlich die digitale Raketenstufe gezündet wird. Dass der Schule immer mehr Wissensgebiete aufgebürdet werden, ist nicht neu: Aus dem anfänglichen Lesen, Schreiben, Rechnen, Katechismus und Gesang der Volksschule des 19. Jahrhunderts ist heute ein Kranz von einem Dutzend oder mehr Schulfächern geworden.
Und damit nicht genug. Die Schule soll es richten. Sie soll sich um Chancengerechtigkeit kümmern, um Demokratieerziehung, um benachteiligte Kinder und Jugendliche, um Sexualerziehung, um Gesundheitserziehung, um Gewaltprävention. Sie soll junge Menschen gegen Antisemitismus, Sexismus, Rassismus, Rechtsextremismus stark machen und zu Solidarität, Verantwortung und Hilfsbereitschaft erziehen: Schule als Entsorgungsagentur für gesellschaftliche Probleme. Dabei sind die Befunde der Forschung eindeutig: Die Schule trägt vor allem zur Reproduktion der gesellschaftlichen Ungleichheit bei. Die Gleichung heißt: Herkunft = Zukunft.
Wozu ist die Schule da, was vermag sie wirklich? Vor welche Aufgaben stellt sie das digitale Zeitalter? Und welche Rolle kommt dabei der Kunst zu? Ich gehe diesen Fragen im Folgenden in vier Schritten nach:
- Wie verändert die Einrichtung der allgemeinen Schule am Beginn der Moderne und dann im Verlauf der Modernisierung das Lernen; dabei werde ich das Verhältnis von Erfahrung und Wissen in den Mittelpunkt stellen.
- Dem heutigen Bild der Schule stelle ich die Frage gegenüber, was Lernen aus einer interdisziplinären anthropologischen Perspektive bedeutet und was Kinder und Jugendliche aus dieser Perspektive für ihr Lernen brauchen.
- Die Frage, welche Bedeutung hierbei der Kunst zukommt, führt mich im zentralen Teil meiner Argumentation zu der pädagogisch und gesellschaftlich grundlegenden These, dass die Kunst eine siebenfache Erfahrung der Freiheit ermöglicht.
- Folgerungen und weiterführende Fragen bildenden Abschluss.
Schule und Lernen in der Moderne
Die Einrichtung und Entwicklung der allgemeinen Pflichtschule greifen – im Lauf der Zeit immer mehr – in das Aufwachsen und Lernen der Kinder und Jugendlichen ein. Die Schule schiebt sich zwischen das Lernen der Heranwachsenden und die Gesellschaft bzw. Kultur. Das Lernen wird durch die Schule ausgegrenzt. Die folgenden Überlegungen setzen bei dieser Ausgrenzung des Lernens durch die Schule an. Diese Ausgrenzung bildet die elementare Entstehungstatsache für die moderne Schule, für ihre Theorie und Gestaltung.
Ausgrenzung des Lernens
Was bedeutet institutionelle Ausgrenzung des Lernens durch die Schule? Bildlich gesprochen, wird diese Ausgrenzung durch zwei Schnitte erzeugt: einen horizontalen und einen vertikalen. Der horizontale Schnitt trennt die Generationen voneinander – die Jüngeren von den Älteren, die Kinder von den Eltern. Eine Folge ist, dass Wissen und Können, Normen und Formen zwischen den Generationen nicht mehr, wie in vormodernen Gesellschaften, weitgehend beiläufig im gemeinschaftlichen Zusammenleben weitergegeben werden. Diese Trennung der Generationen voneinander setzt sich innerhalb der Schule mit der Trennung nach Altersgruppen oder Jahrgängen fort.
Die Schule trennt nicht nur die Generationen, sie trennt auch das organisierte Lernen von der gesellschaftlichen Praxis. Das ist der zweite, der vertikale Schnitt. Das Leben bleibt draußen. Schulisches Lernen ist kraft institutioneller Definition erfahrungsfern, der Zugang zur Welt reflexiv. Die Ausgrenzung des Lernens ist unvermeidlich und zugleich unauflöslich zwiespältig: Auf der einen Seite befreit sie vom Zwang und den Beschränkungen der Herkunft und der alltäglichen Lebenswelt – für viele Kinder und Jugendliche auch heute noch eine Befreiung zum Lernen. Auf der anderen Seite entzieht die Schule, je weiter sie sich zeitlich und sachlich ausdehnt – bis heute auf gut ein Dutzend und noch weit mehr Fächer – dem Lernen immer mehr die Erfahrung eigenen Tätigseins. Dieser Prozess der Verschulung des Aufwachsens und der reflexiven, indirekten Zugänge zum Lernen bildet einen wesentlichen Strang der gesellschaftlichen Modernisierung.
