Kulturelle Medienbildung in digital erweiterten Realitäten
Abstract
Kulturelle Medienbildung in den digital erweiterten Realitäten von Kindern und Jugendliche gewinnt zunehmend an Bedeutung – ohne dabei sinnlich-ästhetische Erfahrungen zu vernachlässigen. Trotz der Risiken durch exzessiven Medienkonsum bieten digitale Medien positive Erfahrungen und kreative Gestaltungsmöglichkeiten. Die pädagogische Praxis spielt eine wichtige Rolle bei der Vermittlung eines reflektierten Umgangs mit digitalen Medien und befähigt junge Menschen dazu, Medien aktiv zu gestalten und Verantwortung zu übernehmen. Dabei tragen kreative (Medien-)Projekte sowohl online als auch offline dazu bei, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen digitalen Medien und sinnlicher Wahrnehmung zu schaffen. Die pädagogische Praxis und damit die Rolle der Pädagog*innen muss sich kontinuierlich weiterentwickeln und reflektieren, um den sich schnell verändernden Anforderungen der Digitalität gerecht zu werden und junge Menschen in ihrer Entwicklung ganzheitlicher Kompetenzen sowie ihrer Wertebildung in einer zunehmend digitalisierten Welt zu begleiten.
Mitdenken – nicht wegdenken!
Kinder und Jugendliche lieben den freien und kreativen Umgang mit Farben und handfesten Materialien, sinnlich-ästhetische Erfahrungen, das Eintauchen in fantastische Geschichten abseits der alltäglichen Realität. Glücklicherweise gibt es dank zahlreicher engagierter Bürger und vielfältiger Fördermaßnahmen bundesweit für junge Menschen schon einige abwechslungsreiche Möglichkeiten, sich mit sich und seiner Lebenswelt kreativ auseinanderzusetzen. Positive Erfahrungen mit Kultureller Bildung initiieren bei Teilnehmenden wie Fachkräften oft den Wunsch nach Folgeprojekte mit zeitlicher und räumlicher Ausdehnung. Im Zusammenwirken von jungen Menschen mit staatlichen wie privaten Institutionen, sozialen Einrichtungen, Vereinen, Freiberufler*innen etc. werden immer wieder neue Projekte geschaffen, die aktuelle Entwicklungen und Herausforderungen wie die Digitalisierung der Lebenswelten aufgreifen können und sollten. Doch kaum ist eine neue Projektidee im Feld der Kulturellen Bildung geboren, stellen sich auch schon die wiederkehrenden Fragen nach dem Umgang mit Smartphones im Projekt:
- „Wir lassen zu Projektbeginn alle Handys in eine Kiste legen. Nach dem gemeinsamen Mittagessen und einer bewegungsintensiven Spieleinheit, dürfen sie das Handy 30 Minuten nutzen.“
- „Oder wir verteilen Zeitkontingente, in denen das Handy auch zwischendrin genutzt werden darf.“
- „Es wäre doch toll, wenn die Teilnehmer*innen schon während des Projekts ihren Freundinnen und Freunden berichten können, was sie gerade tun. Dann können sie das Projekt auch selbst mit Videos und Fotos dokumentieren.“
- „Ja, stimmt, dann sollten wir mit ihnen über Datenschutz und Urheberrecht sprechen. – Kennt sich da von euch jemand gut aus?“
- „Am besten wir bauen Smartphones und diese rechtlichen Dinge auch ins Projekt ein.“
- „Brauchen wir dann überhaupt noch Kreativmaterial, wenn die ihre Bilder mit den Smartphones malen, Geräusche zum Vertonen aus dem Netz laden und Filme mit digitalen Animationen zusammenstellen?“
- „Dann kann das ganze Projekt ja auch online stattfinden – das hat ja 2020/2021 auch geklappt.“
- „Braucht es nicht beides?“
„Ja, unbedingt!“: Zum einen zeigen die gut besuchten Präsenzprojekte nach einer intensiven Zeit von Online-Unterricht und Online-Tutorials für kreative Aktivitäten Zuhause in den Lockdowns der Covid-19 Pandemie den riesigen Bedarf an realen Begegnungen, persönlichem Austausch und sinnlich-ästhetischen Angeboten in sozialen Spielräumen. Zum anderen spielen in einer digitalisierten Lebenswelt individuelle Medienerfahrungen in jedes Angebot Kultureller Bildung hinein – auch wenn digitale Endgeräte im Projekt keine aktive Rolle spielten. Bei einer täglichen freizeitlichen Nutzung von Internet und Smartphone in Höhe von 89 Prozent bzw. 93 Prozent aller zwölf bis 19-jährigen (Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2020: 14) sind digitale Medien in keinem sozialen Rahmen wegzudenken - und auch nicht die damit einhergehenden Herausforderungen für die pädagogische Praxis.
