Kulturelle Bildung in informellen Kontexten: Das Bilderbuch und seine Rezeption
Im Familienalltag nimmt das Bilderbuch eine präsente und anerkannte Rolle ein; recht uneingeschränkt scheint diesem klassischen Medium eine hohe Relevanz beigemessen zu werden. Angesichts einer lebendigen familialen Rezeptionspraxis muss das Bilderbuch als bedeutendes Sozialisationsmedium angesehen werden; gleichwohl wurde diese spezielle Literaturgattung noch selten im Spiegel der Kulturellen Bildungsforschung betrachtet.
Im folgenden Artikel wird der Versuch unternommen, bestehende theoretische Erkenntnisse zum Bilderbuch im Kontext der Kulturellen Bildung zu diskutieren und konzeptuell weiterzudenken. Es gilt, auf (Forschungs-)Desiderate aufmerksam zu machen, Fragestellungen zu formulieren sowie Potentiale und Herausforderungen aufzuzeigen. Fokussiert werden das Bilderbuch und seine Rezeption im Rahmen informeller Bildungssettings, genauer: innerhalb der Familie.
Informelle Bildung
Vor dem Hintergrund einer familialen Bilderbuchrezeption gewinnt der Begriff der informellen Bildung an besonderer Bedeutung. Seinen Ursprung findet der Terminus in der Erwachsenenbildung, wo er unter dem Stichwort „Lebenslanges Lernen“ vor allem in den Erziehungs- und Bildungswissenschaften besprochen wird (vgl. Kommission der Europäischen Gemeinschaften 2001). Dass informelle Lernräume und -prozesse auch im Hinblick auf Kinder und Jugendliche zu thematisieren sind, ist der Einsicht geschuldet, dass Lernen nicht ausschließlich in der Schule, sondern auch in non-formalen (z.B. in den außerschulischen Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen) und informellen Settings (z.B. in der Familie) stattfindet. Gegenwärtig liegen jedoch wenige Forschungsarbeiten vor, die sich mit außerschulischen bzw. nicht-institutionalisierten Lernprozessen auseinandersetzen (vgl. Harring/Witte/Burger 2016:11). Analysen dieser Art scheinen aber von großem Mehrwert, da die Begriffe der informellen Bildung und des informellen Lernens bisweilen unscharf und teilweise inflationär verwendet werden (vgl. Rauschenbach/Düx/Sass 2007:7). Weil die Termini in Deutschland erst seit dem Ende der 1990er Jahre und darüber hinaus unter diversen Forschungsperspektiven bearbeitet werden, herrscht bislang kein einheitlicher Konsens darüber, wie die Begrifflichkeit des Informellen zu bestimmen und insbesondere vom Non-formalen (für einen Definitionsvorschlag vgl. Kommission der Europäischen Gemeinschaften 2001:35) abzugrenzen ist (vgl. Overwien 2016:41ff.). Je nach Bezugswissenschaft und dem zugrunde liegenden Lern- und Bildungsverständnis variieren die Definitionen daher stark bzw. sind als unzureichend konkret zu bewerten. Gleichzeitig ist jedoch anzuerkennen, dass die hier beschriebene begriffliche Weite die Möglichkeit bietet, diversen Untersuchungsgegenständen offen und adäquat zu begegnen sowie deren wissenschaftliche Anschlussfähigkeit zu erhöhen.
