Kulturelle Bildungspraxis im Zeitalter planetarer Politik. Eine deutsch-tschechische Grenzwanderung als trans-korporale Erfahrung
Abstract
Eine zehntägige Wanderung im Nationalpark Šumava/Böhmerwald auf der deutsch-tschechischen Grenze; ein Projekt, das sich an der Schnittstelle von ästhetischer Forschung, performativer Kunst und Aktivismus verortet. Während des Projekts in dieser Grenzzone wird der Wanderweg selbst zum Vermittler: Die historischen Ereignisse am Saum des Eisernen Vorhangs sind der Landschaft eingeschrieben wie auch die aktuellen Mensch-Natur-Verhältnisse, die sich in dieser Landschaft materialisieren und in ihrer Interdependenz erlebbar werden. Umwelt wird zur geteilten Mitwelt. Durch dieses Projekt lassen sich Fragen aufwerfen: Wie kann sich Kulturelle Bildung zu diesen Interdependenzen ins Verhältnis setzen? Wie können diese Interdependenzen in der Praxis erfahrbar werden? Und: Wie kann die Auseinandersetzung mit den brennenden Fragen klimapolitischer Herausforderungen im Rahmen Ästhetischer Forschung erprobt werden? Darum wird es in dem folgenden Artikel gehen, um am Beispiel des Projekts „Crossing Borders – The Agronaut’s Journey“ lokale und planetare Verantwortung in der Praxis Kultureller Bildung zu diskutieren.
Kulturelle Bildungspraxis als politischer Raum
Kulturelle Bildung findet innerhalb gesellschaftlicher Verhältnisse statt und eröffnet partizipative Räume der Auseinandersetzung im Medium ästhetischer Erfahrung und Praxis. Dabei ist der Diskurs Kultureller Bildung schon immer mit gesellschaftspolitischen Herausforderungen verschränkt, welche sich in der Praxis, Formen der Institutionalisierung und auch Förderstrukturen manifestieren. Die Herausforderungen sind Auslöser, Begründung und Legitimation zugleich. Mit Bezug auf Mensch-Natur-Verhältnisse lässt sich beobachten, dass im deutschsprachigen Raum in den letzten Jahren nicht nur der ländliche Raum zunehmend an Aufmerksamkeit gewonnen hat, auch der klimapolitische Diskurs um Nachhaltigkeit bildet sich in der Praxis Kultureller Bildung ab. Mit den sozialen (Protest-)Bewegungen wie Fridays for Future oder Extinction Rebellion wächst zudem die gesellschaftliche Aufmerksamkeit für planetare Herausforderungen dieser Zeit. Dadurch wird die Notwendigkeit für Kulturelle Bildungspraxis, sich innerhalb der Interdependenzen ökonomischer, sozialer, kultureller und ökologischer Dimensionen zu verorten, auch vermehrt diskutiert (vgl. Singer-Brodowski 2016; Stoltenberg 2020/2010). Eine posthumanistische Kulturelle Bildungspraxis kann hier ansetzen, um in ästhetisch-forschenden Praktiken die planetare Dimension mikrologisch erfahrbar zu machen, und ergänzt damit die Auseinandersetzung mit Wissensregimen, Machtkonstellationen und sozialen Gefügen (Henkel 2016; Gesing et al. 2019).
Dieser Beitrag setzt an dieser Situation und einem empirischen Beispiel an, um den Entwurf einer kritisch posthumanistischen Kulturellen Bildungspraxis zu wagen. Posthumanistische Theorien sind nur im Plural und als ein breit gefächertes Diskursfeld, aber auch wissenschaftskritische Intervention, zu denken (Braidotti/Hlavajova 2018). Angefangen mit feministischen und wissenschaftstheoretischen Reflexionen, wurden in den 1970er- und 1980er-Jahren die patriarchale Prägung von Wissensproduktion kritisiert und die Situiertheit von Forschenden betont (u.a. Haraway 1988), später die Agentialität von Materie und die Verschränkung von Mensch-Technik-Natur-Verhältnissen herausgearbeitet (vgl. u.a. Bennett 2010) bis hin zu den New Materialisms und Environmental Humanities, die diese Verschränkungen und Interdependenzen empirisch fundieren wie auch Sozialität wissenschaftstheoretisch auf das Mehr-als-Menschliche ausdehnen und damit historische Grenzziehungen radikal infrage stellen (vgl. u.a. Coole/Frost 2010; Neimanis/Åsberg/Hedrén 2015; Åsberg 2018).
