Kulturelle Bildung im Spannungsfeld von Digital Residents und Digital Visitors
Abstract
Medien werden eine wichtige Rolle in Fragen des gesellschaftlichen Zusammenhaltes zugesprochen. Sie werden als fragmentierend, polarisierend aber auch vermittelnd und integrierend beschrieben. Ihre Potenziale werden dabei nicht selten überschätzt. Trotzdem werden mit dem Schlagwort Medien bisweilen nicht zugleich die darin innewohnenden komplexen Kommunikationsabläufe mitgedacht. Eben diese verändern sich durch moderne Technologien und bringen große Herausforderungen mit sich. Dieser Beitrag geht auf die Hintergründe dieser Veränderungsprozesse ein und erläutert generative Unterschiede in der Mediennutzung. Vorliegende medienpädagogische Ansätze werden herangezogen, um zu beleuchten, wie auf die Herausforderung lebensweltorientiert reagiert werden kann. Medienpädagogik, als Teil der Kulturellen Bildung verstanden und in Verbindung mit anderen Disziplinen, ist nicht nur in der pädagogischen Praxis relevant, sondern auch gesellschafts- und bildungspolitisch bedeutsam.
Einleitung
Im Hinblick auf den Wandel von der normenregulierten zur präferenzbezogenen Haltung und Entwicklung von Individuen (Ziehe 2005:74) mahnt das Streben nach gesellschaftlichem Zusammenhalt zu mehr Miteinander. Umbrüche und Veränderungen zeichnen sich jedoch nicht selten auch entlang von Altersklassen und Generationen ab. Und tatsächlich wachsen Kinder und Jugendliche heute mit einem anderen Selbstverständnis im Umgang mit digitalen Medien auf. Kürzlich belegte die ARD/ZDF-Onlinestudie 2018, dass Menschen in Deutschland ab dem 50. Lebensjahr durchschnittlich 123 Minuten, ab dem 70. Lebensjahr 37 Minuten täglich das Internet nutzen. Menschen zwischen dem 14. und 29. Lebensjahr hingegen nutzen das Internet im Schnitt 344 Minuten am Tag (siehe: ARD/ZDF-Onlinestudie 2017 und 2018). Zur Vereinfachung dieser Altersgruppen wird in vielen Publikationen zwischen „Digital Natives“ (digitalen Eingeborenen) und „Digital Immigrants“ (digitalen Einwanderern) unterschieden. Schon 1996 hatte John Perry Barlow diese Begriffe in der „Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace“ verwendet. Weiter geprägt wurde diese Trennung von Marc Prensky, der im Artikel „Digital Natives, Digital Immigrants“ in der Zeitschrift „On The Horizon“ (2001) unterschiedliche Lernvoraussetzung für Kinder als „Digitale Natives“ beschrieb, die im Gegensatz zu „Digital Immigrants“ grundlegend anders denken und Informationen verarbeiten. Für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und insbesondere die pädagogische Praxis beinhaltet diese Trennung große Probleme, die bis zum völligen Unverständnis des jeweiligen Gegenübers reichen.
Bis heute finden wir diese Differenzierung. Teils werden gar Jahreszahlen als Grenze zwischen Natives und Immigrants formuliert. Allerdings haben bei weitem nicht alle Kinder und Jugendliche, die als sogenannte Millennials nach oder zur Jahrtausendwende geboren wurden, uneingeschränkten Zugang zu Kommunikationstechnologien. Auch die Behauptungen Digital Natives verfügen über geringere soziale und höhere technische Fähigkeiten erweisen sich bei genauerer Betrachtung als nicht haltbar. Ausschlaggebend für die Geschicklichkeit und Nutzung mit und von Medien sind eher Interessen, Ausbildungen, Handlungsfelder und Hobbys. Eine alternative Beschreibung ließe sich mit den Begriffen „Digital Residents“ (digitale Bleibende) und „Digital Visitors“ (digitale Besuchende) formulieren. Dabei werden zunächst die Gewohnheiten und Vorlieben der Nutzenden in den Blick genommen. „Besuchende“ sind hier keineswegs weniger kompetent. Sie zeichnen sich durch klare Ziele und spezifisches Vorhaben aus. Sie nutzen die Werkzeuge und Informationen, die sie benötigen, und verlassen die Online-Räume wieder. Residents sind dagegen auch deshalb online, um das Netz selbst als Ort sozialer Interaktion zu verwenden. Sie verbinden sich so intensiv in Communities oder Clans, so dass sie teils diese Gruppen als soziale Primärgruppen beschreiben (Geisler 2009:241f.).
