Kulturelle Bildung im Spiegel Allgemeiner Bildung. Überlegungen zu einer ambivalenten Beziehung

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von Max Fuchs

Erscheinungsjahr: 2025

Abstract

Es liegt nahe, den Begriff der Kulturellen Bildung mit Konzepten der Allgemeinen Bildung zu vergleichen. Denn wenn Kulturpädagogik ein spezielles Teilgebiet von Allgemeiner Pädagogik ist und wenn man Kulturelle Bildung – wie man es häufig in der Literatur findet – als Teil von Allgemeiner Bildung betrachtet, dann sollte es nicht überraschen, wenn es Gemeinsamkeiten gibt. Andererseits haben beide Disziplinen in vielen pädagogischen Teilgebieten eine eigene Geschichte, spezifische Professionalitäten und bereichsspezische Problemlagen und Themen zu bearbeiten. Für die Kulturpädagogik zeigt sich zudem, dass der Begriff der Kulturellen Bildung als Containerbegriff vieles zusammenfasst, was sich deutlich voneinander unterscheidet. Und die Komplexität erhöht sich noch angesichts der Probleme einer Begriffsbestimmung von Kultur, wenn man das vorherrschende Verständnis von Bildung als subjektive Seite von Kultur und Kultur als objektive Seite von Bildung im Diskursfeld der Kulturellen Bildung zugrunde legt.

Im vorliegenden Text werden daher unterschiedliche Vergleichsmöglichkeiten zusammengestellt und zwei in ihrem jeweiligen Feld relevante „Wissensplattformen“ im Hinblick auf gemeinsam verwendete Schlüsselbegriffe verglichen. Es stellt sich dabei eine große Gemeinsamkeit in der Begrifflichkeit heraus, wobei der Eindruck entsteht, dass in der Kulturpädagogik eine größere Häufung an Begriffen gefunden werden kann, die mit Ausgrenzung und Diskriminierung zu tun haben.

Problemstellung und Überblick

In einer häufig zitierten Begriffsbestimmung von Kultureller Bildung heißt es: „Kulturelle Bildung ist konstitutiver Bestandteil von allgemeiner Bildung“ (Ermert 2009).

Mit einer so verstandenen Kulturellen Bildung werden im selben Text Ziele wie Teilhabe und Partizipation und schließlich die Fähigkeit, sein Leben selbstverantwortlich erfolgreich gestalten zu können, in Verbindung gebracht. Wichtig ist zudem der Hinweis, dass Kulturelle Bildung in einem so verstandenen Sinne nicht irgendein, sondern sogar konstitutiver Teil von Allgemeiner Bildung ist. Diese wiederum hat entsprechend dieser definitorischen Annäherung drei Aufgaben, nämlich die Vorbereitung auf eine Berufstätigkeit, die Ermöglichung politischer und gesellschaftlicher Teilhabe und die Entwicklung der Persönlichkeit.

Karl Ermert hat mit dieser Begriffsbestimmung zentrale Merkmale zusammengestellt, die seit Jahren in kulturpädagogischen Diskursen um Kulturelle Bildung eine zentrale Rolle spielen. Zugleich ist damit ein Zusammenhang zwischen Kultureller und Allgemeiner Bildung hergestellt: Beides ist zwar nicht identisch, aber als konstitutiver Teil von Allgemeiner Bildung muss Kulturelle Bildung zentrale Bestimmungsmerkmale mit Allgemeiner Bildung teilen. Wenn dies allerdings der Fall ist, und der vorliegende Text geht davon aus, dann betreffen nicht nur alle positiven Zuschreibungen, sondern auch alle Probleme des komplexen Allgemeinbildungsbegriffs den Begriff der Kulturellen Bildung. Akzeptiert man zudem ein Verständnis, das Bildung als subjektive Seite von Kultur und Kultur als objektive Seite von Bildung versteht, so wie es einmal Theodor Adorno formulierte und wie es Karl Ermert zustimmend wiederholt, dann erhöht sich die Komplexität und möglicherweise die Verwirrung noch dadurch, dass auch die nicht unerheblichen Probleme bei einer Begriffsbestimmung von „Kultur“ mitberücksichtigt werden müssen, wenn von „Kultureller Bildung” die Rede ist.

Zuletzt hat der Bildungshistoriker Heinz-Elmar Tenorth (2020) als Bilanz eines langen Forscherlebens eine 700-seitige Studie – „Die Rede von Bildung“ – vorgelegt, in der er zahlreiche Irritationen und Probleme in Theorie und Praxis und dies in historischer und systematischer Perspektive im Umgang mit dem Bildungsbegriff aufzeigt. Unter anderen erinnert er an den engen Zusammenhang zwischen Bildung als Prozess individueller Entwicklung mit gesellschaftlichen Kontexten:

„Aktuell wie historisch versammelt Bildung (…) die Diskutanten immer neu dann, wenn die Bedingungen des Aufwachsens der jungen Generation, das von ihr erwartete Verhalten oder die Struktur und die Leistungen des Bildungssystems behandelt werden. Dann bestimmt der Begriff der Bildung den deutschen Diskurs über Gegenwart und Zukunft der Gesellschaft, ja der Menschheit, und zwar in höchst vielfältiger Weise. Gelegentlich wird dabei sogar die Frage thematisiert, wie im Wechsel der Generationen endlich die Vernunft zur bestimmenden Kraft in der gesellschaftlichen Wirklichkeit werden kann.“ (Tenorth 2020, 1)