Was ergibt sich aus diesem idealtypisch verdichteten Blick auf die Gründungslage der modernen Schule? Die Aufgaben für Bildung und Erziehung sind offenbar nicht historisch invariant: Die moderne Schule als Schule für alle entsteht, weil das beiläufige Lernen durch Erfahrung nicht mehr genügt, um der nachwachsenden Generation das zu vermitteln, was sie für ihre Zukunft und die Zukunft der Gesellschaft braucht (vgl. Fauser 1983, 1989, 1991; zum Begriff der Erfahrung Fauser 2000). Die Erfahrung, die alle Kinder und Jugendlichen aus ihrem Alltag mitbringen, wird durch Wissen ergänzt. Die folgende Abbildung soll diesen Sachverhalt grafisch darstellen.
Blicken wir auf die aktuelle Lage: Vermutlich wird auch auf absehbare Zeit ein organisiertes, von speziell ausgebildeten Fachleuten begleitetes Lernen notwendig sein, weil die Gesellschaft insgesamt diese Aufgabe nicht erfüllen kann. Die Organisation des Lernens durch Fächer und Stunden lässt eine Art Aufbereitungsmaschinerie entstehen: Es gibt in Deutschland schätzungsweise 1500 Lehrpläne. Sie bilden, zusammen mit unzähligen Schulbüchern und Materialien, den wissensförmigen Niederschlag dessen, was Fachleute für bildungsrelevant halten, den Schulstoff. Dieser wird permanent revidiert.
Gegenüber der Gründungslage hat sich die Situation der Schule und des Lernens im Verlauf dieser Entwicklung fundamental verändert, und zwar in doppelter Weise: Zum einen ist der zeitliche und inhaltliche Umfang des Schulwissens gegenüber der mitgebrachten Erfahrung immer größer geworden. Die Schule und die von ihr belegte Lernzeit macht heute den größten Teil des Alltags von Heranwachsenden aus. Jugendzeit ist heute weitgehend Schulzeit. Hinzu kommt aber noch eine zweite, viel dramatischere Veränderung. Gemeint ist die globale Digitalisierung und die damit verbundene grenzenlose Verbreitung und Verfügbarkeit von Wissen im weitesten Sinne. Im weitesten Sinne bedeutet: Nicht nur sprachlich überliefert und schriftlich fixiert, sondern bildhaft, filmisch, modellierbar, interaktiv lassen sich mehr und mehr ganze Bestände kultureller, wissenschaftlicher usw. Überlieferung und Produktion überall auf den Bildschirm holen – und das in zahlreichen Sprachen der Welt. Ob es um die Fresken Michelangelos in der Sixtinischen Kapelle geht, die Rückseite des Mondes, eine animierte 3-D-Darstellung des menschlichen Herzens oder drei verschiedene Interpretationen des Wohltemperierten Klaviers von Bach – mit ein paar Klicks hat man das Gewünschte im Wohnzimmer.
Corona, Digitalisierung und Schule
Die Corona-Krise hat das altehrwürdige Muster des Schulunterrichts durch Fächer und Stunden von heute auf morgen vor aller Augen – und weit mehr als die seit über hundert Jahren laufenden reformpädagogischen Debatten und Erfindungen – fundamental erschüttert. Es konnte keinen normalen Schulunterricht mehr geben. Die Schüler*innen mussten zu Hause bleiben und zu Hause unterrichtet werden. Dabei wurden so gut wie möglich digitale Medien genutzt. Folgerichtig ist in der öffentlichen Debatte über notwendige Investitionen die Forderung nach einer besseren Ausstattung mit digitalen Medien – Tablet, Notebook, Smartphone – an vorderster Stelle erhoben worden. Denn: Wer sie nicht hat, wird vom Online-Unterricht praktisch ausgeschlossen, wodurch die schon bestehenden Chancenunterschiede noch vergrößert werden. Verschärfend kommt hinzu, dass auch Lehrpersonen für eine umfassende Nutzung digitaler Medien nicht hinreichend ausgebildet sind. In der pädagogischen Debatte werden nun bereits Zukunftsszenarien verhandelt, die das bisherige Verhältnis von Präsenzunterricht und digitalem Fernlernen gegenüber der bisherigen Schulpraxis geradezu umkehren wollen: Das digitalisierte Lernen könne durch eine extensive Nutzung der inzwischen verfügbaren ungezählten Lehrvideos optimal individualisiert werden. Der Präsenzunterricht könne sich dann darauf beschränken, in Einzelfällen nachzuhelfen.
