Kulturelle Bildung für Menschen mit Behinderung
Die Bedeutung der Kulturellen Bildung für Menschen mit Behinderungen ist die gleiche wie für alle anderen Zielgruppen und – wiederum auch nicht.
Die Kulturelle Bildung hat ihren Wert an sich, gerade auch dann, wenn „behindernde“ Lebensumstände den betroffenen Personen Entscheidungs- und Gestaltungsmöglichkeiten nehmen. In der Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen werden künstlerisch-kulturelle Aktivitäten oft nicht als solche definiert, sondern als Kompensationsmöglichkeiten der Beeinträchtigungen und als psychotherapeutische oder sozialkommunikative Angebote interpretiert. Dabei wird auf mehr oder weniger gesicherte Transferwirkungen verwiesen, die den besonderen Wert kultureller Bildungsbemühungen unterstreichen sollen.
Geschichtlicher Rückblick
Das Verhältnis Kultureller Bildung bzw. künstlerischer Ausdrucksformen zum Phänomen der Behinderung lässt sich in verschiedenen Strängen historisch nachvollziehen. Christian Mürner bringt das exemplarisch auf folgende Begriffe: Missachtung, Mystifizierung, Anerkennung (Mürner 2003:162).
Die künstlerische Darstellung und die Zurschaustellung von Menschen mit Behinderung als Projektionsfläche bürgerlicher Emotionen gehört einem mittelalterlichen Denken an, zieht sich aber bis zu den Freak Shows im letzten Jahrhundert durch. Die mystifizierenden Vorstellungen von einer besonderen künstlerischen Genialität der Menschen mit Behinderung werden heute ebenfalls in der Regel abgelehnt, obwohl die Kunstszene von den Formen der Art Brut oder OutsiderArt profitiert (Bäumer 2007).
Im 21. Jh. hat sich mit Hilfe professioneller Betreuung und Assistenz der künstlerisch interessierten Menschen mit Behinderung eine Kunstszene entwickelt, die den künstlerischen Arbeitsergebnissen und Produktionen ein öffentliches Forum und entsprechende Anerkennung bietet (Kulturfestivals, Theatertreffen, Ausstellungen, Schulkooperationen mit Musicalproduktionen etc.).
Rechtliche Grundlagen
In der „Betreuung“ von Menschen mit Behinderung vollzieht sich derzeit eine Reihe einschneidender Paradigmenwechsel. Klassifikationen von Beeinträchtigungen und Schädigungen werden weiterentwickelt: von der Analyse der Beeinträchtigungen der betroffenen Personen zur Darstellung und Bewertung der einschränkenden Lebensbedingungen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) verwarf 2005 die bestehenden defizitorientierten Beschreibungen von Behinderung und entwarf die „ICF – International Classification of Functioning, Disability and Health“ (Kastl 2010:122). ICF begründet einen relationalen Behinderungsbegriff. Die behindernden Bedingungen werden als Stufen der Einschränkung im alltäglichen Leben dargestellt. Der Begriff der Behinderung als feststehendes Merkmal von Menschen wird damit abgelöst durch eine ganzheitlich-situative Beschreibung der Lebenssituation (Kastl 2010:108ff.).
Die Ausgangslage für ein Leben unter behindernden Bedingungen hat sich durch die Unterzeichnung der UN-Konvention für die Rechte behinderter Menschen (2009) stark verändert. Darüber hinaus ermöglichen Bestimmungen des Sozialgesetzbuches IX mehr Unterstützung bei der Lebensgestaltung, die sich als selbstbestimmt und selbstgestaltet ausweist. Ziel ist die Ermöglichung gleicher Chancen der Teilhabe in allen gesellschaftlichen Bereichen für alle Menschen im Sinne einer „inklusiven Gesellschaft“ (siehe Larissa von Schwanenflügel/Andreas Walther „Partizipation und Teilhabe“).
Herausforderungen für die Kulturelle Bildung
Kulturelle Bildung versteht sich als Querschnittsaufgabe über verschiedene Alterstufen, Bildungszusammenhänge und Schichten hinweg. Sie müsste mit dem Phänomen der behindernden Lebensbedingungen produktiv umgehen können.
Es leitet sich daraus die Anforderung ab, eine größtmögliche Breite und Vielfalt von Angeboten in den Kunstsparten, Realisierungsformen und Settings anzubieten. Kulturelle Bildung kann mit dem zentralen Ziel der Teilhabe Formen des klassischen und des alternativen, des lernorientierten und experimentellen Arbeitens mit künstlerischen Mitteln nutzen.
Teilhabe im Zusammenhang mit Kultureller Bildung ist als zusammenfassender Begriff zu verstehen, der die aktive Produktion künstlerischer Werke genauso meint, wie die Teilnahme an Veranstaltungen und Bildungsmaßnahmen oder die hedonistische Rezeption. Sie hat ihre Mittel auch für die kommunikativ-kritische und politische Auseinandersetzung bereit zu stellen, doch sind die Realisierungschancen dieser Ansprüche zur Zeit sehr unterschiedlich zu bewerten.
Kulturelle Bildung muss mit folgenden „Problemfeldern“ rechnen, wenn sie sich konsequent für Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit Behinderung öffnen und den Teilhabe Gedanken für Menschen mit Behinderung ernst nehmen will:
>> Zugangsproblematik,
>> Altersstufenproblematik,
>> Spartenproblematik,
>> Methodenproblematik,
>> Professionalisierungsproblematik sowohl der Menschen mit Behinderung selbst als auch der Assistierenden/Unterstützenden und Lehrkräfte ohne Behinderung.