Eine Intensivierung von Bildungsdiskursen – und auch hierbei gibt es einen engen Bezug zum Kulturdiskurs – findet gemäß dieser Beobachtung oft in Zeiten gesellschaftlicher Krisen statt. Krisendiskurse können zwar auch individuelle Krisen betreffen, wenn etwa Widerfahrnisse wie Erkrankungen, Arbeitslosigkeit oder andere Schicksalsschläge zu bewältigen sind, sie sind jedoch in vielen Fällen gesellschaftlich induziert. Dies bedeutet wiederum, dass man eine Erörterung über Bildung immer auch mit einer Erörterung über gesellschaftliche Problemlagen – und dies inzwischen in globalem Maßstab – verbinden muss. Das zeigt sich an einer Liste von Diskussionsanlässen, die Tenorth als Beispiele für die gesellschaftliche Eingebundenheit von Bildungsdiskursen anführt: Bildungsökonomie, Bildungsrecht, Bildungsplanung, Bildungsgerechtigkeit, Bildungsgleichheit, Bildungslüge, Bildungspanik, Bildungswahn und viele andere (Tenorth a. a. O., 2). Der gesellschaftliche Wandel muss daher nicht nur Teil jeder Reflexion von Bildung sein, sondern er muss auch einen möglichen Wandel im Bildungsverständnis zur Folge haben.

Dass dies in der Tat der Fall ist, lässt sich an großen Ereignissen und Etappen in der (europäischen) Geschichte zeigen. So kann man an die intensiven Bildungsdiskurse zur Zeit der Renaissance, der Aufklärung, der sich durchsetzenden Industrialisierung, der Hochindustrialisierung rund um 1900, dem Übergang zur Dienstleistungsgesellschaft und aktuell angesichts der zentralen Probleme der Umweltzerstörung, der Digitalisierung, der sich vergrößernden ökonomischen Ungleichheit und der anwachsenden Zahl kriegerischer Auseinandersetzungen und ihren Auswirkungen auf die Pädagogik in Theorie und Praxis denken (siehe etwa Berg u. a. 1996 f.).

Von Hegel stammt die Aussage, dass Philosophie die Aufgabe habe, ihre Zeit in Begriffe zu fassen (vgl. Hegel 1972/1821, 12). Philosophie ist in diesem Verständnis keine zeitlich und gesellschaftlich unabhängige Denkübung, sondern Reflexion und Diagnose ihrer Zeit. Diese Aussage kann man auf alle Theoriebildungsprozesse ausdehnen, sodass man der Bildungstheorie die Aufgabe zuweisen kann, ihren Gegenstand, nämlich die stattfindenden oder geplanten Bildungsprozesse, in Begriffe zu fassen. Vor dem Hintergrund des vorliegenden Textes bedeutet dies zum einen, aktuelle Theorieangebote im Bereich der Allgemeinen Bildung daraufhin zu überprüfen, inwieweit derzeitige gesellschaftliche und individuelle Herausforderungen begrifflich erfasst werden. Desweiteren wird zu überprüfen sein, welche Beziehungen es zwischen aktuellen Theorien der Allgemeinbildung und Theorien der Kulturellen Bildung gibt. Das bedeutet insbesondere die Nachfrage, ob in den letztgenannten Vorschlägen die oben identifizierten aktuellen Problemlagen auftauchen und in welcher Weise sie behandelt werden.

Damit ergibt sich das folgende Arbeitsprogramm: Zunächst ist zu überprüfen, welche Arten von Beziehungen überhaupt zwischen Theorien Kultureller Bildung und solchen der Allgemeinbildung bestehen können. Der oben angeführte Vorschlag von Karl Ermert, der häufig auch in der Formulierung auftaucht, Kulturelle Bildung sei Allgemeinbildung, die mit spezifischen, nämlich mit kulturpädagogischen Methoden entwickelt wird, beschreibt eine erste relevante Beziehung zwischen beiden Bereichen. Man wird sehen, ob es weitere mögliche Beziehungen gibt. Eine nächste Aufgabe besteht darin, vorliegende (zeitgenössische) Ansätze einer Theorie der Allgemeinen Bildung zu sichten und zu überprüfen, inwieweit aktuell diskutierte Problemlagen thematisiert werden. Dasselbe ist für Theorien und Konzeptionen Kultureller Bildung zu leisten, sodass es möglich sein wird, den Zusammenhang von Allgemeiner und Kultureller Bildung präziser zu beschreiben. Aus diesen Überlegungen ergeben sich zukünftige Aufgaben für die Theorie und Praxis Kultureller Bildung. Allerdings würde eine angemessene Umsetzung dieses Programms die Grenzen dieses Beitrages sprengen. Was also ist möglich?

Mögliche Zusammenhänge zwischen Allgemeiner und Kultureller Bildung

Jeder Vergleich zwischen Allgemeiner und Kultureller Bildung ist mit dem Problem konfrontiert, dass beide Bereiche ausgesprochen vielfältig und ausdifferenziert sind, sodass es schon aufgrund der großen Anzahl auf beiden Seiten nahezu unmöglich ist, jede Konzeption des einen Bereiches mit jeder Konzeption des anderen Bereiches in Beziehung zu setzen. Man wird sogar erkennen müssen, dass es Fälle gibt, bei denen man eine völlige Unvergleichbarkeit feststellen muss, etwa dann, wenn die weltanschaulichen Grundüberzeugungen, die den Theorieangeboten zugrunde liegen, einander widersprechen. Man muss nur einmal nationalsozialistische mit demokratischen Vorstellungen vergleichen (siehe Keim 1995). Denn es handelt sich bei Theorien nicht bloß um objektive und wertfreie Ansätze (sofern es so etwas überhaupt gibt), sondern es ist gerade – wie oben erwähnt – die Frage der Bildung vielfach eingebunden in gesellschaftliche Zusammenhänge, was auch bedeutet, dass Interessenlagen und Machtfragen eine entscheidende Rolle spielen. Zudem spielen Werte und Vorstellungen darüber, was Menschsein ausmacht (also Anthropologie) eine wichtige Rolle (siehe etwa Wulf/Zirfas 2014).