In diesem Artikel folge ich v.a. dem kritischen Posthumanismus von Rosi Braidotti (2013), dem feministischen Materialismus von Stacy Alaimo (2008) und der posthumanistischen Phänomenologie von Astrida Neimanis (2019). Braidotti basiert ihre Argumentation auf der Verschränkung anti-humanistischer und anti-anthropozentrischer Kritik und konturiert Subjektivität als „materialist and vitalist, embodied and embedded“ (Braidotti 2013:188). Es geht ihr sowohl um den Bruch mit modernistischem Fortschrittsglauben und kapitalistischen Steigerungslogiken als auch um den kritischen Umgang mit deren Einfluss auf Körperpolitiken der Optimierung, zunehmenden digitalisierten Selbstvermessung wie auch antifeministischen und rassifizierenden Mechanismen der Exklusion und Subjektivierung. Sie betrachtet Sozialität durch die Linse der (körperlichen) Materialität, die sie als aktiv in soziale Prozesse verwickelt versteht; diese Agentialität des Lebendigen „expresses itself by actualizing flows of energies, through codes of vital information across complex somatic, cultural and technologically networked systems“ (ebd.:189–190). Sie durchzieht mithin Sozialität als komplexes, mehr-als-menschliches Gefüge.
Dies lässt sich mit Astrida Neimanis‘ Entwurf posthumanistischer Phänomenologie vertiefen, die sie v.a. in ihrem Buch Bodies of Water (2017) entwickelt. Darin entfaltet sie am Beispiel von Wasser, wie sich dies in unterschiedlichen Aggregatzuständen in, zwischen und durch Körper verschiedenster Art bewegt – menschliche und nicht-menschliche. Dabei stellt sie zudem heraus, dass sich in diesen Bewegungen auch soziale Verhältnisse abbilden und analysieren lassen: Sie materialisieren sich als sozio-ökologische Konstellationen, die Einblicke in historisch-koloniale, kulturelle, ökonomische und soziale Logiken geben. Neimanis rekurriert auf die phänomenologische Figur leiblicher Erfahrung und erweitert sie (materialistisch) durch das Konzept „verteilter Körperlichkeit“ (Neimanis 2017:26). Sie denkt menschliche Körper eben nicht als souveräne Entitäten, sondern als materielle Vielheiten, die mit ihren Umwelten verschränkt sind: „We as human bodies do not sit atop and apart from the entanglements of the material world; we are instead consistently pulled out of our place of privilege by our symbiotic relationality to other bodies“ (ebd.:44).
Körper als verschränkt und interdependent zu verstehen, eröffnet auch eine andere Perspektive auf das in der Romantik entstandene und bis heute vorherrschende Verständnis, es gäbe eine „Natur“, die außerhalb des Menschen zu finden ist. Dies wird ebenfalls durch eine interdisziplinäre Denkströmung adressiert, die die Vorstellung kritisiert, „that nature or the environment simply ,is‘. Environmental humanities suggest rather […] that human ideas, meanings and values are shape, in some important way, the ,environment out there‘“ (Neimanis/Åsberg/Hedrén 2015:71–72). In Differenz zu der Vorstellung einer externen Natur, wird mit dem Begriff der NaturenKulturen deren wechselseitige Verschränkung betont (Gesing et al. 2019). Vor diesem Hintergrund bilden posthumanistische Theorien (in ihren unterschiedlichen Ausprägungen) eine Perspektive, die eine Re-Imagination des Sozialen erlaubt, in der menschliche und nicht-menschliche Akteure als relational und interdependent aufeinander bezogen postuliert werden (Neimanis et al. 2015). Wird dies auf das Feld Kultureller Bildung angewendet, bilden Angebote und Praktiken nicht nur einen Raum ästhetischer Erfahrung, sondern, so möchte ich argumentieren, einen transformativen Raum subjektiver und kollektiver Bildungsprozesse.