Kommunikation zwischen zwei Menschen oder innerhalb einer Gruppe mag ebenso medial wie real sein. Die Bedürfnisse von Residents und Visitors unterscheiden sind nicht grundlegend und sollten im Sinne des gesellschaftlichen Zusammenhaltes auch zusammen gedacht werden. So stellt sich eher die Frage nach gemeinsamen Interessen und Bedürfnissen als nach deren augenscheinlichen Ausdrucksformen. Und trotzdem lässt sich nicht leugnen, dass aktuell ein Umbruch stattfindet. Dieser Umbruch mag derart groß sein, dass namhafte Wissenschaftler*innen nichts Geringeres als den Vergleich zu Galaxien anführen.
Transformation im Galaxienwandel
Als Galaxienwandel werden jene Veränderungen beschrieben, die sich im Zuge zweier bedeutender Umbrüche in der Kommunikation vollzogen haben bzw. vollziehen und welche im Zusammenhang mit der Veränderung von gesellschaftlichen Dynamiken eine große Rolle spielen. Marshall McLuhan schrieb 1962 das Buch „The Gutenberg Galaxy“. Er skizzierte darin die enorme Rolle und Wirkung der Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern um das Jahr 1450. Das geschriebene Wort sowie seine leichtere Vervielfältigung und Übertragbarkeit wirken sich enorm auf Wissen und Wissenschaft, Lehre, Partizipation, Politik, Identität, Machtverhältnisse, Denkweisen und auch gesellschaftlichen Zusammenhalt aus. Gefördert wurde 500 Jahre lang das rationale Denken und Dekodieren der Welt. Berücksichtigt man den Konstruktivismus und die Rolle der Kommunikation darin, hat die Gutenberg-Galaxie auch Auswirkungen auf Wirklichkeit, Ästhetik und Bildung. Denn „was wir als Wirklichkeit annehmen, ist nur das Ergebnis unserer subjektiven Interpunktionen“ (Hoffmann 2003:62). Die Kulturtechniken der Gutenberg-Galaxie beruhen darauf, dass Menschen Zeichen hervorbringen, anschauen, umformen, interpretieren und löschen können, nur interagieren können sie mit ihnen nicht (Krämer 2002:55).
Aber schon McLuhan sah das Ende der Gutenberg-Galaxie im Zusammenhang mit dem Aufkommen elektronischer Medien. Manuel Castells nahm sich McLuhans Überlegungen an und beschrieb in seiner Trilogie „Das Informationszeitalter“ (1997) und „The Internet Galaxy“ (2001) die Internet-Galaxie. Er geht darin davon aus, dass die Entwicklung moderner Medien, insbesondere der Computer und die Art der Kommunikation ähnlich weitreichende Veränderungen mit sich bringen wie jene des Buchdrucks.
Folgen des Galaxienwandels für die Bildung
Die Veränderungen des Galaxienwandels vollziehen sich natürlich nicht reibungslos und bringen eine Vielzahl von Problemen und Orientierungsschwierigkeiten mit sich. Thomas Ziehe formuliert: Alltag hat sich enttraditionalisiert. Dabei gewinnt der Einzelne mehr Freiheit und eigene Deutungs- und Handlungsspielräume. Der Nachteil ist jedoch eine hohe Orientierungslast (vgl. Ziehe 2005:74). Das Individuum muss Aus- und Abwählen. Dazu bedarf es Fähigkeiten, die weniger mit Wissen als vielmehr mit eigenen Stärken, mit Mut, Kritikfähigkeit, Vertrauen, Verantwortung etc. zu tun haben (vgl. Fuchs 2000:80).