Wie wirkt sich die Digitalisierung im Zusammenhang mit dem Internet auf die Schule als ein didaktisches Großsystem aus? Es überrascht nicht, dass sich der schon vorhandene Bestand an schulgerecht aufbereitetem Wissen relativ leicht digitalisieren lässt. Dabei eröffnet die digitale Technologie auch zusätzliche Verknüpfungsmöglichkeiten, Durchgriffe, Suchverfahren, Netzbildungen, Synopsen, Kommentare, Arbeitshilfen, Beispielvideos usw., also ein ausgedehntes, komplexes, immer schneller wachsendes Universum von Wissensnetzen, die über das Wissen von Expert*innen weit hinausgehen. Inzwischen, so könnte man die Entwicklung beschreiben, bilden sich in einer Art Internet-Schwarmintelligenz auch Lern-nach-hilfen zu allem und jedem aus. Bald wird es didaktisch und motivationspsychologisch virtuos gemachte Lehrvideos geben, die für jede Art von Lernhemmung oder Begabung den geeigneten nächsten Baustein bieten. Ein einziges Beispiel möge genügen. Walter Wüllenweber berichtet in einem stern-Artikel vom 20. Mai 2020:
„Millionen Schüler suchen die Rettung … nicht mehr in der Schule, sondern in einem Kellerraum in Remscheid. Auf dem Besprechungstisch steht ein Stativ mit Kamera, die auf eine weiße Wandtafel gerichtet ist. Auf der steht ‚ex und ln(x)‘. Dies ist das Studio von Daniel Jung, Deutschlands beliebtestem Mathelehrer. Zumindest auf YouTube. Rund 2500 Lehrvideos hat er inzwischen gedreht. Alle sind nur ein paar Minuten lang. Fast alle Schüler kennen Jung, sein Kanal ‚MathebyDanielJung‘ zählt 650 000 Abonnenten. In der Spitze klicken 750 000 Wissbegierige auf sein Angebot – pro Tag.“ (Wüllenweber 2020)
Wohin führt die Entwicklung? Es könnte sein, dass der Kern der gesellschaftlichen Aufgabe, um derentwillen die allgemeine Schule erfunden worden ist, der Schule immer mehr aus den Händen genommen wird. Pädagogisch und gesellschaftlich birgt diese Entwicklung, das konnte man schon nach wenigen Wochen coronabedingten Homeschoolings erkennen, erhebliche Risiken. Kinder mit bildungsaffinen Eltern werden nach den Lockdowns mit einem enormen Vorsprung gegenüber Kindern aus bildungsfernen Familien in die Schule zurückkehren. Die Erfahrung, dass es Beschleunigungspfade für den Wissenserwerb gibt, wird die Schule und das Lehrpersonal zusätzlich unter Druck bringen. Es ist gut möglich, dass sich an den Erfahrungen, die in der Corona-Krise gemacht werden, massive schulpolitische Konflikte entzünden, weil sich Eltern fragen werden, ob sie ihre Kinder einer pädagogischen Umgebung aussetzen sollen, in der vorhandene „Lernschnellwege“ (ein Wort von Horst Rumpf) blockiert werden, weil die Langsamsten das Tempo bestimmen. Und wer schneller und besser als andere ans Ziel kommt, hat einen Vorsprung auch beim Eintritt in die Berufswelt oder das Studium. Demokratiepädagogisch bietet ein meritokratisch befeuerter Verteilungskampf allein schon Anlass zu größter Sorge; tendenziell gefährdet er die Chancengerechtigkeit, schwächt die Solidarität und erschwert alle Bemühungen um soziales Lernen oder produktiven Umgang mit Vielfalt. Kurz: Das erzeugt einen Angriff auf die pädagogische Qualität der Schule insgesamt.
Horst Rumpf hat 1983 die Umwälzung von der Erfahrung zum zubereiteten Wissen im Hinblick auf die Schule als die Verwandlung vom „Fisch zum Fischstäbchen“ (Rumpf 1983) charakterisiert. Diese Charakterisierung lässt sich heute ganz allgemein auf das Verhältnis von Erfahrung und Wissen beziehen. Wir leben in einer Welt, die uns immer mehr nur noch als vom Menschen zubereitete und digital modelliere Umgebung begegnet.
Natürlich kann man diesen Wandel auch so interpretieren, dass sich die Natur dessen, was wir Erfahrung nennen, nur graduell verändert hat. Auf der einen Seite ist tatsächlich nicht von der Hand zu weisen, dass wir Menschen der Welt immer schon als einer gedeuteten Welt begegnen. Am Beginn des Lebens erfahren wir die Welt quasi durch die Sinne der Mutter und durch die Deutungen der Menschen in unserer Nähe, mit den Augen, den Ohren, den Händen der bedeutsamen Anderen. Anders ausgedrückt: Was wir Erfahrung nennen, ist großenteils immer schon Erfahrung aus zweiter Hand.