Trotzdem lassen sich in einer eher abstrakten Annäherung einige Typen von Beziehungen unterscheiden. Eine erste Beziehung ist die oben genannte, nämlich Kulturelle Bildung als Teil von Allgemeinbildung oder sogar als mit ihr identisch zu verstehen („Einbettungs- bzw. Identitätsmodell“). Eine zweite Beziehung ist ein Nebeneinander beider Bereiche, die im Rahmen einer „Koevolution“ miteinander in Beziehung stehen („Korrespondenzmodell“). Eine dritte Möglichkeit, die in der Geschichte des Bildungsdenkens eine relevante Rolle gespielt hat, besteht darin, Erziehungswissenschaft insgesamt als Kulturpädagogik zu konstituieren bzw. Pädagogik wesentlich durch das Prinzip Ästhetik bestimmt zu sehen (siehe etwa Meyer-Drawe 2004). Ein solcher Ansatz findet sich etwa in der Weimarer Republik, als die Geisteswissenschaftliche Pädagogik im Anschluss an Wilhelm Dilthey den zunächst pejorativ gemeinten Begriff der Kulturpädagogik als Selbstbezeichnung übernahm (siehe Fuchs 2013). Ästhetik und ästhetische Praxis spielten bereits früher bei Schillers Vorstellungen von Erziehung sowie bei Herbart im frühen 19. Jahrhundert eine konstituierende Rolle. Ein entsprechendes Verständnis Kultureller (bzw. ästhetischer) Bildung wird somit identisch mit Allgemeiner Bildung. An dieser Stelle sollte auf den Container-Charakter des Begriffs der Kulturellen Bildung hingewiesen werden. Denn es gibt neben dem Begriff der Kulturellen Bildung je nach Kontext und Tradition andere Bezeichnungen, die oft synonym gebraucht werden (ästhetische, sozialkulturelle, musische, aisthetische etc. Bildung, zudem Jugendkulturarbeit oder soziokulturelle Bildung; siehe Fuchs 2008 sowie den historischen Überblick von Jörg Zirfas in Fuchs / Braun 2017).

Ein weiteres Modell („Separierungsmodell“) trennt beide Bereiche voneinander oder sieht sie sogar als Gegensatz, wenn etwa Kulturelle Bildung als eine Art Berufsvorbereitung gesehen wird; eine solche Debatte gab es bei dem lang andauernden (und bis heute nicht beendeten) Streit über das Verhältnis von Allgemeinbildung und beruflicher Bildung.

Im Hinblick auf weitere mögliche Dimensionen der Vergleichbarkeit sind etwa denkbar:

  • die Verfolgung desselben Zieles (so etwa das gemeinsame Ziel der Persönlichkeitsentwicklung in der Schule und in der außerschulischen Jugendarbeit, so wie es in §1 des Kinder- und Jugendhilfegesetzes und in den Zielparagraphen der Schulgesetze formuliert wird),
  • hinsichtlich der verwendeten Forschungsmethoden (hermeneutische, Phänomenologie, empirisch, qualitativ etc.),
  • im Hinblick auf den Bezug auf Theorien aus anderen Feldern wie der Soziologie, der Philosophie, der Psychologie etc., sodass man entsprechend philosophische, soziologische, psychologische, ethnologische etc. Konzeptionen der Allgemeinen und der Kulturellen Bildung unterscheiden kann (siehe Fuchs 2023, Teil 1).
  • Neue Ansätze, die erst am Anfang stehen, sind etwa Ansätze einer posthumanistischen (kulturellen bzw. allgemeinen) Bildung (siehe etwa Wimmer 2017).
  • Eine Vergleichbarkeit könnte sich auch dadurch ergeben, dass beide Bereiche von einer ähnlichen Bewertung gesellschaftlicher Problemlagen (Umwelt, Digitalisierung, soziale Ungleichheit etc.) ausgehen.
  • Eine weitere Vergleichbarkeit ergibt sich in der Unterscheidung zwischen kritischen und affirmativen Ansätzen.

Gemeinsamkeiten bzw. Unterschiede zwischen Allgemeiner und Kultureller Bildung kann man auch bei der Nutzung unterschiedlicher Zugriffsweisen erkennen. So ist beispielsweise die Fragestellung „Kulturelle bzw. Allgemeine Bildung als…“ durchaus ergiebig. Tenorth (a. a. O., Kapitel 23) diskutiert etwa die Aspekte: Bildung als Wert in sich selbst, als Besitz und Status, als Moment und Formung der Lebensführung, als Wachstumsfaktor und Modernisierungspotenzial, als essenziell für die Gestaltung der Demokratie, als Ware. All dies lässt sich auch sinnvoll bei Kultureller Bildung fragen, und dies insbesondere dann, wenn man die Überlegungen von Pierre Bourdieu (1984) zur sozialen Funktion der Künste mitberücksichtigt (Stichworte: Distinktion und Zusammenhang zwischen sozialem, kulturellem und ökonomischem Kapital).