Der Lehrer*innenberuf kennzeichnete sich lange Zeit dadurch, dass sich eine Person, der oder die Lehrende, Fachwissen in einem bestimmten Gebiet aneignete und dieses Lernenden vermittelte. Wissen ist heute jedoch weniger exklusiv. Via Computer und Internet werden Theorien, Anleitungen, Fachwissen, Reparaturtipps, Rezensionen etc, vermittelt, diskutiert und aktualisiert. Jede*r Lernende mit Smartphone erscheint Lehrer*innen im Unterricht in Sachen Faktenwissen als mögliche Konkurrenz. Auch potenzielle Identitätskrisen seitens der Lehrenden erscheinen so in einem anderen Licht. Allerdings lassen sich daraus auch Chancen ableiten: Denn wenn Fachwissen an sich vorhanden und abrufbar ist, liegt die neue (und alte) Aufgabe von Lehrer*innen darin, zum Wissenserwerb anzuregen, Neugier zu erzeugen, kritische Fragen zu stellen, Reflektion zu wecken, Themenverknüpfungen herzustellen, Entfaltung zu ermöglichen und das selbstständige Lernen zu begleiten. Lehrer*innen wandeln sich im Zuge des Galaxienwandels von Fachmenschen zum Coach. In diesem Zusammenhang muss sich auch die Ausbildung angehender Lehrer*innen verändern. So haben in Fragen der Klient*innenzentrierung und des Coachings Sozialarbeiter*innen bereits heute etwas voraus: Zentral sind Lebensweltorientierung, Subjekt- und Handlungsorientierung (Thiersch 2002). Die Selbstbefähigung (Herriger 2006:72) ist die Grundlage der Kulturellen Bildung, an der sich auch die pädagogische Arbeit mit Medien anlehnen sollte.
Tradition der Medienkompetenz
Medienpädagogik, als Teil der Kulturellen Bildung verstanden, ist keineswegs eine neue Disziplin und sieht sich dem Streben nach der Vermittlung von Medienkompetenzen verpflichtet. Von besonderer Bedeutung sollte jedoch sein, was im Begriff Medienpädagogik und Medienkompetenzen subsumiert ist. Die Medienpädagogik stand und steht dauerhaft vor der Aufgabe, neue Entwicklungen der Gesellschaft und der Medien zu betrachten und eigene Positionen darzustellen (vgl. Süss 2010:60). Wer Medienkompetenzen fordert, sollte zunächst betrachten, was damit gemeint ist.
Schon die Ausrichtung medienpädagogischer Perzeptionen kann sich unterscheiden. Für Vertreter*innen, die sie eher als „bewahrpädagogisch“ auffassen und verstehen, gilt es in erster Linie, Kinder und Jugendliche vor schädlichen Einflüssen in Medien zu schützen. In den vergangenen Jahren sieht sich insbesondere diese Auffassung – angesichts der enormen Zugänglichkeit und Komplexität – einer gewissen Ohnmacht ausgesetzt. Im Sinne des Kinder- und Jugendmedienschutzes ist diese Sichtweise zwar nach wie vor wichtig, jedoch kann sie nur sehr bedingt bei der Herausbildung von persönlichen Medienkompetenzen dienen.
Die kritisch-emanzipative Medienpädagogik lehnt sich an die Theorien der Frankfurter Schule und der Kritischen Theorie von Horkheimer und Adorno an. Sie steht für Aufklärung, Auseinandersetzung und kritisches analysieren von Medien, Medieninhalten und dem eigenen Medienagieren (vgl. Schiefner-Rohs 2013:3). Allerdings werden Rezipient*innen dabei oftmals als passive Individuen nach dem Reiz-Reaktionsschemata aufgefasst. Vor allem Identitätsbildungsprozesse von Jugendlichen spielen hier eine große Rolle. Berücksichtigt man den enormen Einfluss sozialer Medien und die o.g. Herausforderungen des Galaxienwandels auf die Identitätsarbeit, wird deren Bedeutsamkeit offenbar.
Ebenfalls häufig und keineswegs unkritisch ist die bildungstechnologische Perspektive auf die Medienpädagogik. Medien werden dabei zunächst danach betrachtet, welche Rolle sie im Einsatz von Lern- und Bildungsprozessen spielen können. Es geht also um eine Verbesserung und Effizienz des Lernens. Medien lassen sich dabei als nützlich und unnütz unterteilen entsprechend ihrer Lernpotenziale.
Bei der handlungsorientierten Medienpädagogik steht nicht etwa das Medium, sondern der Mensch im Fokus, der Medien in sein soziales Handeln integriert (vgl. Schorb 1995:75). Klient*innen dieser Medienbildung werden als gesellschaftliche Individuen gesehen, die ihre Lebenswelt mit Hilfe von Medien aktiv gestalten, die ihre eigenen Positionen ausdrücken und von anderen Entwürfen profitieren bzw. partizipieren. Dabei kritisch zu sein, versteht sich eher im Sinne von (Selbst-)Reflexion. Insbesondere aus Sicht der Kulturellen Bildung erscheint diese Perspektive relevant.