Auf der anderen Seite kann man aber demgegenüber die These vertreten, dass es einen kategorialen Unterschied gibt zwischen der Erfahrung, die wir, eingebettet in eine kooperative und kommunikative Umgebung, im gemeinsamen Raum des Fühlens und Denkens mit anderen Menschen machen – und der Erfahrung, die wir als stellvertretende Erfahrung machen, wenn wir einen Roman lesen, einen Film sehen, eine digital animierte Darstellung eines Experiments verfolgen. Im ersten Fall bleibt die Erfahrung eingebettet in den co-konstruktiven Fluss einer sich fortbildenden Weltdeutung, sie bleibt Teil unseres leibhaftigen In-der-Welt-Seins. Im zweiten Fall bleibt die Erfahrung auf einen vorgefertigten, im Prinzip unveränderlichen Referenzrahmen bezogen.
Lernen, anthropologisch
Die Abbildung 3 stellt vereinfacht dar, wie sich auf der Grundlage anthropologischer Forschung und Theorie verstehen lässt, was Lernen bedeutet und was wir für unser Lernen brauchen (vgl. Fauser 2015; Fauser/ Irmert-Müller 2018). Ich nenne hier – in bibliografisch vereinfachter Form – lediglich für meine eigene Auseinandersetzung wesentliche Quellen. Für Reformpädagogik, Kulturpädagogik und Bildungstheorie verweise ich auf das Literaturverzeichnis.
- Philosophische Anthropologie (C.F. v. Weizsäcker: Garten des Menschlichen, Hannah Arendt: Vita activa)
- Evolutionstheorie (Charles Darwin, F. R. Wilson: Die Hand, Geniestreich der Evolution.)
- Entwicklungspsychologie (J. Piaget, J. Bowlby: Bindungstheorie)
- Neurologie (G. Roth: Das Gehirn und seine Wirklichkeit)
- Neuropsychologie (Th. Fuchs: Das Gehirn, ein Beziehungsorgan)
- Evolutionäre Anthropologie (M. Tomasello: Mensch werden. Eine Theorie der Ontogenese)
- Kultursoziologie/ Praxeologie (A. Reckwitz: Gesellschaft der Singularitäten; Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne)
- Reformpädagogik, Kulturpädagogik, Bildungstheorie.
Gemäß dieser Sicht auf das Lernen sind wir am Beginn des Lebens überwiegend leibhaftig in der Welt: Kleine Kinder erkunden die Umgebung mit allen Sinnen – sie nehmen Gegenstände nicht nur mit den Fernsinnen, dem Auge und dem Ohr, wahr, sondern manipulieren sie mit Händen und Füßen mit großer Ausdauer, führen sie zum Mund usw.; Auge, Hand, Fuß, Mund erkunden die Welt in mehr oder weniger koordinierten Aktivitätszirkeln. Im Lauf der Zeit werden diese Vorstöße in die Realität zunehmend kontrolliert und koordiniert. Im Verlauf der Entwicklung nimmt der Anteil der geistigen Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit zu und die leiblichen Aktivitäten nehmen ab. Je älter wir werden, desto mehr schöpfen wir beim Handeln, Denken, Kommunizieren aus dem im Lauf der Entwicklung ausgebildeten Repertoire an emotionalen, kognitiven, motorischen, sensorischen Erinnerungen und Routinen. Der Gewinn ist vor allem Zeitersparnis: Ein Arzt, der hunderte von Patient*innen untersucht hat, ist diagnostisch schneller und sicherer als eine Berufsanfängerin; der Schachmeister erkennt eine Konstellation im Bruchteil einer Sekunde. Der Verlust ist die Falle der Gewohnheit. Besonders im hohen Alter wird die Bandbreite an Interessen, Bewegungen usw. in der Regel immer schmaler. Insgesamt aber bleiben wir eben doch leibhaftig in der Welt, und auch wenn die physischen Aktivitäten abzunehmen scheinen, schöpft doch unser (motorisches, visuelles, olfaktorisches, gustatorisches…) Gedächtnis aus dem, was wir leibhaftig aufgenommen haben und was nun die Welt unserer Erinnerungen, Vorstellungen, Träume bevölkert.
Schauen wird von hier aus auf die Corona-Erfahrung: Was Schüler*innen rückblickend auf die Pandemie beklagen, hat vor diesem Hintergrund einen ganz anderen kategorialen Status als ein paar Stunden Englischunterricht oder Sport. Eingangs habe ich formuliert:
Schüler*innen dagegen beklagen vor allem die Verarmung ihres Soziallebens – untereinander ebenso wie im Verhältnis zu Lehrer*innen. Ihnen fehlt das eigene Tun, die Erfahrung eigener Wirksamkeit außerhalb des begrenzten Raums der Familie, das Zusammensein mit Gleichaltrigen: Sie vermissen die vielen absichtsvollen und beiläufigen Begegnungen mit Menschen und Sachen.
In anthropologischer Perspektive geben diese Klagen den Blick frei auf eine elementare Bedingung allen Lernens. Was das für die Schule bedeutet, darauf komme ich am Schluss zurück. Wenden wir uns der Bedeutung der Kunst zu.