Es geht im Rahmen Kultureller Bildung nicht um die Einhaltung oder Verbreitung normativer Bildungsziele im Zusammenschluss mit Bildung für Nachhaltige Entwicklung oder den UN-Klimazielen, wie auch Mandy Singer-Brodowski formuliert; vielmehr kann Kulturelle Bildung als transformatives Lernen durch sinnlich-leibliche Erfahrung zum „Wandel individueller Bedeutungsperspektiven“ beitragen und als Teil „kollektiver Bewusstwerdungs- und Emanzipationsprozess[e]“ (Singer-Brodowski 2016:15) gerahmt werden. Als sinnlich-leiblicher Erfahrungsraum ermöglicht Kulturelle Bildung entsprechend subjektive und kollektive Bildungsprozesse, die sich im Medium ästhetischer Zugänge und Erfahrungen entfalten. Dabei können auch die komplexen Herausforderungen der gegenwärtigen Zeit in ihren lokalen Auswirkungen und ihren planetaren Verschränkungen adressiert werden, wie im Weiteren an einem Projekt diskutiert wird. So verbinden sich in der Frage, wie unterschiedlichste Körper (menschliche und nicht-menschliche), Technologien und Geschichten (historische und gegenwärtig dominante Narrative) aufeinander bezogen sind (vgl. Neimanis/Åsberg/Hedrén 2015), posthumanistische Theorien und transformatives Lernen.
Das Aufwerfen von Fragen, die Suche nach Antworten und (Mit-)Gestaltungsprozessen, wie es in der Kulturellen Bildungspraxis praktiziert wird, basiert dabei immer auf der Aktivierung und dem Einbezug des spezifischen biografischen Wissens der Teilnehmer*innen. Zusammenfassend bildet sich in diesen Denkbewegungen ein Wandel ab: Menschliche Existenz lässt sich nicht nur als ein „In-der-Welt-Sein“ (Heidegger) beschreiben, sondern auch als ein „Von-Welt-Sein“ (i.O. „being of the world‘, Haraway 2015), wodurch die Verschränkung von Menschen mit ihren Umwelten betont wird. Dies verdeutlicht auch der begriffliche Wandel von Umwelt zu Mitwelt. Wie sich Kulturelle Bildungspraxis unter Einbezug dieser Denkbewegungen gestalten kann, soll im Folgenden an einem Beispiel diskutiert und anschließend theoretisch gerahmt werden.
Crossing Borders – Die Reise der Agronaut*innen
„Zur Wahrnehmung des natürlichen Mitseins gehört auch die Wahrnehmung alles dessen, was nicht mehr da ist.“ (Meyer-Abich 2015/2014:233)
Das durch den deutsch-tschechischen Zukunftsfonds geförderte Projekt „Crossing Borders“ fand 2020 als eine zehntägige Wanderung im Nationalpark Šumava/Böhmerwald an der deutsch-tschechischen Grenze statt. Initiiert durch Hana Magdonova (Brno University of Technology), Otto Kauppinen (Janáček-Akademie für Musik und Darstellende Künste Brünn/Brno) und Lea Spahn (Philipps-Universität Marburg), verortete sich das Projekt an der Schnittstelle von Ästhetischer Forschung und Umweltaktivismus. Die Gruppe bestand aus 12 deutschen und tschechischen Teilnehmer*innen, die in den zehn Tagen ca. 100 Kilometer von Železná Ruda nach Haidmühle wanderten. Es handelt sich um das Grenzgebiet, dass bis 1989 durch den Eisernen Vorhang getrennt war und eine geopolitisch aufgeladene Situation zwischen „Ost“ und „West“ markierte. Entsprechend betraten wir als Gruppe eine Landschaft, die durch die Geschichte des Grenzverlauf mit den Erinnerungen und auch landschaftlichen Spuren aus der Zeit geprägt ist, in der der Eiserne Vorhang Deutschland und auch Europa teilte und eine politische Abgrenzung durch ein Grenzregime symbolisch