Bildungsbegriffe: Informelle und Kulturelle Bildung
In der Konzeption für einen nationalen Bildungsbericht, die im Jahr 2004 unter dem Titel „Non-formale und informelle Bildung im Kinder- und Jugendalter“ vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) herausgegeben wurde, spiegelt sich das wachsende (politische) Interesse an informeller Bildung im Hinblick auf Kinder und Jugendliche wider; darüber hinaus wird die Bedeutung der Kulturellen Bildung als integraler Bestandteil der informellen Bildung betont (vgl. BMBF 2004:23). Diese Konzeption entfaltet sich entlang eines weiten Bildungsverständnisses, das die gesamte Bildungsbiografie des Menschen, also ein Lernen „von Anfang an“, anerkennt (vgl. BMBF 2004:19). Bildung wird verstanden als Erwerb spezifischer Kompetenzen, die den Einzelnen zu einer autonomen Lebensführung in möglichst allen Lebensbereichen befähigen sollen. Das BMBF beruft sich damit auf die deutsche Tradition humanistischen Denkens nach Humboldt; Bildung wird bestimmt als nicht abschließbarer und selbstverantworteter Prozess des Einzelnen, welcher zugleich einen Beitrag zur Verbesserung der Gesellschaft leisten kann (vgl. BMBF 2004:21). Dieser gesamtgesellschaftliche Anspruch, der hier an Bildung gestellt wird, manifestiert sich nicht mehr ausschließlich im formalen Schulsystem, sondern weitet sich auf non-formale und informelle Kontexte aus (vgl. BMBF 2004:22).
Das Postulat, außerschulisch erworbene Kompetenzen als Teil der Allgemeinbildung anzuerkennen, deckt sich mit den bildungstheoretischen Ideen, welche – auf einem weiten Kulturverständnis fußend – der Kulturellen Bildungsarbeit innewohnen (vgl. ausführlich Fuchs 2008). Bildung wird nicht als Wissenserwerb im Sinne von Lernen verstanden, sondern als Befähigung des Subjekts, selbstbestimmt und selbstverantwortlich zu handeln (vgl. Bockhorst 2011:15).
Kulturelle Bildung in informellen Kontexten
Mit einem ähnlich erweiterten Bildungsverständnis arbeitet die Kommission der Europäischen Gemeinschaften (2001). Sie definiert informelles Lernen als „Lernen, das im Alltag, am Arbeitsplatz, im Familienkreis oder in der Freizeit stattfindet. Es ist in Bezug auf Lernziele, Lernzeit oder Lernförderung nicht strukturiert und führt üblicherweise nicht zur Zertifizierung. Informelles Lernen kann zielgerichtet sein, ist jedoch in den meisten Fällen nichtintentional“ (Kommission der Europäischen Gemeinschaften 2001:33). Eine fruchtbare Weiterführung erfährt diese Definition bei Klaus Schleicher (2009), der darauf hinweist, dass informelle Lernprozesse stets Resultat individueller Motivationsmomente sind (vgl. Schleicher 2009:41). Beim informellen handelt es sich folgend um ein implizites, prozessbetontes Lernen, das den Prinzipien der Freiwilligkeit sowie der Interessenorientierung verpflichtet ist. Genannte Indikatoren sind zentrale Grundsätze, die auch das Leitbild der Kulturellen Bildungsarbeit prägen (vgl. Reinwand 2012:112). Aus deren Perspektive kann folgend konstatiert werden: Kulturelle Bildung ist nicht ausschließlich als integraler Bestandteil der informellen Bildung anzuerkennen; vielmehr sind informelle Lernstrukturen und -ansätze der Kulturellen Bildung als grundlegendes Motiv inhärent bzw. im Selbstverständnis der Kulturellen Bildung verankert.
Darüber hinaus erscheint es sinnvoll, zwischen Prozessen und Orten informeller Bildung zu unterscheiden. So können informelle Lernprozesse auch an formalen oder non-formalen Orten und Settings (z.B. auf dem Schulhof oder in einem Jugendzentrum) stattfinden (vgl. Harring/Witte/Burger 2016:18). Es empfiehlt sich deshalb, im Folgenden von Kultureller Bildung in informellen Kontexten zu sprechen.
