Kulturelle Jugendbildung zwischen gesellschaftlichem Verwertungsinteresse und dem Eigensinn der Künste
„Die Praktiker und Praktikerinnen kultureller Jugendbildung sollten sich immer wieder von neuem die Tatsache vergegenwärtigen, dass es übergeordnetes Ziel Kultureller Bildungsarbeit ist, kulturelle Teilhabe zu gewährleisten“ (Julia Wurzel 2009:48).
In seinen „Briefen zur ästhetischen Erziehung“ – eine häufig zitierte Quelle für die Kulturelle Bildung – machte Schiller deutlich, worauf sein Begriff der ästhetischen Bildung zielte. Er sah die Sinne, also die Emotion und das Empfinden, klar getrennt vom Rationalen mit dem Verstand und dem Vermögen des Menschen, zu reflektieren. Er baute auf Distanz. „Die sinnlichen Menschen sollten über den Umweg des Ästhetischen vernünftig werden“ (Hanne Seitz 2010).
Auf dieser Ebene liegt bis heute das gesellschaftliche Verwertungsinteresse im Umgang mit der kulturellen Bildung.
Allerdings haben sich die Ziele noch erheblich erweitert. Viele Begründungen für ein Engagement in der kulturellen Bildung und viele Projektkonzepte argumentieren mit einem „um zu“. Die Kulturelle Bildung ist gut geeignet um soziale Ziele zu erreichen, oder um den sinnlichen Menschen vernünftiger zu machen. Diese Argumentationsketten finden sich in zahllosen Texten. Das berühmte Projekt „Rhythm is it“ ist noch nahe dran an Schillers Ziel. Die strenge Disziplin der Berliner Philharmoniker und des Tänzers Royston Maldoom war die Geheimwaffe für die Arbeit mit sozial benachteiligten Jugendlichen. Aber nicht mehr allein das Individuum und die Persönlichkeitsentwicklung stehen im Mittelpunkt der Begründungslinien für die Kulturelle Bildung. Die Ökonomie hat die Methoden der Kulturellen Bildung ebenfalls entdeckt. Opernhaus goes Kulturelle Bildung, schließlich braucht man auch in Zukunft Publikum. Die Firma Rossmann goes Theater für ihre Auszubildenden. Das Repertoire der Theaterpädagogik ist Gold wert für den Umgang mit Kunden. Die künstlerischen Prozesse kommen hier ganz profan zur Anwendung. Das ist ein kleines Schlaglicht auf das „gesellschaftliche Verwertungsinteresse“.
Und was machen die Künstler und Künstlerinnen? Zum Beispiel Maler machen Dinge, die sich ursprünglich nicht verwerten lassen. Sie sind eigensinnig. Viele hatten erst posthum Erfolg. Die dicken Farbschichten von van Gogh, die Drip-Paintings von Jackson Pollock, die blauen Körperabdrücke auf Papier von Yves Klein sind Werke, die heute in den großen Museen hängen. Die Ensembles für Neue Musik entwickeln Hörerfahrungen mit Klängen, die das Gewohnte verlassen und Kundenentscheidungen im Kaufhaus weder befördern können noch wollen. Tänzerinnen wie die große Pina Bausch haben das Verständnis von Tanzperformance nicht nur in Wuppertal verändert.
Der Satz Schillers „Der Mensch ist nur dort ganz Mensch, wo er spielt“, ebenfalls ein gern zitierter Satz, hat sich anders als erwartet bewahrheitet. „Waren werden ästhetisch angereichert und bestmöglich inszeniert und alles wird zum Event und Kult erklärt“ (Seitz 2010). In manchen virtuellen Spielwelten scheint der Mensch nicht unbedingt immer „ganz bei sich“ zu sein - mit Blick auf Gewalt und Suchtverhalten eher „außer sich“. Das bezieht sich durchaus nicht nur auf Shooter Spiele, auch manche Börsenspiele der Banker haben vermutlich Rausch-Charakter.
Nach diesen Beispielen der gesellschaftlichen Verwertung kultureller Bildung und dem Blick auf die Arbeit von „eigensinnigen“ KünstlerInnen, folgt nun der Bezug auf die Kulturelle Jugendbildung, wie sie von der Landesvereinigung Kulturelle Jugendbildung (LKJ) und ihren 30 Mitgliedsorganisationen, den Fachverbänden und Institutionen aus dem Spektrum der Künste, gesehen wird. Kunst kann durchaus als Methode und Angebotsform „profan“ verwertet werden, vor allem wenn sie für Kinder und Jugendlichen eingesetzt wird; aber über längere Zeiträume anregend und motivierend ist nur eine komplexere Auseinandersetzung mit den Künsten. Der beliebige Einsatz verschiedener Methoden wird schnell langweilig. Optimal ist, wenn aus einem örtlichen Band-Projekt eine regelmäßig probende Gruppe wird, die auch auftritt, deren Mitglieder dann merken, man braucht auf der Bühne noch so einiges mehr und die sich dann z.B. bei den Referenten der LAG Rock weiteren Rat und Handwerkszeug holen. Optimal ist, wenn aus dem Ferienprojekt Kinderzirkus einige Kinder und ältere Jugendliche weiter machen wollen, dafür vor Ort Unterstützung bekommen und möglichst den Kontakt zu der LAG Zirkus finden, um an die große Community anzuknüpfen.