demonstrierte. An der deutsch-tschechoslowakischen Grenze verliefen die Grenzbefestigungen und Sperrzonen auch durch Šumava/Böhmerwald, der heute, nach der Öffnung der Grenzen, als Nationalpark in enger Zusammenarbeit zwischen den Ländern verwaltet und betreut wird (vgl. Internet 1). Heute bildet diese Grenzzone das „Grüne Band“, ein transnationales Naturschutzgebiet, das den Verlauf dieser Grenze als europäisches Projekt renaturiert und kulturell belebt und das sich gerade auch der Geschichte dieser Landschaften widmet, Erinnerungsarbeit leistet und kulturelle Verständigung fördert (vgl. Internet 2)
Im Sinne Ästhetischer Forschung nach Helga Kämpf-Jansen (2001) basierte das Projekt auf einem sinnlich-leiblichen Zugang zu Forschungsprozessen, das sich explizit mit den Möglichkeiten posthumanistischer Forschungspraxis durch das deutsch-tschechische Grenzgebiet bewegte. Zwar brachten die Teilnehmenden auch individuelle Fragestellungen mit, es gab jedoch täglich gemeinsame ästhetische Anlässe, die als Reaktion auf die landschaftlichen Gegebenheiten entstanden. Ästhetische Forschung nimmt die Forscher*innen in ihrem sinnlich-leiblichen „Zur-Welt-Sein“ (Merleau-Ponty 1966) ernst; in diesem Sinne war ein Prinzip, sich der eigenen Neugier und Wahrnehmungsresonanzen folgend durch die Landschaft zu bewegen.
Am ersten Wandertag betrat die Gruppe, bepackt mit Wanderrucksäcken und Proviant, den Nationalpark bei Bayrisch Eisenstein/Železná Ruda. Eine erste Aufgabe mit dem Passieren der Nationalparkgrenze war, den eigenen Rhythmus im Gehen zu finden und mit allen Sinnen für die Umgebung aufmerksam zu werden. Nach der Ankunft in der ersten Notunterkunft – einem mit Holz abgegrenzen Bereich unter freiem Himmel - gegen Abend, wo zwei unterstützende Versorger*innen die Gruppe erwarteten, gab es einen langen Austausch zu den Erlebnissen und Erfahrungen dieses Tages: Die Begegnung mit der Langsamkeit einer Nacktschnecke, die den Weg „kreuzte“, die Geräusche des Windes, die Schwere des Rucksacks während des Laufens, das Pausieren auf einem Baumstumpf und das krachende Geräusch eines umstürzenden Baums, das ganz plötzlich die Stille durchbrach und als ein zeitlicher Schnittpunkt von Lebensspannen erlebt wurde.
Die ersten Tage waren regnerisch, sodass Wärme, trockene Kleidung und in Bewegung zu bleiben wichtig waren. Nachdem das Wetter weniger wechselhaft war und öfter die Sonne schien, veränderte sich auch die Dynamik der Begegnung mit dieser Landschaft: Die Gruppe konnte besser an Orten verweilen und wurde zunehmend aufmerksam für Veränderungen des Bodens und der Landschaft, für Spuren des militärischen Sperrgebiets und die systemische Ökologie. Am deutlichsten wurde dies durch den Eintritt in die Kernzone des Nationalparks, von dessen Fichtenwäldern durch den Borkenkäferbefall und einen Sturm in weiten Teilen nur noch Baumstümpfe standen. Sich durch diesen gezeichneten Landschaftsstrich zu bewegen war ein eindrücklicher Wegabschnitt, in der viele der Teilnehmenden in der kahlen Landschaft ein Verlustgefühl erlebten. Dort übernachtete die Gruppe an einer ehemaligen Militärstation auf dem Berg Poledník, durch die die Grenze und die gegenüberliegende bayerische Zone während des Kalten Krieges elektronisch überwacht wurde (vgl. Internet 3); die Schneise des ehemaligen Zauns war noch deutlich sichtbar.