Unter diesen Sichtweisen lassen sich in der Folge auch die Ausdifferenzierungen der Medienkompetenzen betrachten wie folgend dargestellt:
Zur Vereinfachung wird auf die populären Dimensionen eingegangen, die Dieter Baacke 1998 beschrieb. Dabei kann zugleich erörtert werden, ob die beschriebenen Kompetenzen, wie von vielen Lehrer*innen und Erzieher*innen vermutet, tatsächlich so eindeutig auf Seiten der Kinder und Jugendlichen bzw. der Digital Residents zu verorten sind. In Bezug auf die Frage nach gesellschaftlichem Zusammenhalt entstehen so womöglich Schnittstellen und Ansatzpunkte zum Austausch und zur gegenseitigen Wertschätzung.
Medienkritik meint die Analyse problematischer, gesellschaftlicher Vorgänge und die Auswirkungen auf die persönliche Haltung. Es geht um die Reflexion des eigenen Medienhandelns innerhalb der Gesellschaft. Diese Fähigkeit lässt sich in ihrer Ausprägung zwar kaum Digital Residents oder Digital Visitors zuschreiben, dennoch sollte man davon ausgehen, dass Lehrer*innen und Sozialarbeiter*innen in der Lage sind, derartige Vorgänge kritisch zu betrachten und Kindern und Jugendlichen dabei behilflich sein können. Bereits hier liegt ein gewisser Vorteil auf Seiten der Multiplikator*innen.
Medienkunde zielt auf das Wissen über heutige Medien und Mediensysteme. Sie beschreibt die Fähigkeit neue Geräte und Technologien anwenden zu können, aber auch Kenntnisse über Entstehungsprozesse zu haben. Obgleich letzteres strittig bleibt, könnte man hier einen Vorteil bei Digital Residents vermuten.
Mediennutzung beschreibt Kompetenzen in der eigenen persönlichen Programm- oder Dienstnutzung. Dabei geht es sowohl um rezeptiv-anwendende Tätigkeiten als auch interaktive Handlungen. Man kann darüber diskutieren, ob Digital Residents pauschal besser in der Lage dazu sind, Programme zum persönlichen Nutzen einzusetzen oder Informationen zu entnehmen. Hier ließe sich ein kleiner Vorteil bei jenen vermuten, die sich intensiv in digitalen Welten bewegen.
Die letzte Medienkompetenz nach Baacke ist die Mediengestaltung. Damit sind Fähigkeiten beschrieben, Medien zur eigenen innovativen und kreativen Ausdrucksweise zu verwenden (vgl. Baacke 1997). Da dies keineswegs auf digitale Medien eingegrenzt ist, geht es nicht zuerst um das Bedienen von Technologien, sondern den Selbstausdruck. Gerade in der Kulturellen Bildung ist dieser Aspekt bedeutend und es darf davon ausgegangen werden, dass Anleitende Erfahrung und Kompetenzen mitbringen.
Wollte man diese „Vergleichsrechnung“ auswerten, ergäbe sich eine spannende Pattsituation. Digital Residents und Digital Visitors, insbesondere jene, die in der Bildung tätig sind), verfügen also über Ressourcen hinsichtlich der Medienkompetenzen. Eine gute Ausgangsposition für Begegnungen, ein Miteinander und gesellschaftlichen Zusammenhalt. Eine Voraussetzung jedoch sollten Lehrende, auch und besonders innerhalb der Kulturellen Bildung mitbringen: Offen und interessiert an dem sein, was Kinder, Jugendliche oder auch Digital Residents innerhalb und außerhalb der Medien an Aktivitäten und Ausdruckformen zeigen. Dafür braucht es Neugier, Respekt und eine Spur Mut.
Heterogenität kreativer Ausdrucksformen in digitalen Medien
Erst wer sich intensiv und offen mit der Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen befasst, kann einen Einblick in die große Bandbreite dessen erhalten, in welchen Formen, Formaten und Szenen sie sich ausdrückten und somit Brücken für gemeinsame Verständigungen sowie Ausdrucksweisen bauen. Selbst für Digital Residents ist die Vielfalt groß genug, um ebenfalls erstaunt und teils unkundig auf bestimmte Ausdrucksformen zu blicken. Warum sind diese jedoch für die Kulturelle Bildung von Bedeutung?