Die Erfahrung der Kunst
Hier folge ich einem Gedankengang, den Hannah Arendt in ihrem berühmten Buch über die „Vita activa“, das tätige Leben, entwickelt hat. Aus ihrer Untersuchung der griechischen Antike resultiert eine Unterscheidung von Tätigkeitsformen – Idealtypen menschlicher Praxis –, die für mein Verständnis des Praktischen, besonders aber für die spezifische Erfahrung der Kunst ganz grundlegend geworden ist. Ich kann diese Unterscheidung hier nur stark verdichtet ansprechen:
Menschliche Praxis: Arbeit – Herstellen – Handeln
Das, was wir als Kunst verstehen – als menschliche Hervorbringung – ordnet sie dem Begriff des Herstellens zu, der von den Begriffen der Arbeit und des Handelns unterschieden wird.
Vorausschicken muss man, dass in der Antike die Tätigkeiten des Arbeitens, Herstellens und Handelns in einer Rangordnung gesehen werden, die, gleichsam zwischen der Natur und den Göttern, die Lebensordnung auch des menschlichen Gemeinwesens festlegte. Das Handeln – und mit ihm zusammengedacht das Sprechen – ist diejenige Form der Vita activa, die an der Spitze dieser Rangordnung steht. Es ist die Nähe zur Vita contemplativa, zur philosophischen Praxis – also der Theorie –, die das Handeln und Sprechen über die anderen Tätigkeiten erhebt. Arbeit und Herstellen gelten als eines freien Mannes unwürdig, denn sie dienen der reinen Lebenserhaltung oder gehorchen einem bloß praktischen Nutzen. Als solche an sich unfreien, verzweckten Tätigkeiten bleiben sie an die private Sphäre des Haushalts, des oikos, gebunden, und auch die, die sie verrichten – Frauen und Sklav*innen – sind unfrei. Handeln und Sprechen dagegen konstituieren die Polis als die öffentliche Sphäre der Freien und Gleichen.
Arendt begann ihre Analyse und gewann ihre Kategorien zwar am Beispiel der griechischen Antike. Es ist aber nicht zu übersehen, dass die Koppelung einer Tätigkeitsmatrix, die den Grad der faktischen Unabhängigkeit zum gesellschaftlichen Ordnungsprinzip erhebt, ihre Prägekraft bis heute nicht verloren hat. Die ungerechte ökonomische und soziale Bewertung von elementaren Dienstleistungen vor allem im Gesundheitswesen und überhaupt die immer schneller wachsende gesellschaftliche Ungleichheit ist jüngst durch die Corona-Krise in ein scharfes Licht gerückt worden. Hannah Arendt analysierte den Bedeutungs- und Bewertungswandel von der Antike bis zur Gegenwart. Sie hat an Aktualität nichts eingebüßt (vgl. Reckwitz 2019:294f.). Mein Thema ist aber nicht die politische Philosophie, sondern der pädagogische Gewinn der Arendt‘schen Analysen für das Verständnis der Kunst.
Pädagogisch interessant und produktiv ist, dass sich den von Arendt unterschiedenen Tätigkeitsformen auch je eigene Paradigmen der Erfahrung zuordnen lassen. So wird mit dem Begriff der Arbeit im Sinne Arendts eine wesentlich andere Tätigkeits- und Erfahrungsqualität beschrieben als mit Herstellen und Handeln. Arbeit ist an die zyklische Form biologischer Vorgänge gebunden, an Geburt und Sterben, Wachstum und Verfall, Erzeugung und Verbrauch. Was durch Arbeit hervorgebracht wird, hat keinen Bestand; Arbeit ist daher auch ein Synonym für Mühsal und Knechtschaft. Wer in diesem Sinne nur Arbeit verrichtet, bleibt an den Kreislauf der Natur gefesselt und so gesehen unfrei. Herstellen dagegen erzeugt Güter des Gebrauchs und Werke von Dauer. Die Produkte des Herstellens sind nicht in den natürlichen Kreislauf einbezogen, es entsteht durch den Menschen eine dem Stoffwechsel der Natur abgezwungene objektive Gegenwelt. Nicht das leibhaftige Dasein, die Notdurft oder der Verfall sind wesensbestimmend für das Herstellen, sondern die Erfahrung des Menschen, der sich in Objekte veräußern und dadurch als Subjekt erst im vollen Sinne erfahren kann. Das Handeln schließlich lässt den Einzelnen in die mitmenschliche Welt der Personalität, der Politik und der Geschichte eintreten.
Welches sind die Erfahrungsqualitäten, die sich diesen drei Tätigkeitsformen zuordnen lassen?
Meine pädagogischen Thesen dazu lauten:
- Die Erfahrung der Arbeit bezieht sich auf das, was dem Menschen als Unverfügbarkeit der inneren und äußeren Natur begegnet, und auf seine Selbsterfahrung im leibhaftigen Dasein. Ich nenne dies die ökologische Erfahrung.