Zugangsproblematik
Unter dieses Stichwort fallen zunächst alle erreichten und noch anzumahnenden Mobilitätserleichterungen. Mobilität verlangt Barrierefreiheit an allen Orten und bei allen Gelegenheiten. Darunter fallen aber nicht nur bauliche, sondern auch logistische Hindernisse bei der Fortbewegung von Ort zu Ort. Oft ist die Zugänglichkeit zu kulturellen Bildungsangeboten nicht nur durch die finanziell zu leistenden Beiträge erschwert, sondern auch durch die mangelnde Berücksichtigung der Menschen mit Lernschwierigkeiten, Leseunkenntnis oder Sinnesbehinderungen. Hinzu kommt wenig verfügbare Assistenz in Form persönlicher Lotsen, wie z.B. MuseumsführerInnen und TheaterbegleiterInnen.
Altersstufenproblematik
Bei vielen kulturellen Angeboten wird eine methodisch notwendige Elementarisierung oft mit einer Art Infantilisierung verwechselt. Besonders problematisch wirkt es, wenn Aufführungen mit einem Repertoire, das in krassem Widerspruch zu altersgemäßem Repertoire steht, vor Publikum präsentiert werden. Kinderliedgut und Bilderbuchgeschichten sind Beispiele für solche Gefahrenquellen. Auch verhindern höhere Schulbesuchsjahre bei Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung und die Abhängigkeit in der alltäglichen Versorgung nur allzu oft die Entwicklung einer eigenen Form von Jugendkultur (siehe Christian Schmidt „Jugendkulturelle Szenen und Kulturelle Bildung“). Dabei sind künstlerische Kreativität, darstellerische Spontaneität, musikalische Empfindsamkeit oder sprachschöpferische Fähigkeiten oft in einem außerordentlichen Maß vorhanden und stehen für die kulturelle Bildungsarbeit „zur Verfügung“. Die Zunahme alter Menschen mit Behinderung fordert die Kulturelle Bildung mit der großen Akzeptanz ihrer künstlerischen Mittel gerade auch im Hinblick auf Demenz und Verhaltensveränderungen heraus.
Spartenproblematik
Interessant ist die ungleiche Verteilung der einzelnen Kunstsparten in der Arbeit mit Menschen mit Behinderung. Zahlreich sind Kunstgruppen meist angegliedert an große Einrichtungen der Behindertenhilfe. Die Anzahl von Theaterensembles und Musikgruppen (vor allem Bands) und der Besuch von Musikschulen hat sich im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts gesteigert. Tanzgruppen und der Literatur- und Medienbereich sind dagegen wenig repräsentiert. Möglicherweise engt die Kulturelle Bildung mit der Orientierung an Kunstsparten das Angebot für künstlerisch interessierte Menschen mit Behinderung stark ein. Grenzüberschreitungen in neuen Formen der Performance durch unkonventionelle Spielorte und szenische Großformen wie Masken- und Wandeltheater, Straßentheater und zirzensische Formen können dazu beitragen, inklusive Arbeit zu erleichtern.
Methodenproblematik
In der Regel wird mangelnde Inklusion in Feldern der Kulturellen Bildung fehlenden Methoden angelastet. Sonderpädagogische Detailvorgaben aus behindertenspezifischer Perspektive sind oft eher einengend als hilfreich. Unumstritten ist ein größerer Zeitbedarf, der für Übungs- und Wiederholungsphasen verfügbar sein sollte. Besonders wichtig ist die Sensibilisierung der Wahrnehmung und die laufende Beobachtung, um auch kleine Fortschritte und eigenständige Gestaltungsversuche zu verstärken. Sonderbedingungen wie arbeitsteiliges Playback-Theater, umgebaute Instrumente oder Sonderinstrumente (z.B. Veehharfe) sind nur von Fall zu Fall notwendig. Die Kulturelle Bildung kann je nach Zusammenhang zwischen sonderpädagogischer Feinmethodik und offeneren partizipativen Angeboten wählen.
Professionalisierungsproblematik: Chancen für eine Professionalisierung für Assistenzwillige, Lehrkräfte und KulturpädagogInnen
Kulturelle Bildung wird zunehmend als spezielle und inklusive Arbeitsmöglichkeit attraktiv. Die Professionalität der sonderpädagogischen Dienstleistung und Assistenz hat sich durch die Herausforderung des gewandelten Verständnisses von Behinderung sehr verändert. Die Orientierung am persönlichen Bedarf und die Ausrichtung an den individuellen Voraussetzungen und Wünschen der Menschen mit Behinderung sind in der Kulturellen Bildung unabdingbar, aber auch machbar. Doch sind berufliche Profilbildungen für entsprechende KulturpädagogInnen nur an sehr wenigen Ausbildungsstätten bislang eingeführt.
Chancen für eine professionelle Weiterentwicklung bieten sich für Menschen mit Behinderung in der Ausübung künstlerischer Berufe: Kunstateliers, Theater- und Tanzensembles, Musikgruppen und Medienwerkstätten. Sie bieten längerfristige berufliche Arbeitsmög lichkeiten (auch als ausgelagerte Werkstattplätze). Die Ausbildung erfolgt in der Regel als Training-on-the-job. Noch zu entwickeln ist der Ausbau professioneller Trainingsmöglichkeiten schon für Jugendliche mit Behinderung beim Übergang von der Schule in die Erwerbsarbeit (z.B. Theater Hora Zürich).
Zusammenfassendes Fazit
Kulturelle Bildung mit Menschen mit Behinderung ist ein im Aufbruch und Wandel befindliches Arbeitsfeld, das Kunst und Kultur als Mittel zur selbstgestalteten Lebensführung, zu kultureller Teilhabe und zu inklusiven Erfahrungen zur Verfügung stellt.