Auch bei der Anwendung einer alternativen soziologischen Theorie, nämlich dem strukturfunktionalen Modell von Talcott Parsons, ergeben sich sinnvolle Fragemöglichkeiten. Der Erziehungswissenschaftler und Psychologe Helmut Fend (2006) hat das Parsonsche Strukturmodell der Gesellschaft, das die Subsysteme Politik, Wirtschaft, Soziales und Kultur unterscheidet, genutzt, um „gesellschaftliche Funktionen von Schule“ zu erfassen. Daraus haben sich folgende Bildungsaufgaben der Schule ergeben: für die Wirtschaft Qualifikation, für den Bereich der Politik Legitimation, für das Subsystem Gemeinschaft Allokation und Selektion und für das Subsystem Kultur das Ziel der Enkulturation.

Es lässt sich vor diesem Hintergrund sinnvoll fragen, inwieweit Angebote Kultureller Bildung diese gesellschaftlichen Funktionserwartungen innerhalb und außerhalb der Schule gleichermaßen erfüllen oder ob sie sich explizit gegen bestimmte dieser Funktionserwartungen richten (siehe etwa Fuchs 2014).

Neben gesellschaftlichen Funktionserwartungen gibt es bei Bildungsprozessen natürlich auch und in erster Linie Erwartungen im Hinblick auf die Entwicklung der unterschiedlichen Dimensionen der Persönlichkeit, nämlich der Entwicklung von Wissen, Werten, einer politischen, ästhetischen, sozialen und ökonomischen Urteilskraft, der Entwicklung der Körperlichkeit und Leiblichkeit, der Emotionalität, der Haltung zur Welt und zu sich selbst etc. Es geht um die Gestaltung und Transformation von Selbst- und Weltverhältnissen (siehe Fuchs 2024). Auch hierbei lässt sich fragen, inwieweit sich solche Erwartungen und Zielvorgaben in beiden Bereichen finden, welche Unterschiede es gibt und was sich an diesen Erwartungen empirisch bestätigen lässt (Stichwort: Wirkungsforschung).

Bildungsdiskurse im Wandel

Zwar interessiert sich die vorliegende Arbeit für aktuelle Diskurse, doch lohnt ein Blick in die Geschichte, da es sich möglicherweise zeigt, dass bestimmte, für neu gehaltene Debatten durchaus historische Vorläufer haben. So kann man etwa für die europäische Neuzeit feststellen, dass immer wieder der Topos des Humanismus auftaucht (siehe Fuchs 2022). Dies geschah in der Renaissance, die man als Bildungsepoche verstehen kann, als erstmals explizit und ausführlich über die „Würde des Menschen“ (Pico della Mirandola) nachgedacht wurde. Die Neuhumanisten rund um die Jahrhundertwende 1800 wandten sich gegen die als (barbarisch und antihuman verstandene) Funktionalisierung der Pädagogik für ökonomische und gesellschaftliche Zwecke durch die Philanthropisten (siehe die damalige Streitschrift von Friedrich Immanuel Niethammer) und sie wollten stattdessen  – auch im Anschluss an Rousseau, der sich ebenfalls gegen eine zu schnelle gesellschaftliche Funktionalisierung der Heranwachsenden wandte – zunächst das “Allgemein Menschliche” in Bildungsprozessen befördern.

Diese Auseinandersetzung hat bis heute kein Ende gefunden, wenn nach wie vor wirtschaftspolitische Argumente bei der Gestaltung eines entsprechenden, kompetenzorientierten und evidenzbasierten Bildungssystems eine wichtige Rolle spielen, wogegen sich Befürworter einer humanistischen Allgemeinbildung – auch und gerade im Bereich der Kulturellen Bildung – zur Wehr setzen (Stichwort: Kritische Pädagogik; siehe etwa Bernhard/Rothermel 2001 sowie Fuchs / Braun 2017). Insbesondere betrifft dies die aktuelle Auseinandersetzung über den Umgang mit der Digitalisierung in der Gesellschaft (siehe Dander u.a. 2024).

Eine historische Betrachtung der Entwicklung der Bildungsdiskurse zeigt zudem, dass es durchaus Paradigmenwechsel gab, als etwa kybernetisches Denken und programmierte Unterweisung ein erstes Mal in den 1970er Jahren in der pädagogischen Debatte auftauchten, für einige Jahrzehnte aus der Diskussion verschwanden und nunmehr im Rahmen der Digitalisierungsdebatte wieder aufleben. Auch traditionelle Vorstellungen einer humanistischen Bildung, die sich sehr stark an den Geistes- und Kulturwissenschaften orientieren, findet starke Befürworter*innen (siehe etwa die entsprechenden Schriften von Volker Steenblock (1999) oder Manfred Fuhrmann (2002). Allerdings nutzen die genannten Autoren die Pädagogik zur Legitimation ihres eigenen Fachgebietes, das im Rahmen des Bologna-Prozesses in seiner Existenz (an der Universität) bedroht ist. Der angesprochene „Paradigmenwechsel“ bedeutet nunmehr nicht, dass eine Denkweise vollständig von einer anderen abgelöst wird, sondern auch überwunden geglaubte Konzeptionen leben weiter und werden möglicherweise von nachfolgenden Wissenschaftler*innengenerationen neu entdeckt (siehe Fuchs 2023a).

Paradigmenwechsel können zustande kommen oder werden sogar gefordert, wenn es gravierende Veränderungen in Bezugsdisziplinen wie etwa der Soziologie, Psychologie oder Philosophie gibt. In diesen Bezugsdisziplinen werden möglicherweise solche Themen aufgegriffen und als Herausforderungen – auch für die Erziehungswissenschaft – definiert, die bislang keine hervorgehobene Rolle spielten. Man kann dies an Themen wie Migration und Diversität, an sozialer Ungleichheit, Globalisierung und – wie schon erwähnt – an Digitalisierung festmachen. Neuere Konzeptionen wie etwa der Gedanke einer Ich-AG, der Individualisierung und Singularität, der Beschleunigung und Resonanz oder in früheren Zeiten der Risiko-, Erlebnis- oder Dienstleistungsgesellschaft werden in der Erziehungswissenschaft aufgegriffen und zu Bildungskonzeptionen umgeformt. Auch Vertreter*innen der Kulturellen Bildung greifen auf solche Theorieangebote zurück, möglicherweise auch deshalb, um zu signalisieren, dass man „auf der Höhe der Zeit” argumentiert (aktuelles Beispiel: Resonanzpädagogik).