- Die Erfahrung des Herstellens bezieht sich auf die Gegenständlichkeit, die Objektivität der Welt – der Produkte, der Werke, an denen der Mensch sich im Herstellen bildet –, und auf die Selbsterfahrung der Subjektivität: die ästhetische und technische Erfahrung.
- Die Erfahrung des Handelns bezieht sich auf das Politische und die Person: die personale und politische Erfahrung.
Ich nenne diese drei Erfahrungsqualitäten „Paradigmen“ (vgl. Kuhn 1976), um zu betonen, dass sie eigenen, unverwechselbaren und nicht austauschbaren Beziehungen zwischen Akteur*in und Umgebung beschreiben.
Worin liegt der theoretische Gewinn der idealtypischen Unterscheidung zwischen Arbeiten, Herstellen und Handeln?
- Erstens, und das kann ich hier nur benennen, nicht ausführen, erlaubt es diese Unterscheidung, die Qualität von Schule als einem praktischen Erfahrungsraum sehr prägnant und strukturiert zu diskutieren. Was etwa heißt ökologische Erfahrung: Wie erfährt man die Unverfügbarkeit der inneren und äußeren Natur, was bedeutet Selbsterfahrung im leibhaftigen Dasein? Und was bedeutet es – im Blick auf die Erfahrung des Handelns –, in einem sozialen Raum tätig zu werden, dessen Wesenszug das Kräftefeld konkurrierender Intentionen ist, und der von der immer wieder neuen Anstrengung der Verständigung lebt (vgl. Schulz 1990:403)?
- Zweitens, und das ist mir besonders wichtig, sieht diese Unterscheidung die Kunst in einer starken Mittelstellung zwischen Arbeit und Handeln. Durch die Werke der Kunst befreit sich der Mensch von der Übermacht zyklischer Prozesse, die die Natur beherrschen, vom Verfall und Verbrauch. Werke der Kunst generieren eine eigene dingliche Wirklichkeit – selbst dann, wenn sie auf Vergänglichkeit angelegt sind. In ihnen erfährt sich der Mensch mehr als bei anderen Tätigkeiten als „Freigelassenen der Schöpfung“, und er wird, selbst Geschöpf, zum Schöpfer (vgl. Herder 1965:140). Es wäre indessen einseitig, nur zu fragen, worin der Gewinn im Übergang vom Arbeiten zum Herstellen liegt: In der gegenläufigen Blickrichtung, von der Kunst zur Natur, wird nicht nur die Befreiung durch die Kunst sichtbar, sondern auch der Ursprung allen Lebens, Schaffens, aller Materie in der Natur. Die Aura des Kunstwerks erscheint in diesem Licht wie ein Nachglanz der Werke der Natur oder der Schöpfung. So gesehen, macht Kunst nicht allein frei von natürlichen Fesseln, sondern sie eröffnet auch die Freiheit, sich kraft eigener Einsicht und Entscheidung frei zur Natur zu verhalten. Die Beziehung der Natur erhält erst dadurch, dass sie im Licht eigener Gestaltung und Entscheidung wahrgenommen werden kann, eine ethische Dimension und wird damit im eigentlichen Sinne eine Sache der Bildung.
Betrachtet man das Herstellen zur anderen Seite der Tätigkeitsformen hin, zum Handeln, so sticht zunächst ins Auge, dass sich das Gegenüber des Handelns, die andere Person, einer Feststellung wie bei der Gestaltung eines Kunstwerks prinzipiell entzieht, jedenfalls dann, wenn sie als gleich und frei anerkannt wird. Handeln ist kein Herstellen. Auch hier ist indessen ein Wechselverhältnis erkennbar. Vom Herstellen aus betrachtet, kommt beim Handeln eine Unverfügbarkeit eigener Art ins Spiel, die nicht, wie bei der Natur, in den biologischen Prozessen wurzelt, sondern auf der Freiheit der Gegenüber beruht. Betrachtet man in der gegenläufigen Richtung das Herstellen vom Handeln aus, dann manifestiert sich in den Werken der Kunst gerade diese Freiheit der Anderen auf ganz besondere, nämlich gegenständlich gewordene Realität. Mit dem Werk tritt mir auch dessen Schöpfer*in entgegen. Bei einer künstlerischen Zusammenarbeit mit anderen kommt etwas Weiteres hinzu: Wenn ein gemeinsames Werk geschaffen wird, eröffnet sich eine weitere und ganz eigene Dimension der Freiheit. Die Verständigung, aus der ein gemeinsames Werk hervorgeht – und die sich im bildnerischen Gestalten anders vollzieht als im Spiel, im Theater, in der Musik – bewahrt einerseits die Erfahrung der gestalterischen Initiative und Expression, wie sie bei der individuellen Gestaltung durchgängig gegeben ist, erweitert diese Erfahrung jedoch um diejenige des co–konstruktiven Wechselspiels. Die Erfahrung der Freiheit gewinnt hier also eine soziale Dimension hinzu. Freiheit als gemeinsam geteilte produktive Möglichkeit zu erfahren, ist aber nicht eine besondere, rein immanente Qualität des Kunstschaffens allein; vielmehr entspricht sie der Struktur der politischen Freiheit. Die Erfahrung einer „kooperativen Verständigung“ (vgl. Tomasello 2010), die der wechselseitigen Anerkennung bedarf und sie zugleich erneuert, ist fundamental für demokratisches Vertrauen und demokratische Praxis. Sie gehört zur Bildung der Mündigkeit. Diese Erfahrung lässt ein Grundvertrauen auf eigene Wirksamkeit und befreiendes Zusammenwirken entstehen. So gesehen, mit einem Wort von Hannah Arendt, stärkt die Kunst potentiell die „Freiheit, frei zu sein“ (Arendt 2018).
