Kulturelle Bildung in der Kinder- und Jugendarbeit
Das Feld der Kinder- und Jugendarbeit
Kinder- und Jugendarbeit ist ein großes Feld der außerschulischen Bildung im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe. Die §11 und 12 des SGBVIII (Kinder- und Jugendhilfegesetz) geben die rechtlichen Grundlagen der Kinder- und Jugendarbeit an (siehe Klaus Schäfer „Jugendpolitik und Kulturelle Bildung“). Sie regeln, dass sich dieses Arbeitsfeld generell an alle Kinder und Jugendliche (bis 27 Jahre) wendet und nicht eingegrenzt ist auf Zielgruppen eines bestimmten Alters oder mit einer bestimmten Problem- oder Themenstellung. Als Ziele gibt das Gesetz dem Arbeitsfeld vor, die Kinder und Jugendlichen zur Entwicklung von Selbstbestimmung, gesellschaftlicher Mitverantwortung und sozialem Engagement anzuregen. Dieses ist in den Konzepten der Kinder- und Jugendarbeit immer wieder auch als eine Aufforderung zur politischen Bildung bzw. zur Demokratiebildung verstanden worden. § 11 SGBVIII (Abs. 3) nennt unter anderem ausdrücklich „kulturelle Bildung“ als Schwerpunkt der Kinder- und Jugendarbeit.
Kinder- und Jugendarbeit wird von freien und öffentlichen Trägern angeboten und ist gekennzeichnet durch die zwei großen institutionellen Typen: die Jugendverbandsarbeit und die Offene Kinder- und Jugendarbeit. Gemeinsam sind beiden Bereichen die Strukturbedingungen der Freiwilligkeit und der Interessenorientierung, aus denen auch eine Offenheit für spezifisch zu entwickelnde Ziele und Inhalte folgt. Die institutionellen Typen sind sehr differenziert sowohl in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit, die durch eine Orientierung an „stationären“ Einrichtungen (etwa Jugendhäusern) und pädagogischem Hauptamt gekennzeichnet ist, als auch in den weltanschaulich differenzierten Jugendverbänden, die sich eher durch Selbstorganisation und Ehrenamtlichkeit charakterisieren lassen. In den vergangenen 15 Jahren haben auch die Jugendverbände ihre Ausrichtung an Mitgliedern aufgeweicht und beide Arbeitsbereiche gehen eher von einem Begriff (auch wechselnder bzw. sporadischer) Teilnehmender aus. Wissenschaftliche Untersuchungen und Einschätzungen können zeigen, dass zwischen 40 und 70 % der Kinder und Jugendlichen (zehn bis 20 Jahre) Mitglieder in einem Jugend- oder Sportverein sind, während die Zahlen der BesucherInnen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit schwanken (je nach Alter der untersuchten Gruppe), z.B. zwischen 6 % der 12- bis 25-Jährigen oder 9 % der 15- bis 17-Jährigen (vgl. Schmidt 2010). Während Jugendverbandsarbeit eher eine mittelschichtige Herkunft ihrer Teilnehmenden unterstellt wird, können Untersuchungen zeigen, dass die Offene Kinder- und Jugendarbeit besonders Zielgruppen mit einem sozial benachteiligten und migrantischen Hintergrund erreicht (a.a.O.).
Konzeptionell ist die Kinder- und Jugendarbeit seit den 1960er Jahren immer wieder als „Bildung“ entworfen worden, diese Orientierung ist auch in der aktuellen theoretischen Debatte dominant. Bildung wird hier als selbsttätiger Aneignungsprozess des Subjekts in seinen Sozialitäten verstanden, der vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Bedingungen und Lebenslagen einzelner Gruppierungen unterschiedlich ermöglicht oder auch behindert erscheint (vgl. Lindner/Sturzenhecker 2004; Sting/Sturzenhecker 2012). Diese Konzepte kennzeichnet eine emanzipatorische Grundorientierung an der Ermöglichung von zunehmender Selbstbestimmung im Rahmen einer demokratischen Mitgestaltung der Gesellschaft.