Prinzipiell geht es in der Medienpädagogik, aber auch in vielen anderen Bereichen der Kulturellen Bildung, nicht zuerst darum, großartige Produkte mit Kindern, Jugendlichen oder anderen Teilnehmenden zu erstellen, sondern darum, Wirksamkeit zu vermitteln. Wirksamkeit, Entfaltung und Akzeptanz sind wichtige Elemente, um Menschen das Gefühl, mehr noch, die Tatsächlichkeit ihrer Rolle und gesellschaftlichen Stellung aufzuzeigen. Hier begegnen sich im Kern Kulturelle Bildung, Soziale Arbeit und Politische Bildung, nicht zuletzt mit dem gemeinsamen Ziel des gesellschaftlichen Zusammenhaltes. Zudem sollen Schlüsselkompetenzen gefördert werden. Das Deutsche Jugendinstitut benennt Schlüsselkompetenzen in den Kategorien personale Kompetenzen (1), sozial-kommunikative Kompetenzen (2), aktivitäts- und umsetzungsorientierte Kompetenzen (3), sowie fachlich-methodische Kompetenzen (4) (siehe: Kompetenzliste). Teils mehr als 20 Kompetenzen werden unter den jeweiligen Kategorien beschrieben. Die OECD führt drei Kompetenzkategorien an: Interaktive Anwendung von Medien und Mitteln (1), Interagieren in heterogenen Gruppen (2) und Eigenständiges Handeln (3) (siehe: Liste der Schlüsselkompetenzen OECD – DeSeCo 2003).
Diese Schlüsselkompetenzen erlangen Bedeutung, wenn man sich die zahlreichen Bereiche betrachtet, in denen Digital Residents von sich aus, ohne Anleitung aktiv werden. Nicht selten haben sie darin weit vor den Pädagog*innen die Möglichkeiten zur Gestaltung erkannt und genutzt. Betitelt werden derartige Erscheinungen auch unter dem Namen „user generated content“ (nutzergenerierte Inhalte). Ohne Anspruch auf Vollständigkeit und lediglich zur Verdeutlichung einer Herangehensweise seien folgende Ausdrucksformen insbesondere der Gameszene aufgeführt.
Die Haltung, die diese Skizze darstellt, beruht auf drei Schritten:
- Lebenswelt- und ressourcenorientiert nach kreativen Aktivitäten von Kindern und Jugendlichen suchen. Diese ernst nehmen, sich informieren und zur Reflexion anregen.
- Die Aktivitäten, ohne sie dabei in ihrem Mehrwert zu fragmentieren, mit fachlichen Methoden aus Bereichen der Kulturellen Bildung verknüpfen und mit einem didaktischen Modell bzw. einer Zielstellung versehen.
- Einen Transfer und Mehrwert im Sinne der Förderung von Schlüsselkompetenzen erzielen. Dabei spielen zugleich die o.g. Medienkompetenzen eine wichtige Rolle. In einem letzten Schritt ist es ratsam eine qualitative Überprüfung der Methoden und der erreichten Ziele vorzunehmen.
Ein solches Vorgehen kann sowohl das Individuum wie auch dessen Agieren in sozialen und gesellschaftlichen Zusammenhängen fördern.
Bei aller Begeisterung über die kreativen Ausdrucksformen von Digital Residents sei erwähnt, dass ein reflektierter Umgang mit neuen Medien nicht pauschal vorausgesetzt werden kann. Die Zahl derer, die innovativ und kreativ Medien gestalten, bleibt bisher deutlich ausbaufähig. Die Mehrheit der Kinder und Jugendlichen kann eine medienpädagogische Anleitung sehr gut gebrauchen, um sich zu hinterfragen, aktiv zu werden und etwas Neues auszuprobieren. Dabei ist zu berücksichtigen, dass viele Medien zunächst einmal „Verbraucher*innen“ suchen und nicht von sich aus zur Kreativität aufrufen. An dieser Stelle wird deutlich, dass medienpädagogische Ansätze auch in viele andere Bereiche der Kulturellen Bildung einfließen ebenso wie die Medienpädagogik von allen anderen Bereichen der Kulturellen Bildung profitieren kann. Es mag die Frage aufkommen, inwieweit überhaupt noch zwischen den jeweiligen Bereichen unterschieden werden sollte, wenn sich ein großer Teil der Methoden und Ziele so eng miteinander verbinden. Einen Hinweis auf diese Entwicklung bietet der Begriff Lebenskompetenz. Lebenskompetenz besitzt, wer sich selbst kennt und mag, Einfühlungsvermögen hat, kritisch und kreativ denkt, kommunizieren und Beziehungen führen sowie Gefühle und Stress bewältigen kann, durchdachte Entscheidungen trifft und erfolgreich Probleme löst (Bühler/Heppekausen 2005:16).