Die siebenfache Erfahrung der Freiheit durch die Kunst
Ich fasse diesen im Anschluss an Arendt gewonnenen Gedanken thesenartig zusammen und spreche von der siebenfachen Erfahrung der Freiheit durch die Kunst.
Die Erfahrung des Herstellens/ der Kunst ist eine Erfahrung der Freiheit:
- … als leibhaftiges Tätigsein im Raum einer gegenständlichen Welt.
Im Blick auf die Bildhauerei, die Malerei, den Tanz, die Musik ist die Leibgebundenheit des Hervorbringens unmittelbar evident. Aber auch sprachliche oder rein fiktionale Werke bleiben durch die Brücke der Vorstellungskraft und ihr physisches Substrat an die leibhaftige Erfahrung gebunden. Das ist bei den sogenannten Qualia besonders deutlich: Wie etwas klingt, kann man nicht imaginieren ohne die Erfahrung, es gehört zu haben, was rot ist, wissen wir nur durch die entsprechende Sinnesqualität usw.
- … als schöpferisches Hervorbringen von etwas absolut Neuem.
Jedes Werk, auch jede Kinderzeichnung, ist eine noch nie dagewesene einmalige Vergegenständlichung einer Expression.
- … als Freigeben eines zunächst Eigenen für die Wahrnehmung durch andere.
Hier wird eine ganz wesentliche Dimension von frei sichtbar: Es geht nicht allein um die Unabhängigkeit des individuellen Subjekts von Natur und Umwelt, die sich in der Hervorbringung eines neuen Werks zeigt, sondern um frei als Beziehungsphänomen. Zur Freiheit gehört das Freigeben, das Loslassen; jedes Werk lässt sich als Einladung an die Anderen auffassen, in eine Gegenseitigkeit einzutreten. Jürgen Habermas hat die „Einbeziehung des Anderen“ als Strukturkern demokratischer Verhältnisse aufgefasst (vgl. Habermas 1996).
- … als (schmerzliches oder beglückendes) Gewahrwerden der Perspektive Anderer auf etwas ursprünglich ganz Eigenes.
Die Erfahrung, dass Andere in einem Werk – sei es ein Bild, ein Gedicht, ein Musikstück, eine Theateraufführung – anderes Sehen und dabei andere Gefühle haben als diejenigen, die es hervorgebracht haben, kann sehr schmerzhaft sein – oder beglückend. Es ist die Erfahrung, dass ein Werk immer einen nicht ausgeschöpften Überschuss an Deutungsmöglichkeiten bewahrt – wie oft auch immer es wahrgenommen und interpretiert worden ist (vgl. Liebau 2009). Ob die Erschaffung des Adams aus der Sixtinischen Kapelle zum ubiquitären Kitsch auf der Kaffeetasse wird oder zum universellen Symbol menschlichen Lebens, das hängt nicht von der Intention des Künstlers ab.
- … als versöhnte Verschiedenheit kraft der Einsicht in die legitime Geltung verschiedener Sichtweisen.
Die Bewährungsprobe für Freiheit und Demokratie ist nicht der Konsens, sondern die Wahrnehmung bleibender Differenzen. Verschiedenheit auszuhalten, ist kein Kinderspiel, und es bedarf immer neuer Anstrengung, weil unser Zusammenleben permanent Differenzen hervorbringt, die die eigenen Sichtweisen herausfordern.
- … als Entstehung und Bewahrung eines geteilten, quasi objektiven Raums der Freiheit durch die Kultur als Gesamt aller Hervorbringungen und deren Anerkennung.
Schutz und Bewahrung von Kunst ist immer auch Schutz und Bewahrung der Möglichkeit, sich frei zu äußern und des Vertrauens darauf, gesehen und gehört zu werden. Im Raum der Kultur begegnen sich Wirklichkeitssinn und Möglichkeitssinn.