Kulturelle Bildung in der Kinder- und Jugendarbeit
Die Kulturelle Bildung in der Kinder- und Jugendarbeit stellt sich außerordentlich vielfältig dar (vgl. Exner/Schmidt-Apel 2005). Sie hängt besonders von den spezifischen kulturellen Handlungsweisen und Orientierungen der Teilnehmenden der einzelnen Organisationsformen ab, also etwa den Jugendszenen, die ein lokales Jugendhaus besuchen oder den spezifischen soziokulturellen Milieus, die einen Jugendverband ausmachen. Kommen die kulturellen Vorlieben und Ausdrucksweisen der jeweiligen Teilnehmenden nicht zu ihrem „Recht“, besteht schnell die Gefahr, dass diese „abwandern“. Auf der Basis dieser grundsätzlichen Orientierung an den spezifischen kulturellen Interessen und Handlungsformen der Teilnehmenden entfaltet sich in der Praxis ein großes Spektrum Kultureller Bildung. Dazu gehören: Animations- und Unterhaltungsangebote eines eher passiven Konsums von besonders Musik, Video/Film und Internet; alltägliche informelle Praxis von (Handy-)Fotografie und Video; kursförmige Angebote des Lernens kultureller Ausdruckstechniken (Musikinstrument spielen, Theatertechniken einüben, Fotografie und Videografie lernen); projektorientierte Formen der Erstellung eigener kultureller Produkte (z.B. Foto-Love- oder Actionstory, Videofilme, Theaterstücke, Websites, Rap-CDs, Breakdance-Events, Graffitiwände, Fanzines und andere Printpublikationen u.v.m.). Teilweise wirken in solchen Projekten KünstlerInnen/Fachleute mit, und die Arbeitsweisen sind durch unterschiedliche Grade der Vorgaben bzw. der Eigenständigkeit der Kinder und Jugendlichen als ProduzentInnen gekennzeichnet. So gibt es Projekte, die sowohl Themen wie Medien und Ausdrucksstil vorgegeben und in denen es einen deutlichen Erwachseneneinfluss gibt (bis hin zu erzieherischen Disziplinierungsstrategien nach dem Muster von „Rhythm is it“), aber auch Arbeitsweisen, die in Inhalten, Mitteln und Prozess dem Selbstausdruck der teilnehmenden Kindern und Jugendlichen folgen.
Ästhetische Bildung in der Kinder- und Jugendarbeit
Eine Bildungsorientierung, die eigenständige aktive Aneignung und ästhetischen Selbstausdruck fördern will, geht von vorfindbaren Themen- und Gestaltungsweisen der Teilnehmenden aus und sucht diese mit ihnen zu entfalten und weiterzutreiben. Bei einer solchen konzeptionellen Ausrichtung geht es dann zunächst darum, die kulturellen bzw. ästhetischen Praxen der Kinder und Jugendlichen wahrzunehmen, ohne sie sofort mit Angeboten gestalterisch-medialer Arbeitsweisen zu überfrachten. Vor allem die in den letzten Jahren erschienenen richtungsweisenden ethnografischen Studien über die Alltagspraxen von Kindern und Jugendlichen besonders in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit haben gezeigt (Müller u.a. 2008; Rose/Schulz 2007), dass das alltägliche Handeln der Kinder und Jugendlichen in den „Arenen“ dieser Einrichtungen als ästhetische Aufführungspraxis, ja als „Performance“ (Schulz 2010) betrachtet werden kann. Performances sind situativ körperliche Aufführungshandlungen von Individuen und Gruppen vor und mit „Publikum“, die über ihre unmittelbar sinnliche Wirkung Sinn erzeugen, soziale Experimente wagen, die Handelnden „auf´s Spiel stellen“, Irritation und Reflexivität ermöglichen u.v.m. Bei diesen „Vorführungen“ in Form von Tänzen, expressiven Äußerungen, Provokationen, Körperaktionen, Sing- und Musikeinlagen (z.B. in Raps und „Battles“), medialen Einspielungen, modischen Selbststilisierungen, Tatoos und Körperbemalungen usw. werden sowohl vorhandene Muster aus Pop- und Konsumprodukten aufgegriffen als auch lokalspezifische jugendkulturelle Stilelemente aufgenommen, gesampelt und variiert. Damit lassen sich verschiedene selbstbildende Funktionen dieser Performance erkennen: z.B. die Wirkung der Person in der Reaktion des Gegenübers wird erprobt; Gemeinschaft wird hergestellt, präsentiert und weiterentwickelt; inhaltliche Kommentare und Positionen werden ausgedrückt; Wertorientierungen befragt; Beziehungsmuster unter Peers und zu Erwachsenen getestet und erweitert; Raum wird besetzt und umgenutzt; Geschlechterkonstruktionen werden praktiziert und dekonstruiert. Der spielerische Charakter dieser Inszenierungen eines „ernsten so tun als ob“ (Scheuerl 1979) erlaubt den AkteurInnen, sich nicht festzulegen oder festlegt zu werden, sondern offen Möglichkeiten der Person und ihrer Peergruppen im sozialpädagogischen Rahmen der Kinder- und Jugendarbeit durchzuspielen und auszuloten und so sozial wie ästhetisch selbstbildende Erfahrungen zu sammeln. Ein solcher Begriff von Ästhetik geht über ein Verständnis von Wahrnehmen als passiv hinaus und bezeichnet den konstruierenden Charakter von Wahrnehmung. Ästhetik ist dann eine wahrnehmende, aktive aneignende und erzeugende Tätigkeit, wie sie auch schon in der Wortbedeutung von „Bildung“ als Schaffung, Entstehung, Herausbildung, Formung, Gestalt enthalten ist. Eine pädagogische Assistenz solcher ästhetischen Bildung nimmt diese Praxen der Kinder und Jugendlichen wahr und spiegelt sie anerkennend wider, greift ihre Medien und Inhalte auf und eröffnet ihnen die Möglichkeit, aus dem sporadisch Situativen in reflexive Bildungsprozesse der Gestaltung ästhetischer Produktionen zu gelangen. Denn Selbstbildung besteht nicht in „Erlebnissen“ (bei denen gerade eine auf „Spaß“ reduzierte Erlebnisorientierung kulturellen Konsums in der Jugendarbeit zu häufig stecken bleibt), sondern in einer selbstreflexiven und mit anderen befragten Erzeugung und Verdichtung von Erfahrungen. Die Vergegenständlichung in ästhetischen Produkten ermöglicht gerade solche Reflexion auf das Eigene/Soziale: Was habe/n ich/wir wie geschaffen? Was zeigt mir/uns das über mich/uns? Wer bin/sind ich/wir, wer könnte ich, wer könnten wir sein? Wie könnte es (anders) sein? Die sozialen Rückmeldungen auf ästhetische Gestaltungen eröffnen: Wer bin ich/wir in den Augen der anderen? Wer könnte ich mit ihnen, für sie sein?