Informeller Bildungskontext Familie
Neben der Peer Group und den Medienwelten benennen Marius Harring et al. die Familie als klassische Instanz „informeller Lerngelegenheiten“ (Harring/Witte/Burger 2016:17). In der aktuellen sozialphilosophischen Diskussion wird sie als dauerhafte und intergenerationale Solidargemeinschaft verstanden, die von einem ausgeprägten Fürsorgewillen untereinander geprägt ist. Sorge, Exklusivität und Emotionalität gelten als konstitutive Merkmale des Interaktions- und Beziehungsgefüges einer Familie (vgl. Andresen 2016:403). Weil sich familiale Bildungskontexte weder durch formale Strukturen noch durch feste Zeitfenster, sondern vermehrt durch ein Lernen „en passant“ auszeichnen, kann die Familie als „Ort informellen Lernens par excellence“ (Andresen 2016:409) bestimmt werden. Ferner sind starke Bindungen und emotionale Zuwendungen charakteristisch für diesen informellen Bildungsrahmen, was sich positiv auf die Bildungsbiografie von Kindern auswirken kann. „Eltern, Geschwister, Großeltern und die weitere Verwandtschaft bilden ein System, das durch intendierte Bildungsvorgaben […] die Entwicklung und Ausprägung des Weltbildes von Kindern stark beeinflusst“ (BMBF 2004:309).
Hans-Rüdiger Müller (2016) betrachtet die Familie unter dem Aspekt eines kulturellen Erziehungsmilieus (siehe: Hans Rüdiger Müller „Familie als kulturelles Erziehungsmilieu“) und definiert sie als „Ort individueller wie auch kollektiver Kulturtätigkeit, […] der Freizeitgestaltung, der Medienrezeption und der kollektiven Deutung kultureller, gesellschaftlicher und politischer Phänomene und Ereignisse wie auch von individuellen oder gemeinsamen Erfahrungen“. Auf Grundlage eines weiten Kulturverständnisses bilden Familien demnach eine eigene Familienkultur im Sinne einer Lebensweise aus, die neben der Alltagspraxis auch künstlerisch-ästhetische Tätigkeiten einschließt und von Ritualen geprägt ist.
In Anlehnung an diese kultursoziologische Perspektive ist anzumerken, dass die Familie eine bedeutende Sozialisationsinstanz darstellt, in der ökonomisches, soziales und kulturelles Kapital erzeugt und weitergegeben bzw. reproduziert wird (vgl. Bourdieu 1982). Vor diesem Hintergrund ist herauszustellen, dass Familien nicht ausschließlich autark funktionieren, sondern immer auch in soziale und gesamtgesellschaftliche Strukturen eingebunden sind, die den familialen Handlungsspielraum mehr oder weniger eingrenzen (vgl. Andresen 2016:402).
Vorerst kann Bilderbuchrezeption als eine Form der Kulturtätigkeit definiert werden, die in informellen Bildungskontexten – genauer: innerhalb einer Familienkultur – zu verorten ist. Weitere Überlegungen, die über den Bildungs- und Rezeptionsrahmen hinausgehen und explizit nach den Spezifika des Bilderbuchmediums sowie seinen Rezeptionsbedingungen fragen, schließen sich an diese erste theoretische Rahmung an.
Das Bilderbuch: ein Definitionsversuch
Das Bilderbuch ist zur Kinder- und Jugendliteratur zu zählen, nimmt innerhalb dieser literarischen Familie jedoch eine gesonderte Rolle ein. Aufgrund der werkbestimmenden Interaktion von Bild und Text kann es nicht uneingeschränkt in die Sparte „Narrative Gattung“ eingeordnet werden (vgl. Thiele 2005:11), Andreas Bode (2005) spricht in diesem Zusammenhang von einer „Sonderform textlicher Kommunikation“ (Bode 2005:17). Meist gibt der Text die Handlung vor, während das Bild „Stimmungen setzt, Figuren charakterisiert, Handlungsräume konkretisiert und die Handlung vertieft oder erweitert“ (Thiele 2013a:217). Es ist kaum möglich, das Geflecht bildnerischer und textlicher Elemente verallgemeinernd zu beschreiben, da jedes Bilderbuch auf seine eigene Art und Weise mit den genannten Komponenten arbeitet. Jens Thiele (2005) geht davon aus, dass es sich bei den Bild-Text-Bezügen um dynamische Strukturen handelt, die sich zu Strängen verbinden, die sich „berühren, durchdringen, die sich wechselseitig ablösen und wieder zusammen kommen“ (Thiele 2005:11).