Durch eine Führung mit einem Mitarbeiter des Nationalparks veränderte sich am folgenden Tag die Auseinandersetzung mit dieser KulturLandschaft radikal: Er beschrieb die Kernzone als ein „Laboratorium“, in der die Abwesenheit menschlichen Forstmanagements gerade die Möglichkeit böte, um die Resilienz und Selbstorganisation einer KulturLandschaft in Echtzeit zu erforschen und das Zusammenspiel verschiedener Lebewesen in einem Ökosystem zu beobachten: So bieten die gefallenen Baumstämme nährstoffreichen Boden für Kleinstpflanzen und die umgestürzten Wurzelteller Auerhähnen im Winter eine proteinreiche Futterstelle. Zugleich bezog er sich auch auf die Spuren des Grenzzauns, z.B. wie die Grenze nicht nur menschliche Siedlungen zerteilte, sondern auch jahreszeitliche Wanderbewegungen von Tieren unterbrach. Nachdem die Grenzzäune abgebaut worden waren, so berichtete er, dauerte es mehrere Generationen, bis diese alten Weideauen wieder von Rehen aufgesucht wurden.
Diese neuen Perspektiven und Informationen nahmen Einfluss auf die leib-körperliche Erfahrung des Sich-Bewegens in dieser KulturLandschaft und wurden später ergänzt durch eine historische Führung in dem Grenzgebiet von einem Zeitzeugen, der die Zwangsumsiedlungen und Grenzverschiebungen thematisierte. Die unterschiedlichen Wissensbestände waren Sensibilisierungswerkzeuge, die 1) die Wahrnehmung für diese KulturLandschaft intensivierten, 2) die interkulturelle Verständigung über Geschichte(n) anregten und 3) die Landschaft als Multi-Spezies-Erinnerungsraum sichtbar werden ließen. Ein weiterer Aspekt waren 4) alltägliche Herausforderungen wie das Wetter, das gemeinsame Auf- und Abbauen der Zelte, die Verständigung innerhalb der Gruppe und die Versorgung mit Essen und Trinken. Dazu kamen die obligatorischen Regeln des Nationalparks: „Nutzen Sie die Notunterkunft nur für eine Übernachtung!“; „Machen Sie kein Feuer!“; „Hinterlassen Sie keinen Abfall!“ (vgl. Internet 3).
Diesen letzten Aspekt möchte ich im Folgenden exemplarisch vertiefen, um die politische und ethische Dimension Kultureller Bildung im Zeitalter planetarer Verantwortung herauszustellen. Denn in dem Projekt wurde Müll zum Thema – und das kann vertiefend auf „transcorporeal pathways” (Neimanis 2017:39) hin erforscht werden, also die Pfade durch das transkorporale Netzwerk menschlicher und nicht-menschlicher Körper.
Müll als sozial-kulturelle Grenzziehung
Die Forschungspraxis spannte sich an der Schnittstelle von ästhetischer Forschung und posthumanistischer Ethnografie auf (vgl. Kämpf-Jansen 2001; Pink 2015; Kirksey/Helmreich 2010). Am Beispiel von Müll lässt sich dies in besonderer Weise aufzeigen: Da eine Regel des Nationalparks lautete, keinen Abfall zu hinterlassen, und, außer in angrenzenden Dörfern, keine Mülleimer bereitstanden, waren wir gezwungen, unseren Müll zu tragen. Trotz vieler Vereinbarungen und dem Versuch, Verpackungen zu vermeiden, häufte sich täglich Müll an, den wir zunächst nicht trennten. Nur einmal, an einem Campingplatz, konnten wir nach Papier, Plastik und Restmüll trennen. Auf der Wanderung wurde uns unser Konsumverhalten und der damit verbundene Müll deutlich vor Augen geführt und war auch als Gepäck vom Gewicht her spürbar. Darauf möchte ich näher eingehen, um den Entwurf einer posthumanistischen kulturellen Bildungspraxis zu verdeutlichen.