Interessant ist, dass trotz dieser aktuellen Herausforderungen Darstellungen, die einen Überblick über Bildungstheorien geben, zu einem überwiegenden Teil historisch vorgehen und vom Umfang der Bücher her den größten Teil früheren, zumeist europäisch-neuzeitlichen Bildungskonzeptionen widmen. Dies findet seine Berechtigung darin, dass auch neuere Theorieansätze im Bereich der Allgemeinen, aber auch der Kulturellen Bildung zum Teil lange in der Geistes- und Kulturgeschichte zurückgehen. So finden sich hinsichtlich der Kulturellen Bildung bei einer Schlagwortsuche in der Wissensplattform kubi-online.de folgende Anzahl von Nennungen: Platon: 36, Hegel: 46, Kant: 32, Schiller: 79, wohingegen Wolfgang Klafki nur 18-mal genannt wird. Interessant im Hinblick auf die Rezeption neuerer Autor*innen sind zudem die folgenden Nennungen: Adorno: 60, Marx: 49, Dewey: 50, Foucault: 73 (Stand 24.4.2025).

Unter den verschiedenen Darstellungen von Bildungstheorien hebt sich das Buch von Markus Rieger-Ladich (2020) deutlich hervor. Rieger-Ladich unterscheidet nicht nur die Vielfalt an Bildungsdiskursen und eine gewisse Nachlässigkeit bei der Bestimmung des Gegenstandes in Bildungsdebatten, er weist auch darauf hin, dass bei gesellschaftlichen Krisen oft in geeigneten Bildungsmaßnahmen eine Lösung gesehen wird (Rieger-Ladich 2020, 12ff.). Auch er beginnt seine Darstellung mit Platon und schreitet mit großen Schritten von Meister Eckhart, Pico della Mirandola und Montaigne bis hin zu der Zeit um die Jahrhundertwende 1900. Er diskutiert die Ansätze von John Dewey, Horkheimer, Adorno und Heydorn, und geht – dies spielt für die Aktualität dieses Buches eine wichtige Rolle – auch auf die Ansätze aus dem Bereich der Cultural Studies (Stuart Hall), der feministischen Debatten (Judith Butler), der poststrukturalistischen Ansätze (Michel Foucault) und schließlich der postkolonialen Ansätze (Gayatri Chakravorty Spivak) ein. Interessant sind dabei seine Gliederungspunkte, die er zwar aus den besprochenen Arbeiten nimmt, die in ihrer Abfolge aber auch als theoretische Rekonstruktion gesellschaftlicher und pädagogischer Entwicklungen gelten können, u. a.:

  • Demokratie und Erfahrung: John Dewey,
  • Emanzipation und Mündigkeit: Max Horkheimer, Theodor W Adorno, Heinz-Joachim Heydorn,
  • Distinktion und Reproduktion, Eigensinn und Widerstand: Pierre Bourdieu und Stuart Hall,
  • Stellvertretung, Bevormundung – und Emanzipation: Jacques Rancière, Gayatri Spivak,
  • Disziplinierung und Objektivierung: Michel Foucault, Judith Butler.

Die oben angegebenen Nennungen der Autor*innen auf kubi-online.de zeigen an, dass all die genannten Autor*innen auch im Bereich der Kulturellen Bildung rezipiert werden und relevant sind.

Aktuelle Themen in der Allgemeinen und Kulturellen Bildung

Ein weiterer Zusammenhang zwischen Allgemeiner und Kultureller Bildung könnte darin bestehen, dass aktuell relevante Themen in beiden Bereichen angesprochen werden. Im Hinblick auf die Allgemeine Erziehungswissenschaft und die Allgemeine Bildungstheorie ist in diesem Zusammenhang das Buch „Schlüsselbegriffe der Allgemeinen Erziehungswissenschaft“ (Feldmann u. a. 2022) hilfreich. Für eine Recherche im Bereich der Kulturellen Bildung bietet es sich wieder an, die Wissensplattform kubi-online.de zu nutzen. Zunächst einmal stellen die Herausgeber*innen der „Schlüsselbegriffe“ fest, dass die Erziehungswissenschaft eher Debatten und Schlüsselbegriffe von außen übernimmt als dass sie bislang die Möglichkeit nutzte, mit eigenen Begrifflichkeiten Debatten in den Medien oder anderen Wissenschaften zu beeinflussen (ebd., 10). Allerdings scheint sich dies insofern zu ändern, als erziehungswissenschaftliche Debatten über Diskriminierung, Intersektionalität und Vulnerabilität wichtige Impulse für außerpädagogische Diskursfelder gegeben haben. Interessant ist auch der folgende Hinweis:

„Diese Studien zu pädagogischen Einrichtungen, die ein besonderes Augenmerk auf die Verschränkung von Rassismus, Klassismus, Sexismus und Heteronormativität richten, werden auch jenseits der Grenzen der Disziplin wahrgenommen und können mit guten Gründen als Beiträge zu einer emanzipatorischen Identitätspolitik interpretiert werden (…).“