Neben den Bild-Text-Interdependenzen wird das Bilderbuch mitunter über seinen AdressatInnennbezug definiert. Nach traditioneller Bestimmung richtet sich das Medium an Kinder im Alter von zwei bis sechs Jahren, wobei sich dieser Wirkungsradius erheblich erweitert hat (vgl. Schulz 2005:126). Spezifische Merkmale, die auf das Kind als AdressatIn abzielen, sind die Linearität der Erzählung, bildnerische Einfachheit, Buntfarbigkeit und Fröhlichkeit sowie eine eingeschränkte Seitenanzahl von circa 30 Seiten (vgl. Thiele 2013a:217).
Es ist zu konstatieren, dass diese formalen Vorgaben – begründet auf pädagogischen Traditionen des 19. und 20. Jahrhunderts – zunehmend an Relevanz verlieren. Vermehrt öffnet sich das Medium für erzähldramaturgische und bildnerische Experimente. Diese Entwicklung basiert auf einer veränderten Sicht auf Kindheit, einem neuen Verständnis vom „kindgemäßen“ Bilderbuch, den veränderten Ausbildungsinhalten von IllustratorInnen, die sich zunehmend im Dialog mit anderen Künsten befinden und den Einflüssen der künstlerischen, visuellen und digitalen Welt des 21. Jahrhunderts (vgl. Thiele 2013a:217). So entstehen neue Formate, wie der Graphic Novel, Bildserien oder offene Bildepisoden; Bilderbücher sind bisweilen auch als „All-Age-Bücher“ zu verstehen, die übergenerational zum Assoziieren einladen (vgl. Kruse/Sabisch 2013:7) und in digitalisierter Form, z.B. als Bilderbuch-App oder E-Book (vgl. Fahrer 2014), zur Anwendung kommen (für eine ausführliche Auflistung der unterschiedlichen Genres, Formate und Modi vgl. Abraham/Knopf 2014). Veränderte Rahmen- und Produktionsbedingungen wirken sich jedoch niemals auf das gesamte Angebot an Bilderbüchern aus: Einerseits sucht das Medium den Anschluss an die künstlerischen und medialen Entwicklungen der Zeit, andererseits bedient es traditionelle Erwartungen von bildnerischer und textlicher Einfachheit (vgl. Thiele 2013a: 218).
Um dem literar-ästhetischen Phänomen wissenschaftlich gerecht zu werden, muss es aus verschiedenen Perspektiven und im Kontext unterschiedlicher Bezugsdisziplinen (unter anderem Literatur-, Kunst, Medienwissenschaften, Psychologie, Pädagogik) betrachtet werden. Einstweilen ist jedoch festzuhalten, dass die besondere Ästhetik des Bilderbuchs in dem eigentümlichen Spannungsverhältnis von Text und Bild begründet liegt.