Die Kulturwissenschaftlerin Windmüller schildert Abfall eindrücklich als „Kulturprinzip der Moderne“ (2004). Als soziale Praxis untersucht, wird schnell deutlich, dass der Umgang mit Müll – die Grenzziehungen zwischen wertvoll und wertlos – symbolisch aufgeladen ist und auch soziale Hierarchien zum Ausdruck bringt. So formuliert der Historiker Christof Mauch: „Müll und Weggeworfenes geben Aufschluss über Bedürfnisse und Wertvorstellungen, über einstmals Geschätztes und über das, was wir vergessen wollten. Sie markieren Phasen von Zurückhaltung im Umgang mit Ressourcen und von Überschwang und Verschwendung“ (Mauch 2018:8). In dieser forschenden Einstellung ist Müll nicht nur etwas Materielles, sondern gibt Auskunft über die praktische und soziale Konstruktion desselben. In Wegwerfgesellschaften, so führt er aus, könnten Mülldeponien empirische Einblicke in Konsumverhalten, technische Produktionen und Wegwerfpraktiken geben, die zum Teil in Differenz zu (gewünschten und gegebenen) Selbstauskünften stehen (vgl. ebd.:10), z.B. bezüglich des Anstiegs von Verpackungsmüll durch den gestiegenen Online-Versandhandel (vgl. Internet 4). Er diagnostiziert, dass in einem „Laisser-faire-Kapitalismus” (ebd.: 5) Reparieren und Wiederverwerten im Lebensstil des globalen Nordens nicht vorgesehen sind und erst als kulturelle Praxis im Kontext nachhaltiger Bildung und Aktivismus (wieder) auftauchen. Stattdessen gibt es globale Abfallströme, in denen Abfall zum Wirtschaftsgut geworden ist; erst in den letzten Jahren wächst mit dem Begriff der „Kreislaufwirtschaft“ (Wilts 2018:9) das Bewusstsein für Recycling und die Herausforderungen der Materialwiederverwertung in einem rohstoffarmen Land, wie die Bundesrepublik es ist (Gäth/Eck 2018).
Wilts beschreibt den Wandel nationaler Müllkreisläufe und der internationalen Ökonomie von Müll als Wirtschaftsgut wie auch deren planetare ökologische Auswirkungen, die stets auch in Zusammenhang mit rechtlichen Entwicklungen stehen (vgl. Klett/Weishaupt 2018). Eine Kreislaufwirtschaft adressiert umweltrechtlich zwar die Erzeuger und Besitzer von Abfällen, ausgenommen Privathaushalte. Diese müssen ihre Abfälle den öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträgern überlassen (ebd.:19). Kreislaufwirtschaften können jedoch nicht auf nationaler Ebene stehen bleiben, sondern nur als europäisches bzw. internationales Abfallwirtschaftssystem einen Unterschied für sozial-ökologische Zukünfte erreichen, wie Wilts und Klett/Weishaupt argumentieren. So betrachtet, kann die Auseinandersetzung mit Müll eine kritische Reflexion über spätkapitalistische Lebensweisen und globale Kreisläufe anregen, durch die Menschen als Konsument*innen angesprochen und an die damit verbundene Verantwortung erinnert werden (Köster 2018:41).