- … als Bedeutung von Personalität als Zugehörigkeit zu einer schützenden Gemeinschaft.
Der Begriff der Freiheit wurzelt sprachgeschichtlich in der Bedeutung einer Zugehörigkeit zu einer schützenden Gemeinschaft. Anerkannt und geschützt zu werden – als Mensch unter Menschen – ist Ausdruck und tragender Grund der Menschenwürde.
Fazit
Durch die Digitalisierung ist der Schule mehr und mehr das abhandengekommen, wofür sie erfunden wurde: Die Vermittlung von erfahrungsfernem Wissen. Schule und außerschulische Kultur sind geprägt und gesteuert durch globalisiertes und ökonomisiertes Wissen. Die Pandemie hat drastisch vor Augen geführt, was Kinder und Jugendliche entbehren müssen, wenn keine Schule stattfindet. Vor allem fehlt ihnen die Zugehörigkeit zu einer schützenden Gemeinschaft, einer kooperativen Verständigungskultur, einer alltäglichen leibhaftigen Praxis, die sich ihrem Lernen, den individuellen und schöpferischen Zugängen und Manifestationen der Auseinandersetzung mit der inneren und äußeren Wirklichkeit, hilfreich zuwendet. Dies zu sichern oder überhaupt erst zu entwickeln, ist der Kern einer kulturellen Schulentwicklung. Der Kunst kommt hierbei eine fundamentale Bedeutung zu.
Um es nochmals auszusprechen: Die Erfahrung der Kunst eröffnet ein grundlegendes Gewahrwerden der Freiheit, zunächst und vor allem im praktischen Prozess der schöpferischen Gestaltung, der mit einem Werk eine allein vom Menschen hervorgebrachte Wirklichkeit in die Welt bringt. Diese Erfahrung, so meine These, kann das Verhältnis sowohl zur Natur als auch zur sozialen Welt menschlichen Handelns im Licht einer zu eigenem Handeln und Urteilen befreiten Wahrnehmung befruchten. Die selbstwirksame Erfahrung, im eigenen gestalterischen Tätigsein frei zu sein, eröffnet eine ethische Dimension des Entscheidens und Verantwortens, ohne die wir Bildung und Mündigkeit nicht denken können.
Es könnte nun der Eindruck entstehen, als versteige ich mich zu der romantischen Utopie, die Kunst und vielleicht sogar allein die Kunst könne die Welt retten, und man müsse nur den Kindern genug künstlerische Freiheit geben, um sie auf den sicheren Weg zur*m mündigen Bürger*in zu führen. In seinen Briefen über die ästhetische Erziehung hat Friedrich Schiller der Hoffnung auf die befreiende und kultivierende Kraft der Kunst und des Spiels auf einzigartige Weise Ausdruck verliehen (vgl. Schiller 2000). Dass freilich die Erfahrung der Kunst eine zwar hilfreiche, vielleicht sogar notwendige Quelle humaner Gesinnung sein mag, aber keineswegs eine hinreichende Bedingung für vernünftiges Handeln und demokratische Mündigkeit, das steht außer Zweifel. Ebenso steht für mich aber außer Zweifel, dass die Erfahrung eigener Freiheit im schöpferischen Tun für Kinder und Jugendliche immer wichtiger wird. Es ist zu befürchten, dass diese fundamentale Aufgabe der Schule auch heute wieder durch die hypnotische Fixierung auf die vermeintliche pädagogische Zauberkraft digitaler Technologien an den Rand gedrängt wird.
Ich bin mir sicher, dass es außer der Schule kaum Institutionen in unserer Gesellschaft gibt, die die strukturellen Voraussetzungen dafür haben, allen Kindern und Jugendlichen über längere Zeit eine demokratieförderliche Umgebung zu gewährleisten. Angesichts der digitalen Konkurrenz außerhalb der Schule könnte sich die Konstellation, die zur Gründung der modernen Schule geführt hat, aktuell allerdings geradezu umkehren, und es käme darauf an, ihr Gründungskonzept, von dem sie heute im Wesentlichen noch immer geprägt wird, radikal vom Kopf auf die Füße zu stellen: Dann geht es nicht mehr darum, durch die Schule der Erfahrung der kleinen Welt ein Tor zum Weltwissen zu öffnen und die Erfahrung durch Wissen zu überbieten, sondern es geht heute eher darum, angesichts der ungeheuren Masse abrufbaren Weltwissens einen tragenden Grund eigener Erfahrung aufzubauen. Es fehlt uns dafür nicht an Beispielen, Berichten, Werkzeugen und Beratungsangeboten. Ob eine solche Schule trotz der gesellschaftlichen Gefährdungen der Demokratie bestehen und mit Unterstützung rechnen kann, das allerdings steht auf einem anderen Blatt – Weiteres zum Thema Schule und Demokratie (vgl. Beutel/ Fauser 2009; Fauser/ Beutel/ John 2013).