Die Verbindung von Kind, Kunst und Kommerz als theoretische Bezugspunkte des Bilderbuchs
Unter der Bezeichnung „Bürgerliches Bilderbuch“ präsentierte sich das Bilderbuch zu Beginn des 19. Jahrhunderts erstmalig als reich illustriertes, für Kinder gedachtes Unterhaltungsmedium (vgl. Doderer 1973:183ff.). Ein Blick in seine Geschichte zeigt, dass das Bilderbuch im Spannungsfeld ökonomischer Bedingungen, kunsthistorischer Strömungen und pädagogischer Implementierungen erfasst werden muss (vgl. Doderer/Müller 1973). Ebenso wird deutlich, dass es sich bei den genannten Bezugspunkten um historisch gebundene Einflussfaktoren handelt, die bis heute nicht an Gültigkeit und Relevanz verloren haben; sie schaffen Gegebenheiten, unter denen das Medium auch gegenwärtig zu diskutieren ist. Nach Thiele (2003) lassen sich diese Rahmenbedingungen mithilfe der Trias „Kind, Kunst, Kommerz“ zusammenfassen; unter den angeführten Aspekten subsumieren sich vielerlei Einflüsse, die kontinuierlich auf das Bilderbuch einwirken (hier stichpunktartig skizziert):
Kind: Entwicklungspsychologische Erkenntnisse und Theorien von Kindheit; die gesellschaftliche Rolle des Kindes; Modelle von Kindheit; Perspektiven der Erwachsenen auf Kinder; Pädagogische Normen und Theorien; kunstpädagogische Setzungen vom Sehen und Lernen; Lesen und Schreiben als zentrale Kulturtechniken.
Kunst: Kulturelle und künstlerische Strömungen; Kultur- und Kunsttheorien; das Verhältnis zwischen freier und angewandter Kunst; kulturell bedingte Sehbedürfnisse; die Rolle und das Selbstverständnis von KünstlerInnen und IllustratorInnen; die Haltung von KünstlerInnen und IllustratorInnen gegenüber den kindlichen BetrachterInnen; künstlerische Techniken; Arbeitsbedingungen von KünstlerInnen und IllustratorInnen.
Kommerz: Ökonomische Bedingungen des Buchmarktes; VerlegerInnen, VertreterInnen und BuchhändlerInnen als Filterinstanzen; die Wechselbeziehung von Ästhetik und Kommerz; Vermarktung von Bilderbüchern; Werbung; Einflüsse kommerzieller Medienkulturen (vgl. Thiele 2003:17).
Es wird deutlich, dass es sich beim Bilderbuch um ein vielschichtiges Gefüge handelt. Aus diesem Grund kann bis dato keine geschlossene Theorie des Bilderbuchs formuliert werden, die das Medium in seiner Komplexität zu erfassen vermag (vgl. Scherer/Volz/Wiprächtiger-Geppert 2014:1). Dennoch existieren Forschungsansätze, die im Folgenden knapp vorgestellt werden, da sie aufgrund ihrer Anschlussfähigkeit an die „Idee Kulturelle Bildung“ für weiterführende Überlegungen fruchtbar gemacht werden können.
Ansätze für eine Theorie des Bilderbuchs
Obwohl schon seit den 1960er Jahren eingefordert, ist in Deutschland bis heute keine kontinuierliche Forschung zum Gegenstand Bilderbuch auszumachen (vgl. Thiele 2007). Die bis zu diesem Zeitpunkt vorliegenden theoretischen Ansätze spiegeln wider, dass unterschiedliche wissenschaftliche Disziplinen mit divergenten Erwartungshaltungen, Interessen und Zielstellungen an dieses Medium herantreten. Gleichzeitig können eben jene Forschungsbestrebungen als Indikator für ein wachsendes wissenschaftliches Interesse am Bilderbuch gewertet werden:
Literaturästhetischer bzw. -didaktischer Ansatz: Dieser Ansatz untersucht das Bilderbuch unter Aspekten der Literatur, Bildenden Kunst, Pädagogik und Kinderpsychologie. Einerseits ermittelt er Berührungspunkte zwischen den Disziplinen, andererseits befasst er sich mit dem Kind und seinem Bildungsanspruch; zugleich fragt er nach pädagogischen und künstlerischen (Rezeptions-)Voraussetzungen (vgl. Baumgärtner 1968).