Und weiter: „Daher lässt sich konstatieren: Das pädagogische Vokabular ist neuerlich in Bewegung geraten. Hatte sich die Erziehungswissenschaft in den 1960er Jahren, nachdem von Georg Picht die „Bildungskatastrophe“ (…) ausgerufen worden war, um eine Modernisierung bemüht und zu diesem Zweck den Anschluss an die Sozialwissenschaften gesucht, führt nun eine abermalige Öffnung in Richtung der Kulturwissenschaften (Gender Studies, Postcolonial Studies etc.) dazu, dass das begriffliche Instrumentarium weiter wächst.“

Die Herausgeber*innen weisen darauf hin, dass zwar immer noch traditionelles Vokabular aus vergangenen Jahrhunderten verwendet werde, dass aber immer häufiger Begriffe aus dem anglo-amerikanischen Sprachraum aus unterschiedlichen Disziplinen benutzt werden. Beispiele sind „Othering“ und „Cultural Appropriation“. Diese Verschiebung im Vokabular zeigt sich dann auch an ausgewählten Begrifflichkeiten. Beispiele, die in früheren Wörterbüchern nicht zu finden sind etwa Anthropozän, Dekolonialität, Digitalisierung, Intersektionalität, Adressierung, Privileg, Objektivierung. Neben traditionellen Begriffen wie Bildung und Beredsamkeit, Biografie, Demokratie, Dialektik oder Fortschritt gibt es allerdings auch einige Begriffe, die bereits seit einigen Jahrzehnten verwendet werden, die aber – auch aufgrund ihrer Erklärungskraft angesichts gesellschaftlicher Zustände – nach wie vor hochaktuell sind. Beispiele sind etwa Anerkennung, Gender, Mündigkeit, Relationalität, Utopie. Nicht uninteressant ist zudem, dass bestimmte Begriffe, von denen man glaubte, dass sie überwunden seien, eine neue Konjunktur erleben. Beispiele sind etwa Solidarität, Klasse oder Dialektik.

Eine Recherche mithilfe der genannten Stichworte auf der Wissensplattform kubi-online.de zeigt, dass all die genannten Begriffe auch in Texten zur Kulturellen Bildung eine Rolle spielen. Neben den oben genannten historischen Begrifflichkeiten und Namen wie etwa Schiller, Hegel, Kant oder Kritik, Krise und Emanzipation spielen als Namen und Begriffe aus der neueren Diskussion eine wichtige Rolle: Foucault mit 73 Nennungen, Bourdieu mit 125 Nennungen und auch Spivak mit 25 Nennungen. Interessant ist, dass viele im Bereich der Kulturellen Bildung genannte Begrifflichkeiten wie etwa Selbstwirksamkeit (148), Teilhabe (608), Diskriminierung (141) oder Transformation (290) offenbar nicht zu den Schlüsselbegriffen der Allgemeinen Erziehungswissenschaft gezählt werden.

Man kann also fragen, ob es möglicherweise im Bereich der Kulturellen Bildung für bestimmte Aspekte, die mit Abgrenzung und Ausschließung zu tun haben, eine größere Sensibilität als im Bereich der Allgemeinen Erziehungswissenschaft gibt. Der Hinweis auf die hohe Nennungszahl etwa des Begriffs der Transformation (290) und der transformationellen Bildung (62) weist auf die Popularität dieser Bildungstheorie hin. Und nach wie vor spielt das Bildungskonzept von Wolfgang Klafki (1994) mit seiner Nennung von „epochaltypischen Schlüsselproblemen“ eine relevante Rolle in Bildungsdiskursen. Dies ist auch deshalb verständlich, weil Klafki mit seiner Liste epochaltypischer Schlüsselprobleme – u.a. der Umweltproblematik, der Frage nach Krieg und Frieden und der wachsenden Ungleichheit – Probleme angesprochen hat, die in den über 30 Jahren seit ihrer Erstveröffentlichung noch deutlich an Relevanz gewonnen haben.

Man erlebt die heutige Zeit, so auch das Handbuch der Schlüsselbegriffe (WAS IST DAS???), als Zeit eines dynamischen gesellschaftlichen Wandels, sodass es plausibel ist, dass der gesellschaftstheoretische und ökologische Begriff der Transformation (siehe etwa WBGU 2019 oder Schneidewind 2018) auch in der erziehungswissenschaftlichen Debatte eine wichtige Rolle spielt. So ist es kein Zufall, dass mit dem Transformationsbegriff verbundene Begriffe nicht nur im Bereich der Kulturellen Bildung prominent vertreten sind, sondern dass auch Hans-Christoph Koller, der ein viel gelesenes Lehrbuch über „Grundbegriffe, Theorien und Methoden der Erziehungswissenschaft“ (2017) geschrieben und aktuell eine „Einführung in die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse“ (in seinem Buch „Bildung anders denken“; Koller 2023) vorgelegt hat, im Bereich der Kulturellen Bildung mehrfach zitiert wird und auch den zentralen Schlüsselbegriff „Bildung“ in dem zitierten Handbuch verfasste. Koller erwähnt in seinem Handbuch-Artikel nicht bloß die regelmäßig vorgelegten Einführungstexte in die Bildungstheorie, sondern er spricht auch davon, dass man gerade am Bildungsbegriff zeigen könne, dass „Totgesagte länger leben“ (Feldmann u.a, a. a. O., 55). Er geht auf die häufiger vorgetragene Kritik am Bildungsbegriff und Versuche ein, auf ihn zu verzichten und etwa durch den Begriff der Subjektivierung zu ersetzen. Er gesteht zwar ein, dass der Aspekt der Machtzusammenhänge und der Verstrickungen des Bildungsbegriffs mit Formen der Unterdrückung stärker zu thematisieren sei, aber er kommt letztlich zu dem auch für die Kulturpädagogik relevanten folgenden Fazit:

„Doch die kritische Auseinandersetzung mit solchen Zusammenhängen enthebt die erziehungswissenschaftliche Reflexion nicht der Aufgabe, die Maßstäbe solcher Kritik zu begründen und dafür Begriffe zu verwenden, die ihrerseits zu einer Orientierung pädagogischen Handelns beitragen können – also genau die Funktion zu erfüllen, die traditionell dem Bildungsbegriff zugesprochen wurde. In diesem Sinne ist der Bildungsbegriff auch unter aktuellen gesellschaftlichen Bedingungen systematisch unverzichtbar für erziehungswissenschaftliche Reflexion.“ (ebd., 61)

Beispiele für Themen, die sowohl im Bereich der Allgemeinen als auch der Kulturellen Bildung intensiv diskutiert werden, sind etwa Fragen der Nachhaltigkeit („Bildung für nachhaltige Entwicklung BNE“), Globales Lernen, Digitalisierung und in den letzten Jahren zunehmend die Rezeption postkolonialer Ansätze verbunden mit der Thematisierung von Rassismus, Diskriminierung, Sklaverei und Kolonialisierung. Eine neue Herausforderung für die Allgemeine Erziehungswissenschaft und die Kulturpädagogik besteht unter anderem darin, mit der sich ständig vergrößernden Anzahl von „studies“ Schritt zu halten. All diese studies thematisieren spezielle Formen von Diskriminierung (141 Nennungen in kubi-online.de), wobei einige Diskriminierungsformen, wie etwa der Umgang mit Menschen mit Behinderung (Stichwort Inklusion, 190 Nennungen) oder die Gender-Problematik (318 Nennungen), bereits jetzt häufig behandelte Themen sind. Es gibt zudem eine wachsende Sensibilität für das Thema Rassismus (83 Nennungen). Im Hinblick auf diese Themen dürften sich die Debatten im Bereich der Allgemeinen und der Kulturellen Bildung folglich gleichen.

Aus meiner Sicht gleichen sich beide Diskursfelder allerdings auch im Hinblick auf einen Nachholbedarf. So ist zum einen Vertreter*innen aus dem postkolonialen Bereich zuzustimmen, dass es in der Erziehungswissenschaft insgesamt eine Dominanz des eurozentrischen Blickes gibt, wenn etwa in historischen Darstellungen des pädagogischen Denkens nahezu ausschließlich westliche und oft genug auch nur europäische Denker*innen vorgestellt werden. Aus dem westlichen Bereich erfahren zumindest der amerikanische Philosoph und Pädagoge John Dewey sowie aus dem Bereich der Länder des Globalen Südens der Brasilianer Paolo Freire eine größere Aufmerksamkeit. Konsequenter wird der pädagogische Wissenstransfer etwa in dem Buch von Ralf Koerrenz (2017) behandelt und ist damit eine Ausnahme.

Ein Problem, das m. M. n.  einer größeren Rezeption postkolonialer Theorien entgegensteht, sehe ich in einigen ihrer theoretischen Schwächen. So beklagen selbst Autor*innen, die sich dem postkolonialen Diskurs zuordnen, dass oft allzu grobschlächtig gegen Aufklärung, Vernunft und Moderne argumentiert wird, unter anderem etwa dadurch, dass ein eindimensionales Bild von diesen gezeichnet wird (etwa Sebastian Conrad 2013, 119ff.), Jürgen Osterhammel (2010, 405ff.) oder Frederick Cooper (2012, 36ff.), alle drei sind renommierte Historiker, die sich mit Kolonisierung und Sklaverei befasst haben; siehe Fuchs 2024). Es gibt zudem einen inflationären Gebrauch des Machtkonzeptes, verbunden mit einer Fokussierung auf das bloß Diskursive, wobei materiale (politische, soziale und ökonomische) Sachverhalte in den Hintergrund rücken und der massenhafte Gebrauch das Machtkonzept nahezu bedeutungslos werden lässt. Interessant ist, dass es in jüngerer Zeit eine Renaissance des Klassenbegriffs gibt, sodass möglicherweise das genannte Defizit behoben werden könnte (siehe Andreas Kemper und Heike Weinbach 2007). Interessant ist zudem, dass beklagt wird, es gäbe noch keine ausformulierte postkoloniale Pädagogik (etwa Castro Varela 2020), wobei offensichtlich übersehen wird, dass es gerade im Bereich indigener Völker und Gruppierungen nicht bloß elaborierte Debatten und Konzeptionen zu diesem Thema gibt, sondern dass sich – etwa in Neuseeland (Maori) oder in Nordamerika (First Nations) – Institutionalisierungen im Bereich des Bildungssystems bis hin zur Gründung eigener Universitäten ergeben haben (Norman Denzin 2008, Linda Tuhiwai Smith 2021). In diesem Zusammenhang sind vielleicht die (selbst-) kritischen Hinweise der indisch-amerikanischen Wissenschaftlerin Gayatra Spivak (2024) relevant, die sich nicht nur gegen einen inflationären Gebrauch des Rassismusbegriffs wendet, so wie er etwa gegen Kant ins Spiel gebracht wurde („Wir alle sind Rassisten“), sondern die in ihren Arbeiten umfangreich die ästhetisch-politische Konzeption von Friedrich Schiller rezipiert und insgesamt die im postkolonialen Bereich häufig vorzufindende Kritik an Aufklärung, Vernunft und an prominenten Vertretern wie Kant („Ich bewundere ihn“) ablehnt.