Orientierung zwischen Homo ludens und Homo oeconomicus
Medien sind Mittler und Instrumente. Wie und zu welchem Zweck sie verwendet werden, ist dabei nicht vorbestimmt und sowohl von den Perspektiven der Medienschaffenden als auch von der Dynamik der Mediennutzenden abhängig. Während die Medienschaffenden zum Erreichen ihrer Zielgruppen, deren Bedürfnisse sehr wohl analysieren und im Blick haben, sind den Mediennutzenden die Interessen und Bedürfnisse der Produzierenden nicht automatisch transparent. Medien sind jedoch längst ein Wirtschaftsgut, das verkauft bzw. konsumiert werden soll. Ein reflektierter Umgang mit ihnen, der im Idealfall Verbindungen herstellt und nicht etwa eine zunehmende Spaltung der Gesellschaft befördert, beinhaltet, sich stets der eigenen Rolle und Dynamik zwischen Verbraucher*in und Gestalter*in bewusst zu sein.
Obwohl uns heute viele Medien und Spiele umgeben, finden wir in unserer Alltagswelt selten den „Homo ludens“ (spielender Mensch). Vielmehr ist beinahe jeder Anteil unseres Lebens und Denkens (Schule, Arbeit, Freizeit etc.) durchzogen vom Wesen des „Homo oeconomicus“ (ökonomischer Mensch), der Effektivität, Nützlichkeit, Zweckmäßigkeit, Gewinn und Rationalität in den Fokus seines Handelns rückt. Ein Beispiel ist der Versuch, stets die Kontrolle zu behalten und Fehler, wo es geht, auszuschließen. Auf den Alltag übertragen ist dieses Vorhaben ein ziemlich sicherer Weg in Krisen, Versagensängste, Selbstzweifel, Selbsthass und Isolation. Auch in vielen (Spiele-)Medien finden wir die Elemente der Kontrolle und der Fehlerbeherrschung. Allerdings nicht selten mit einem großen Unterschied: Die und der Spielende lernt über das Element des Scheiterns und der Wiederholung. Oft wird sie*er bis an die Grenze des Frustes herangeführt und aufgefordert, sich zu verbessern. Der Homo ludens kann den (virtuellen) Spielraum auch als die Chance erfahren, um relativ konsequenzlos Fehler machen zu dürfen – anders als in der Schule oder im Berufsleben. Und selbst die Theater- und Erlebnispädagogik, die sonst in Fragen der Wirksamkeit einen Vorsprung gegenüber den Games hat, kann mit dem möglichen Raum für Fehler, Scheitern und probehaftes Experimentieren der digitalen Spielwelten nicht mithalten. Auch in den Spielenden schlummert der Homo oeconomicus. Christian Huberts schreibt: „Im Computerspiel spukt der Geist des autoritären Kapitalismus. Gehorsam gegenüber Leistungsbefehlen ist die oberste Bedingung zum Mitspielen. Und Gamer finden das schon irgendwie ziemlich geil. Schlechte Voraussetzungen für eine Revolution“ (Huberts 2017:22).
Zum Glück geht es beim Einsatz von Spielen in der Spiel- und Medienpädagogik nicht nur darum zu spielen, sondern etwas mit dem Spiel zu machen und zu hinterfragen, wie der Spielende mit dem Spiel umgeht. Weitergedacht betrifft die Kritik der Instrumentalisierung auch Tätige der Medienpädagogik oder der Kulturellen Bildung. Sind sie es, die dem Spiel einen „pädagogischen Wert“ beimischen oder abverlangen können (siehe: bildungstechnologische Perspektive), die begründen müssen, warum ein Spiel innerhalb der Bildung relevant ist und unterscheiden müssen in wertvolle, sinnlose sowie schädliche Spiele. Gleichzeitig entstehen Spiele in ihrer aktuellen Epoche, greifen Themen, Konflikte, Missverhältnisse und Wünsche auf. Sie werden zum Spiegel der Gegenwart – mit allen Vor- und Nachteilen. Um dies zu erkennen, mag es dienlich sein, sich immer wieder mit der Theorie des Spiels zu befassen. John Dewey sah das Spiel als zweckgerichtete Tätigkeit, die keineswegs von Arbeit klar zu trennen sei. „Spielende Menschen tun nicht eben irgendetwas (…), sondern versuchen etwas Bestimmtes zu tun oder zu bewirken; ihre geistige Haltung schließt Vorwegnahmen ein, die ihre augenblicklichen Reaktionen auslösen“ (Dewey 1993:269). Es mag tatsächlich an unserer heutigen Auffassung von Arbeit liegen, dass wir die Verbindung von Spiel und Arbeit eher bestreiten. Dewey verwendete für fremdbestimmte Arbeit den Begriff der „Plackerei“ (ebd.: 271) und erinnert daran, dass zum Beispiel Künstler*innen auch heute noch eine Verschmelzung von Spiel und Arbeit erleben.