Literarisch-bildnerischer Ansatz: Der Schwerpunkt des literarisch-bildnerischen Ansatzes liegt in der Auseinandersetzung mit den Qualitäten der Bild-Text-Bezüge. Das Bilderbuch wird auf seine textliche und bildnerische Semiotik hin überprüft. Ziel ist es, die Zeichenhaftigkeit visueller und textlicher Informationen herauszustellen und zu analysieren (vgl. Baumgärtner 1968 und Nodelmann 1988; zit. nach Thiele 2003:37).
Psychoanalytischer Ansatz: Im Laufe ihrer Sozialisation werden Kinder mit Bildern und Texten konfrontiert – sogenanntes psychologisches Material. Das Kind rückt hierbei als interpretierendes Individuum in den Fokus der Untersuchung. An den literarisch-bildnerischen Ansatz anschließend greift diese Idee die Bedeutung der Text-Bild-Interdependenzen auf, weil sie für die kindlichen BetrachterInnen als sinngebend erachtet werden (vgl. Kleinspehn 1991).
Künstlerischer Ansatz: Der künstlerische Ansatz fokussiert das Bilderbuch aus der Perspektive der Bildenden Kunst: Die Bilderbuchillustration gilt als speziell für Kinder entwickelte Kunst, welche in die ästhetische Welt einführt. Die Arbeit von IllustratorInnen wird der von freien KünstlerInnen gleichgesetzt, der Prozess des Illustrierens wird als autonom wahrgenommen (vgl. Schwarcz 1982; zit. nach Thiele 2003 und Thiele 1997).
Erzähldramaturgischer Ansatz: Den literarisch-bildnerischen Gedanken einschließend verortet dieser Ansatz das Bilderbuch innerhalb der darstellenden Künste. Er untersucht das Medium mit Bezug auf filmische und theatrale Erzählstrukturen (vgl. Schwarcz 1982; zit. nach Thiele 2003:38).
Biografischer Ansatz: Dieses Verfahren stellt eine Verbindung zwischen der Biografie von KünstlerInnen und dem (Bilderbuch-)Werk her. Der biografische Ansatz weist eine direkte Nähe zum künstlerischen Ansatz auf, weil er unter dem Aspekt eines biografisch motivierten Schaffensprozesses implizit die Bedeutung des Bilderbuchs als Kunstwerk betont (vgl. Tabbert 1987).
Künstlerisch-biografischer Ansatz: Diese Vorgehensweise ist angelehnt an den biografischen Ansatz, bezieht jedoch den künstlerischen Aspekt stärker mit ein. So geht es um die Frage, wo und unter welchen Bedingungen künstlerische Prozesse des Illustrierens ansetzen und wie künstlerische Konzepte im Hinblick auf die Zielgruppe Kind von IllustratorInnen umgesetzt werden (vgl. Oetken 1997).
Bei den vorgestellten Theorieansätzen handelt es sich um Bausteine, die sich in einem Arbeitsfeld unterschiedlicher Bezugswissenschaften bewegen und das Spannungsverhältnis von Kind, Kunst (und Kommerz) widerspiegeln. Weil das Bilderbuch inmitten eines interdependenten und interdisziplinären sowie narrativen und medialen Gefüges anzusiedeln ist, muss es nach Thiele (2003) konsequenterweise auch dort verortet werden (vgl. Thiele 2003:39). Das Medium wäre zunächst unter literarischen und ästhetischen Aspekten zu analysieren, ferner müssten Fragen zu kindlichen Bildungsprozessen gestellt werden: Wie rezipieren Kinder ein Bilderbuch und welche Einflüsse begleiten diesen Prozess? Diese beiden Aspekte, also Erkenntnisse zur Aneignung von Bilderbüchern sowie die theoretische Analyse der Bild-Text-Bezüge, müssten miteinander verknüpft werden; zuletzt wäre die Rezeptions- bzw. Vermittlungssituation zu untersuchen und ebenfalls in Bezug zu den zuvor genannten Punkten zu setzen (vgl. Scherer/Volz/Wiprächtiger-Geppert 2014:1). Die Frage, ob das Bilderbuch in dieser umfangreichen Form erschlossen werden kann, bleibt an dieser Stelle unbeantwortet. Gabriele Scherer et al. (2014) bezeichnen diesen Anspruch als Utopie: Zwar ist ein merkliches Interesse an einer Forschung zum Phänomen Bilderbuch zu spüren, doch scheint es unmöglich, alle beteiligten Disziplinen in einer umfassenden Theorie zu bündeln (vgl. Scherer/Volz/Wiprächtiger-Geppert 2014:1).