Digitale Welten machen krank – und glücklich!?
Die BLIKK-Medienstudie aus dem Jahr 2017 stellte fest, dass junge Menschen, die sich in ihrer Freizeit viel mit ihrem Smartphone oder Tablet beschäftigen, häufiger unter Hyperaktivität, Übergewicht und Konzentrationsstörungen leiden (vgl. Büsching/Riedel 2017: o. S.). Wobei Ralf Pauli in der Zeitschrift fluter zum Thema Soziale Medien darauf hinweist, dass es sich hier vorerst um Korrelationen, nicht um Kausalitäten handelt: „Die Studie stellt statistische Zusammenhänge fest. Dass das ständige Online-sein wirklich die Ursache dafür ist, dass Jugendliche dick oder mediensüchtig werden, ist nicht erwiesen. Möglich ist, dass eine Vielzahl von Faktoren dafür verantwortlich ist.“ (Pauli 2022: 19) Unter anderem sind dies sicherlich die persönlichen sozialen Umstände und individuellen Sorgen der jungen Menschen, zu welchen gerade Fachkräfte in der kulturellen Bildungsarbeit, in der offenen Kinder- und Jugendarbeit, der Schule oder Kindertagesstätte, Zugangsmöglichkeiten haben und in die individuelle pädagogische Arbeit einfließen lassen können.
Kinder und Jugendliche wissen oft selbst, dass TikTok, Instagram und Co. nicht die „sinnvollste Freizeitbeschäftigung“ sind, betonen aber gerne, wie viel Spaß es macht. (vgl. Pauli 2022: 18) Ursächlich dafür ist das Dopamin in unserem Gehirn, das durch digitale Likes, Nachrichten und Kommentare aktiviert wird (vgl. Pauli 2022: 19) sowie eine Art Flow-Erleben beim Scrollen durch die Timeline oder in digitalen Spielen. Dieser Effekt schafft für die marktführenden Anbieter der digitalen Plattformen bzw. sozialen Medien die geldwerte Bildschirmzeit, weshalb sich weltweit unzählige Expert*innen sowohl bei den Anbietern der Plattformen als auch bei deren kommerziellen Nutzern damit beschäftigen, Menschen jeden Alters an die Bildschirme zu fesseln. Gerade hierzu können ästhetisch-spielerische Angebote eine wertvolle Ergänzung bieten. Das Eintauchen in kreativ-spielerisches Gestalten mit Materialien unterschiedlicher Konsistenz - von flüssigen Farben über geschmeidigen Stoffen hin zum handfesten Holzbrett - lädt durch die dem Spiel immanenten kognitiven Vorgänge zum persönlichen Flow-Erleben ein. Unsere kulturpädagogische Aufgabe ist es also in kreativen Spiel- und Erfahrungsräumen, ein Gleichgewicht zu schaffen zwischen der Nutzung digitaler Medien und einer aktiven ganzheitlich sinnlichen Wahrnehmung. Die Grundlage des Projekts City Stories von PA/SPIELkultur e.V. bildet beispielhaft der folgende Dreisatz ästhetischer Mediengestaltung (vgl. Bankauf/Dietrich 2013: 34):
- Fantasievolle Entwicklung einer Geschichte (kognitive Aktivität)
- Handwerkliche Vorbereitung von Kulissen, Requisiten, Kostümen und Figuren (haptisch-sinnliche Gestaltung)
- Digitale Verarbeitung in Form von Videoclips, Fotos, Hörspielen und anderem mit der Möglichkeit, die Ergebnisse online zu veröffentlichen und deren Präsentation damit zeit- und ortsunabhängig reproduzierbar zu machen (mediale Umsetzung)
Die Präsentation der selbstgeschaffenen Ergebnisse vor anderen Teilnehmenden eines Projektes, vor Freunden, Familie oder der Öffentlichkeit sorgt bei den Mediengestalter*innen ebenso oft, wenn nicht sogar häufiger und intensiver, zur Ausschüttung des Glückshormons Dopamin wie rein digitale Likes und Kommentare – und bleiben durch die ganzheitlich-sinnliche Wahrnehmung des Moments sicherlich länger in Erinnerung. In einer Kombination von digitalen und realen Medien, wie im multimedialen Workshop VJ/VJane & DJ/DJane von iz art – Deine Jugendkunstschule von PA/SPIELkultur e.V. schreibt die Kursleitung schon während des laufenden Kurses davon, wie die Teilnehmenden mit „vor Stolz geschwellter Brust im Kreis zusammensitzen, [denn] jede und jeder hat […] einen eigenen Song produziert und zahlreiche kurze Videoclips dazu gesammelt.“ (Hartmann 2021: 191) Das Projekt mündet in eine multimediale Party für Freunde und Familie, die durch ausgelassenes Tanzen bei den Urheber*innen des Erlebnisses für Glücksgefühle sorgt. Und es lässt sich beobachten, dass mit dem im diesem Moment schon fast vergessen Smartphone ein Ausschnitt der Licht- und Tonperformance zur eigenen Erinnerung und zum Teilen mit Freunden festgehalten wird.