Eine solche Vorgehensweise hat besonders der Ansatz von „Playing Arts“ auch für die Kinder- und Jugendarbeit vorgeschlagen (vgl. Riemer/Sturzenhecker 2005): Dabei geht es darum, nicht schon von vornherein Ausdrucksmedien und Inhalte vorzugeben (wie z.B. „Rap gegen Gewalt“, „Theater gegen Rassismus“ o.ä. ) und einen kreativen Ausdruck nur in diesen Rahmen vorzusehen, sondern stattdessen den Gestaltungsweisen und -themen der Kinder und Jugendlichen zu folgen, wie immer diese sich auch zunächst zeigen mögen – selbst wenn sie aus Sicht von Erwachsenen oder üblichen „kulturellen“ Bewertungen als primitiv, trivial, provokativ, nur nachgemacht, altbekannt o.ä. erscheinen mögen. Wenn man den Selbstausdruck ernst nimmt und ihm über Rückmeldungen und Reflexionen einen „produktiven“ Gestaltungs- und Weiterentwicklungsprozess eröffnet, entsteht erst die Möglichkeit einer selbstbestimmten ästhetischen Bildung von Kindern und Jugendlichen.
Nicht nur das jugendarbeiterische Ziel der Förderung von Selbstbestimmung, sondern auch das der gesellschaftlichen Mitverantwortung lässt sich hervorragend über die Möglichkeiten ästhetischer Bildung(sassistenz) angehen. Ästhetischer Selbstausdruck von Kindern und Jugendlichen thematisiert immer auch ihre Personen und Gruppen im Verhältnis zu sozialen und gesellschaftlichen Bedingungen, er erzeugt Positionen und Kritiken. Damit lässt sich den Teilnehmenden auch über ästhetische Gestaltungen der Einstieg in eine politisch-demokratische Artikulation eröffnen. Politisches Handeln beginnt nicht erst mit differenziert ausgearbeiteten (Gegen-)Vorschlägen, sondern bereits mit einem „Nein“, das sich mit einer Kritik an Verhältnissen an eine Öffentlichkeit wendet und damit eine gemeinsame Auseinandersetzung sucht. So kann die Kinder- und Jugendarbeit ihre Teilnehmenden ermutigen und befähigen, ihre auf die „Polis“, das (kommunale) Gemeinwesen bezogenen Positionen (nach ihrem „Geschmack“) ästhetisch zu gestalten und sie in demokratische Diskurse einzubringen (vgl. Sturzenhecker 2008).
Eine so verstandene ästhetische Bildung mit Kindern und Jugendlichen benötigt keine spezifische Problematisierung von Kommerzialisierung und Medialisierung jugendlichen Handelns. Sie geht stattdessen davon aus, dass in den selbsttätigen Aneignungsweisen der Kinder und Jugendlichen in einer sich wandelnden Kultur und Gesellschaft grundsätzlich Potentiale einer eigenständigen und reflexiven Bildung vorhanden sind. Statt aktuelles kulturelles Handeln von Kindern und Jugendlichen als defizitär zu begreifen, geht es einer solchen Bildung immer darum, den ästhetischen Selbstausdruck von Kindern und Jugendlichen zu unterstützen und ihm reflexive Freiräume zu öffnen. Solche ästhetische Bildungsassistenz in der Kinder- und Jugendarbeit entwickelt sich mit ihren Adressaten in einer sich verändernden Gesellschaft weiter.