Vor dem Hintergrund dieses kurzen Einblicks, erscheinen materialistische und posthumanistische Theorien als zentrale Bezugsgrößen, um sich dem Müll als sozialer Praxis und als Ausdruck von (nicht-)menschlichen Beziehungsgefügen zu widmen:
„While toxic chemicals, radiation, toxic e-waste from the global north dumped in the global south, industrial agriculture, factory farming, and animal experimentation are often overlooked in predominant visual, theoretical and popular accounts of the proposed anthropogenic geological epoch, trans-corporeality, with its attention to the disconcertingly extensive effects of seemingly benign consumerist practices, underscores that they too are matters of concern for the anthropocene.“ (Alaimo 2018: 437)
Das Beispiel des Mülls kann dies illustrieren und vergegenwärtigen; im Weiteren möchte ich diese Verstrickungen durch den Begriff der Trans-Korporalität im Anschluss an Stacy Alaimo (2018/2008) theoretisch untermauern. Denn Müll als kulturelles Phänomen und Grenzziehungspraxis zu betrachten, adressiert die Involviertheit und das Betroffen-Sein von menschlichen Akteuren. Dennoch geht mein Anliegen darüber hinaus. Im Begriff der Trans-Korporalität lässt sich eine posthumanistische kulturelle Bildungspraxis bündeln, denn er will gerade fassen, dass alle Lebewesen als körperliche Wesen Teil der materiellen Welt sind, durch die sie verbunden sind, in der sie von materiellen Akteuren durchkreuzt werden und beständig Transformationen ausgesetzt sind (vgl. Alaimo 2018).
Transkorporalität als Erfahrung
Hier lässt sich an Stacy Alaimos kritische Auseinandersetzung mit dem Nachhaltigkeitsdiskurs anschließen. Denn wenn Müll in einem spätkapitalistischen und globalisierten Lebensstil kulturelle Selbstverständnisse und Grenzziehungspraktiken sichtbar und spürbar werden lässt, so ist ihre Frage in Bezug auf Nachhaltigkeit: „[W]hat is it that sustainability seeks to sustain and for whom“ (2012:562)? Alaimo wirft einen (macht-)kritischen Blick auf Nachhaltigkeitsdiskurse, in dem ein technologischer Machbarkeits-Fokus vorherrscht, der Machtdifferenzen, politische Differenzen und kulturelle Werte ausblendet, welche die Basis auch von wissenschaftlichen Auseinandersetzungen bilden:
„Even as the practices of sustainability foster the recognition that nearly everything one does has environmental effects, the epistemological stance of sustainability, as it is linked to systems management and technological axes, presents a rather comforting, conventional sense that the problem is out there, distinct from one’s self. Human agency and master plans will get things under control.“ (Alaimo 2012:561)
Stattdessen argumentiert sie dafür, eben diese Unterscheidung von Selbst (ich, hier) und Natur (da draußen) zugunsten einer transkorporalen Epistemologie aufzugeben, in dem das Selbst materiell konzeptioniert ist und nicht aus dem ökonomischen, politischen, kulturellen, wissenschaftlichen und körperlichen Netzwerk extrahiert werden kann, die es bedingen und konstituieren (ebd.:561). Das materielle Selbst ist in dieser Konzeption koextensiv mit seinen Umwelten verwoben – was sich auch in dem Begriff der Mitwelt spiegelt (Bärtsch et al. 2017). Das heißt, auch andere Lebewesen und biodiverse Systeme (in verschmutzten, gift-durchzogenen und kleiner werdenden Lebensräumen) einzubeziehen, statt Nachhaltigkeit nur als anthropozentrisches Prinzip für den Erhalt menschlicher Lebensweisen in Gegenwart und Zukunft zu nutzen. Trans-Korporalität bietet hier einen Entwurf, der menschliche und nicht-menschliche Organismen nicht als Entitäten, sondern als interdependente Netzwerke konturiert:
„Thinking the subject as a material being, subject to the agencies of the compromised, entangled world, enacts an environmental posthumanism. The subject cannot be separated from networks of intra-active material agencies […] and thus cannot ignore the disturbing epistemological quandaries of risk society“ (Alaimo 2018:436).