Medien gestalten und Verantwortung tragen
Der reflektierte Umgang mit digitalen Medien in der Kulturellen Bildung, wie er unter anderem mit der Befähigung, selbst Medien zu gestalten einhergeht, gibt den jungen Menschen Halt in einer sozialen Lebenswelt mit realen menschlichen Beziehungen und unterstützt sie dabei, nicht in den reinen Medienkonsum zu verfallen, sondern diese mitzugestalten. Die aktive Auseinandersetzung mit manipulativer Selbstdarstellung, Urheberrechten und Bildrechten in (pädagogisch) begleiteten Projekten trägt in kindlichen und jugendlichen Entwicklungsphasen seinen Teil zur Identitäts- und Wertebildung bei. Geht man von den laut JIM-Studie 2020 bei Jugendlichen durchschnittlich 258 Minuten (4,3 Stunden) Mediennutzung pro Tag aus (vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2020: o. S.), verdeutlicht sich darin der Einfluss der digitalen Medien auf die Entwicklung des individuellen Wertekanons der Heranwachsenden. „Werte bilden sich in der Begegnung mit anderen Menschen, vor allem mit Vorbildern. In sozialen Medien sind das Influencer, Youtuber und andere Internet Stars, die bewusst oder unbewusst als Wertevermittler*innen fungieren.“ (vgl. Dietrich 2020: 81) Technisch sind die Kinder und Jugendlichen den Erwachsenen oft einige Schritte voraus. Die Anwendung von Smartphone, Tablet und Co. lernen junge Menschen entwicklungspsychologisch begründet definitiv sehr schnell und in der Regel schneller als Erwachsende. Doch gerade in der Wertebildung, der Sozialisation, sind sie angewiesen auf Unterstützung, die keinen kommerziellen Hintergrund hat. Hieraus ergibt sich ein immanenter Bedarf an Medienbildung in kulturellen Bildungsprojekten.
Dabei darf und muss die Kulturelle (Medien)Bildung Spaß machen. Der spielerische Umgang mit komplexen Themen weckt die Freude an der Auseinandersetzung mit den Hintergründen. Das Projekt Auf einen Chat mit Frau K.-I. von PA/SPIELkultur e.V. bot eine interaktive kreativ-künstlerische Auseinandersetzung mit der gesellschaftsgestaltenden Bedeutung von Algorithmen und künstlichen Intelligenzen u.a. in sozialen Medien zwischen Wahrnehmung und Wahrheit. Teilnehmende Familien konnten sich im Programmieren eines Chatbots versuchen und diesem zu einer eigenen Persönlichkeit verhelfen. Ebenso bauten die Teilnehmenden kleine Roboter, welche anschließend selbst programmiert wurden. So konnte man phantasievoll gestalteten Gebilden beim durch den Raum Tanzen und sogar beim Malen eines abstrakten Bildes zusehen. Spätestens dann, wenn der Roboter vom Tisch gefallen ist und ein abgebrochenes Rad durch den Raum kullert, ist klar, dass ein Roboter mit seiner künstlichen Intelligenz nicht so schlau ist, wie gedacht und welche Verantwortung man mit seiner Programmierung trägt.
Auf dem Weg zu einer wirksamen kulturellen Medienbildung im Zeitalter der Digitalität
Die aktive demokratische und friedvolle Gestaltung einer digitalisierten Welt war und ist eine der großen Aufgaben des 21. Jahrhunderts. Eine der großen Chancen der Digitalität liegt sicherlich in derer grenzenaufweichenden Eigenschaften. Nachbarschafts-, stadt-, landes- und weltweite Vernetzung und Informationsaustausch ist mit wenigen Mausklicks und nahezu immer verfügbaren mobilen Geräten möglich und schafft damit Barrieren ab. Gerade wenn die Mobilität durch körperliche Beeinträchtigungen, durch soziale Umstände oder durch eine weltweite Krise in Form einer Pandemie eingeschränkt ist, schafft die digitale Erweiterung der eingeschränkten analogen Realität eine analog-digitale Welt mit virtuellen Räumen, in denen durch audiovisuelle Technik sinnlich wahrnehmbare zwischenmenschliche Begegnungen möglich sind. Einige technologische Entwicklungen gehen in der digitalen Vernetzung bereits Schritte über audiovisuelle Reize hinaus hin zur Wahrnehmung von Berührungen und Geschmäckern im virtuellen Raum. Gerade pädagogisch gestaltete digitale Begegnungsräume, wie sie 2020/21 zwangsläufig von zahlreichen Bildungseinrichtungen gestaltet wurden, bieten wertvolle Spielräume im Sinne einer verantwortlichen Wertevermittlung an. Von Online Pen & Paper Spielen, die den Präsenz-Computer-Club vertreten, digitalen Escape-Rooms, die individuelle Fähigkeiten fordern, bis hin zum Glückreise-Newsletter, der mit Methoden der Glücks- und Resilienzforschung Übungen und Gedanken-Spiele zu den Kindern nach Hause bringt (vgl. Dietrich/Zalcbergaite 2021: 65ff, 169ff, 177ff) bieten diese Projekte mit Hilfe der neuen Medien Orientierungshilfen sowie Unterstützung für die persönliche und soziale Entwicklung.