Schlussbemerkungen: Desiderate und Perspektiven

Die oben vorgestellten Recherchen, inwieweit bestimmte Fachbegriffe im Bereich der Allgemeinen und der Kulturellen Bildung verwendet werden, haben zu dem Ergebnis geführt, dass es eine große Zahl von Übereinstimmungen gibt. Dies kann allerdings nur als heuristisches Ergebnis gewertet werden, dem gründlichere Studien folgen müssen. Denn zum einen wäre es sinnvoll, weitaus mehr Quellen zu nutzen, als es hier geschehen ist. Zum anderen habe ich lediglich die Anzahl von Nennungen genannt, bin aber nicht auf die Inhalte und Verwendungsweisen der jeweiligen Begriffe eingegangen. Dies wäre eine Aufgabe, die in Zukunft geleistet werden müsste.

Weiteres ist zu bedenken: Eingangs wurde darauf hingewiesen, dass das Feld der Kulturellen Bildung ausgesprochen heterogen ist. So kann man Unterscheidungen etwa danach treffen, ob Kulturelle Bildung innerhalb oder außerhalb der Schule bzw. bei anderen Altersgruppen als bei Kindern und Jugendlichen stattfindet. In einer früheren Arbeit habe ich vorgeschlagen, ein Modell konzentrischer Kreise bei der Klärung des Begriffs der Kulturellen Bildung zu verwenden. Der innerste Kreis besteht aus dem Bereich der „künstlerischen Bildung“, also aus einem Umgang mit den traditionellen (europäischen) Künsten wie Musik, Theater, bildende Kunst, Literatur, Tanz etc. Dies ist das Feld, auf das sich etwa der inzwischen aufgelöste Rat für Kulturelle Bildung konzentriert hat. In dieses Feld gehören die künstlerischen Schulfächer sowie spezialisierte Einrichtungen wie etwa Musikschulen mit einem fokussierten Programm sowie die Angebote der Kultureinrichtungen. Auf diese Arbeitsformen beziehen sich viele Autor*innen, wenn von „bildenden Wirkungen ästhetischer Erfahrungen“ gesprochen wird (vgl. etwa Rittelmeyer 2016).

Einen erweiterten Bereich könnte man ästhetische Bildung nennen. Zu diesem Bereich kann man zusätzlich zu den erwähnten Künsten den Umgang mit ästhetisch gestalteten Alltagsprodukten und –praktiken (also etwa Design, Mode, Architektur) zählen. Noch umfassender ist ein Bereich, den man eine „aisthetische Bildung“ nennen könnte. Aisthesis bedeutet im Griechischen sinnliche Wahrnehmung, also die besondere Berücksichtigung des Körpers und Leibes. Im Bereich der Kulturellen Bildung wären hier etwa Spielpädagogik und Zirkuspädagogik – auch als niederschwellige Angebote – zu nennen.

Kulturelle Bildung könnte man dann wie oben erwähnt als Container verstehen, der all diese unterschiedlichen Artikulationsformen von Kultureller Bildung umfasst. Im Hinblick auf die Beziehung zur Allgemeinen Bildung müsste jetzt jedes einzelne dieser Felder gesondert untersucht werden. So ergibt sich als ein besonderer Fall die Situation künstlerischer Schulfächer. Diese sind – wie Schule insgesamt – einem Allgemeinbildungskonzept verpflichtet, so wie es in den jeweiligen Schulgesetzen ausformuliert wird. Der Bezug zur Allgemeinbildung ist also deutlich. Weniger klar ist der Bezug zur Kulturellen Bildung. So haben sich in den verschiedenen künstlerischen Schulfächern eigene und durchaus nach außen abgegrenzte Diskursfelder entwickelt, die sich sehr stark auf eigene Traditionen und Begrifflichkeiten beziehen. Der Begriff der Kulturellen Bildung wird in diesen Kontexten seltener erwähnt, zum Teil lehnt man ihn sogar ab, und dies aus guten Gründen. Denn es ist bereits in einigen Bundesländern die Situation eingetreten, dass künstlerische Fächer aufgelöst und in einem Fach „Kulturelle Bildung“ bei gleichzeitiger Kürzung des Stundendeputats gebündelt wurden. Die Vertreter künstlerischer Fächer sehen in diesem Vorgehen eine weitere Verdrängung ihres Bereichs aus dem Lehrplan.

Eine letzte Schwierigkeit soll genannt werden. Diese betrifft die Rolle von Künstler*innen im Bereich der Kulturellen Bildung. Man trifft immer wieder in diesen Kontexten auf eine Ablehnung einer pädagogischen Sichtweise und auch einer pädagogischen Sprache, weil man in Pädagogik und im Bildungsbegriff eine Art von direktiver Instruktion vermutet, die der eigenen Auffassung einer freien und kreativen künstlerischen Tätigkeit widersprechen würde. Es geht also um ein Verständnis von Pädagogik und Bildung, das sich zwar in dieser Form kaum in Fachdiskursen findet, das aber in der Alltagskommunikation durchaus verbreitet ist. Eine Weiterführung des vorliegenden Textes, der nur einige Hinweise und Impulse für das behandelte Thema geben konnte, wird sich auf diese heterogene und widersprüchliche Situation einlassen müssen.

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Max Fuchs (2025): Kulturelle Bildung im Spiegel Allgemeiner Bildung. Überlegungen zu einer ambivalenten Beziehung. In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE: https://www.kubi-online.de/artikel/kulturelle-bildung-spiegel-allgemeiner-bildung-ueberlegungen-einer-ambivalenten-beziehung (letzter Zugriff am 14.06.2025).

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