Digitale Spiele haben – ohne Zweifel – einen künstlerischen und ästhetischen Wert. Dies zeigt sich darin, dass zur Entwicklung von Games eine Vielzahl kreativer und künstlerischer Professionen herangezogen worden. So ist auch die Aufnahme des Bundesverbandes der Entwickler*innen von Computerspielen (G.a.m.e.) als Mitglied des Deutschen Kulturrates im Jahr 2008 zu verstehen. Zur Begründung hieß es, die Branche sei Auftraggeber*in für Künstler*innen unterschiedlichster Sparten wie Designer*innen, Drehbuchautor*innen bis hin zu Komponist*innen. Zu gern argumentieren Spielende und auch Medienpädagog*innen seitdem damit, dass Games Kulturgut sind und sich dies auf die Spielenden positiv auswirkt. Games dürfen und sollten, ganz im Sinne der Definition von Johan Huizinga (1994), auch „nutzlos“, „zweckfrei“ und zum Spaß da sein. In der Kulturellen Bildung und Medienpädagogik jedoch werden sie zu einem Medium, das Nutzende auffordert, etwas auszudrücken, zu entwickeln, zu interpretieren oder neu zu erschaffen. „Im Spiel werden die bekannten Strukturen und Ordnungen des Lebens porös. Im Spiel tauchen wir ein in jene Potenziale, die zu entfalten uns lebendig macht. Im Spiel eröffnen sich uns neue Perspektiven“ (Hüther/Quarch 2016:72).
Schlussfolgerung
An diesem Punkt vereinen sich Digital Residents und Digital Visitors. Eine wesentliche Herausforderung des Galaxienwandels mag darin bestehen, in dieser Dynamik stets kommunikative Brücken herzustellen und Trennungen bzw. Ausdifferenzierungen abzubauen und somit auch zum gesellschaftlichen Zusammenhalt beizutragen. Es gilt eher nach Gemeinsamkeiten als nach Unterschieden zu suchen. Als Konsequenzen für den Diskurs um den gesellschaftlichen Zusammenhalt lässt sich festhalten, dass die vielbeschriebene kulturelle Kluft, auch entlang medialer Nutzungsverhalten, zwar existiert, in den ihr zu Grunde liegenden Motiven und Bedürfnissen jedoch geringer ausfällt als zunächst vermutet. Dies drückt sich auch in den Ergebnissen der Bertelsmann-Studie Sozialer Zusammenhalt in Deutschland 2017 aus, die gesellschaftlichen Zusammenhalt hinsichtlich Verbundenheit, sozialer Beziehungen und Gemeinwohlorientierung betrachten (vgl.: Arant/Dragolov/Boehnke 2017). Die Umbrüche, welche sich durch den Galaxienwandel vollziehen, führen dennoch zu Skepsis anderen Menschen, Gruppen und Medien gegenüber. Kulturelle Bildung hat jedoch das große Potenzial an Sehsüchten, Wünschen und grundlegenden Bedürfnissen anzusetzen und Methoden der Selbstwirksamkeit aufzuzeigen. Sie bietet wichtige Angebote in einer durch Neuerungen und Umbrüchen geprägten Zeit. Wer sich und seine Umwelt reflektiert wahrnimmt, kritisch Prozesse und Interessen anderer und seiner eigenen Person hinterfragt, kann nicht nur sich selbst in einem präferenzorientierten Sinn entfalten, sondern sich zugleich in ein soziales, normatives System einbringen. Kulturelle Bildung bietet an, andere Wertvorstellungen zu akzeptieren und Balance zu finden.