Die praktischen, selbstgestalterischen Möglichkeiten von Notebook, Tablet oder Smartphone verschieben die Grenzen des Machbaren. Mit technischen Tricks werden Gegenstände zum Leben erweckt, Tiere zum Sprechen gebracht oder Kinder in fliegende Superheld*innen verwandelt. Das macht Spaß, regt die eigene Fantasie und Kreativität an und vermittelt ein positives Gefühl der Selbstwirksamkeit. In nicht profitorientierten Online-Blogs wie dem Projekt www.kiku-online.net von ECHO e.V. und PA/SPIELkultur e.V. finden junge Menschen, Familien oder pädagogische Fachkräfte zahlreiche Inspirationen für das eigene kreative Spiel und werden eingeladen, eigene Werke zu präsentieren und so wieder zeit- und ortsunabhängig andere Menschen auf neue Ideen zu bringen und die digitalisierte Realität zu erforschen. Die Möglichkeit in digitalen Medien wie Filmen oder Games eigene oder erfundene Realitäten zu erweitern, weiterzudenken oder zu erleben trägt zu einer Form von Resilienz für ein Leben in einer fortschreitend digitalisierten Welt bei, wie ich es 2021 in Kultur. Spiel. Resilienz. formuliert habe:
„Gerade der spielerische Umgang […] bietet eine Art Fahrsicherheitstraining für das Leben. Unter Rahmenbedingungen, in denen das leibliche Wohl nicht gefährdet ist, können bisherige Erfahrungen, Strukturen und Werte ins Schleudern gebracht und im wiederholenden Ausprobieren neue Fähigkeiten, Denkstrukturen oder Erwartungen ausgebildet werden. Im kreativen Schaffen von zum Beispiel Bildern, Skulpturen, Landschaften, Fotos, Filmen und Musik stellen sich die Kinder und Jugendlichen neuen Herausforderungen durch das Betreten von unbekanntem Terrain. Dank einer der Kulturellen Bildung immanenten positiven Fehlerkultur, also dem Begrüßen von vermeintlichen Fehlern als Ursprung von Lernerfahrungen oder neuen Handlungsmöglichkeiten, üben die Spielenden, Herausforderungen und Schwierigkeiten nicht zu vermeiden, sondern damit umzugehen und Entwicklungspotentiale zu erkennen.“ (Dietrich 2021: 21)
Insbesondere deshalb ermöglicht die aktive Auseinandersetzung mit den Herausforderungen des Zeitalters der Digitalität jungen Menschen ein Realitätstraining im geschützten Rahmen mit sowohl technischer als auch wertebasierter Begleitung von geschulten oder erfahrenen Gleichaltrigen und/oder Erwachsenen. Die Herausforderung für die pädagogische Praxis besteht nun darin, dass es durch die kommerziell motivierten Entwicklungen der Benutzerfreundlichkeit technischer Geräte für Kinder und Jugendliche immer einfacher wird, Produktionsschritte, die einen hohen Betreuungsaufwand bedeuten oder oft von den Erwachsenen übernommen werden mussten, selbst zu übernehmen. Pädagogische Fachkräfte oder Kursleitungen müssen und dürfen ihre Rolle in der pädagogischen Medienbildung laufend reflektieren und die von Technologie und Kommerz beschleunigten Entwicklungen in ihrer Arbeit mitdenken. Bei aller wachsenden Selbstständigkeit, was die Bedienung technischer Geräte angeht, ist die Aufgabe aller Akteure Kultureller (Medien-)Bildung, den jungen Menschen eine Begleitung, eine*n Partner*in im Hinblick auf die Einordnung der scheinbar grenzenlosen Informationsmöglichkeiten, die persönlichen Werte- und Identitätsbildung sowie die individuellen Entwicklungsmöglichkeiten in ästhetisch-künstlerischen Prozesse zu sein.