Eine von der Fachlichkeit her gesehene Kulturelle Bildung meint die Bildung mit den Künsten und verknüpft damit die beiden Pole: die Bildung und die Künste. Bildung ist kein kurzfristiges Projekt.
Der Kulturellen Bildung wird aktuell eine Aufmerksamkeit geschenkt und eine Wichtigkeit zuerkannt wie wohl nie zuvor. Allerdings muss man in dieser Debatte zwischen Rhetorik und Praxis unterscheiden. Was heißt das? Dazu zwei Beispiele aus den Strukturen der Kulturellen Jugendbildung in Niedersachsen. Es gibt Mitgliedsverbände der LKJ wie z.B. die Landesarbeitsgemeinschaft Tanz, die seit mehr als 50 Jahren besteht, tausende von Mitgliedern haben, eine Jugendleiterstruktur hat, ein Jahresprogramm mit Fortbildungen von Kindertanz bis International anbietet, aber vollständig ehrenamtlich organisiert ist. Die Landesarbeitsgemeinschaft Zirkus Nds. erreicht landesweit in ihren mehr als 60 Mitgliedsgruppen mehr als 5000 Jugendliche, veranstaltet jährlich, z.B. in Mohringen oder Fürstenau, das Schülerjonglierfestival mit 200 Teilnehmenden an 4 Tagen und ist vollständig ehrenamtlich organisiert. Der Niedersächsische Jugendzirkus, gegründet 1980, vertritt Niedersachsen aktuell wieder einmal bei einem Jugendfestival in New Dehli Indien, ist vollständig vom jugendlichen Leitungsteam selbst organisiert und erhält für die kontinuierliche Arbeit keinen Cent öffentliches Geld. Diese Reihe könnte man an vielen Beispielen der LKJ Mitgliedsorganisationen fortsetzen. Die LKJ hat 2011 eine Befragung zur Infrastruktur der Kulturellen Jugendbildung bei ihren Mitgliedsverbänden durchgeführt. Hauptamt gibt es nur bei wenigen Fachverbänden, z.B. bei den Musikschulen. Das große Feld der übrigen Künste teilt sich eine Hand voll Personalstellen.
Der große Hype des öffentlichen Diskurses hat anscheinend nur wenig mit denjenigen zu tun, die sich vor Ort kontinuierlich und fachlich kompetent für die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen an Kunst und Kultur engagieren. Sie haben in ihrer Praxis das Ziel verankert, kulturelle Teilhabe zu gewährleisten. In immer befristeten Projektförderungen, aus unterschiedlichen Quellen, stehen ihnen Künstler und Künstlerinnen als temporäre Komplizen zur Seite. Nach meiner Einschätzung sind es die vor Ort in den Gruppen, Projekten, Vereinen und Fachverbänden engagierten Leute, die sich für das Kinderrecht auf „freie Teilhabe am kulturellen und künstlerischen Leben“ einsetzen, wie es die Vereinten Nationen in ihrer Kinderrechtskonvention in Paragraph 31 als verbrieftes Menschenrecht formuliert haben.
Kurzfristige Projekte wie „Young Americans“, „Culture on the road“ oder „Rhythm is it“ sorgen zumindest bei den Jugendlichen für Differenzerfahrung und in der Öffentlichkeit für Aufmerksamkeit. Aber den Satz „You can chance your life in a dance class“ würde ich nicht unterschreiben. Weder bei dem zeitlich befristeten Projekt der Berliner Philharmoniker noch bei den vielen lebensweltorientierten Wochenprojekten an Schulen mit Hip hop und Rap sehe ich nachhaltige Wirkung und echte Chancen auf Teilhabe. Sinnstiftung, Förderung von Gemeinsinn und die Entwicklung von kritischem Potential gehen anders. Sie brauchen vor allem Zeit und Fachlichkeit. Vielleicht liegen hier die Chancen in der Zusammenarbeit von Kultureller Jugendbildung und Jugendarbeit.
Verwendete Literatur:
Seitz, Hanne (2010): Von Leerstellen und produktiven Lücken. Kulturelle Bildung und die pragmatische Wende in der Kunst. Statement, vorgetragen auf der 6. Berlin Biennale.
Wurzel, Julia (2009): Lernchancen in der internationalen Jugendkulturarbeit. Diplomarbeit von Julia Wurzel im Studiengang Interkulturelle Pädagogik, Carl v. Ossietzky Universität Oldenburg.