Alaimo adressiert damit auch politische und ethische Dimensionen, die in Nachhaltigkeits- und Zukunftsdiskursen mitgedacht werden sollten, wie dies gleichermaßen von anderen Vertreter*innen formuliert wird (vgl. u.a. Braidotti 2013; Barad 2007). So fordert die Quantenphysikerin und feministische Theoretikerin Karen Barad in ihrem Konzept des Agentiellen Realismus eine „Ethico-Onto-Epistemologie“; darin sind Wissenssysteme, Existenzweisen und ethische Fragen nicht voneinander zu trennen. Vielmehr formuliert sie in dem Begriff der „response-ability“ ein responsives (Ver-)Antwortverhältnis, in dem unterschiedlichste Materialitäten intra-aktiv aufeinander bezogen agieren und Wirklichkeit konstituieren. Barad zufolge ist Ethik „not about right responsibility to a radically exterior/ized other, but about responsibility and accountability for the lively relationalities of becoming of which we are a part“ (Barad 2007:393). Einmal mehr wird in diesem Zitat die ethische und politische Aufgabe formuliert, die Relationalitäten, in und durch die Menschen leben, wahrnehmen zu lernen. Eine trans-korporale Ethik in kulturelle Bildungspraxis einzubeziehen ist folglich das Anliegen, die biologischen, technologischen, ökonomischen, sozialen und politischen Systeme und Prozesse aufzuspüren, um menschliche und nicht-menschliche Akteure als mitweltlich verfasste Netzwerke zu verstehen.
Wie sich diese forschende Haltung in dem beschriebenen Projekt manifestierte, konnte nur ausschnitthaft wiedergegeben werden. Ausgehend von der Annahme einer „verteilten Körperlichkeit“ (vgl. Neimanis 2019:26), ging es in dem Projekt darum, Prozesse zu initiieren, in denen die Teilnehmer*innen sich für die mitweltlichen Systeme und Prozesse sensibilisieren und ihre Verstrickung in diese.
Was tun?! – Kulturelle Bildung und planetare Verstrickungen
„[T]he primacy and living immediacy of sensory experience does not reside solely within the boundaries of the skin, somehow locked within discrete, disconnected bodies.“ (Paterson et al. 2012:2)
Wenn es um eine posthumanistische Orientierung in der Kulturellen Bildung geht, kann diese Aussage Patersons einen grundlegenden Impuls geben, menschliche Körper nicht als einzelne, durch die Hautgrenze unterschiedene Körper zu betrachten. Vielmehr bedeutet ihre sinnlich-leibliche Öffnung „zur Welt hin“ stets eine Verstrickung mit ihren Umwelten – und den darin lebenden menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren. Die sinnlich-leiblichen Eindrücke sind wie Echos, die durch den individuellen, den Gruppenkörper und die erforschte Landschaft hallen. Die Landschaften sind dabei nicht auf ein romantisches Naturbild zu reduzieren, das typischerweise wie auf einer Postkarte imaginiert wird; aus posthumanistischer Perspektive ist Landschaft ein „becoming-in-place […] a hyper-complex interplay of practice, time, space, memory, text/image and materiality” (Jones 2015:4). Landschaften konstituieren sich entsprechend als ein Zusammenspiel, von dem Menschen nur ein Teil sind und trotzdem auf ihre sinnlich-leiblichen Wahrnehmungsprozesse angewiesen sind, um das Zwischenspiel forschend zu untersuchen – und um ihre politische und ethische Verstrickung zu erkennen.
In diesem Sinne lässt sich über den Bezug auf posthumanistische Theorien und das Konzept der Trans-Korporalität Kulturelle Bildung als ein responsives Verhältnis zur Mit_Welt als leibkörperlicher, materieller und situierter Organismus (Braidotti 2013) fassen. Kulturelle Bildung verortet sich dann innerhalb der Herausforderungen dieser Zeit und eröffnet Erfahrungsräume, in der die komplexe Konflikthaftigkeit sozial-ökologischer Prozesse erfahren werden kann. Das hier vorgestellte Projekt „Crossing Boders – The Agronaut’s Journey“ steht exemplarisch für eine solche Praxis, in der sich die Teilnehmer*innen nicht nur für trans-korporale Verbindungen sensibilisieren, sondern auch neue, planetare Imaginationen des Sozialen entwerfen und verhandeln.