Zielgruppenspezifische Anforderungen an ein „gutes“ Bilderbuch
Im Sinne einer Kulturellen Bildung, die das Subjekt und seine lebensweltlichen Strukturen in den Fokus stellt, liegt es nahe, nach dem Kind und seinen Rezeptionsbedingungen zu fragen. In der Debatte um das „gute“ Bilderbuch gewinnt der Terminus des „Kindgemäßen“ an zentraler Bedeutung, wobei diese Bezeichnung Inbegriff einer weitreichenden historischen Tradition und vor allem pädagogisch motiviert ist. Auch im 21. Jahrhundert beschäftigen sich PädagogInnen und Eltern mit der Frage, welche Themen und Bilder Kindern zugemutet werden können. Die Ausblendung mancher Inhalte – z.B. das Motiv „Krieg“ – impliziert immer eine bewusste pädagogische Entscheidung (vgl. Thiele 2003:163f.). Überlegungen zu einem kindgemäßen Bilderbuch werden bisweilen von der Frage begleitet, wie Bilder auf Kinder wirken; hier potenzieren sich insbesondere Ängste und Vorurteile von Erwachsenen. Bildexperimente, die von bekannten Gestaltungsformaten – unter anderem eindeutige Farben und Bildmuster, klar umrissene Formen und Verzicht auf Räumlichkeit – abrücken, stehen oftmals in der Kritik hinsichtlich der pädagogischen Vermittelbarkeit und dem erzieherischen Nutzen (vgl. Thiele 2003:182ff.). Es wird deutlich, dass die Sicht auf das Kindgemäße vor allem davon beeinflusst ist, was Erwachsene als kindgemäß erachten. Auch Mareile Oetken (2005) benennt dieses Problem und gibt zu bedenken, dass Literatur von Erwachsenen für Kinder immer aus symbolisierten Kindheitsbildern der Erwachsenen selbst hervorgeht (vgl. Oetken 2005:111).
Nach Thiele (2003) und unter Berücksichtigung einer Kulturellen Bildung, die sich auf „Phänomene der Künste, Kulturen und Medien, der Wahrnehmung, des Sinnlichen und Symbolischen – als vielgestaltige Summe des Ästhetischen“ (Zacharias 2008:14) beruft, müsste ein am Wesen des Kindes orientiertes Bilderbuch Neugier befriedigen und eine Suche nach grundsätzlichen Erfahrungen im ästhetischen Bereich ermöglichen, eine aktive Auseinandersetzung mit künstlerischen Phänomenen fördern und Spielräume für die eigene Entfaltung zugestehen. Das kindgemäße Bilderbuch müsste also zur Entdeckung auffordern, Fragen stellen und Rätsel aufgeben (vgl. Thiele 2003:189). Dieses Postulat zielt auf die Befreiung des Bilderbuchs von pädagogischen Zwängen ab; es verfolgt die Intention einer pädagogisch unbelasteten Beziehung zwischen Kind und Kunst (vgl. Thiele 2013b).
Die Frage nach dem „Kindgemäßen“ zieht ein Spannungsverhältnis unterschiedlicher Positionen nach sich, an dessen Polen künstlerisch bzw. pädagogisch motivierte Zielstellungen stehen. An dieser Stelle, aber auch über das Bilderbuchmedium hinaus, manifestiert sich ein diskursives Arbeitsfeld, das von gegensätzlichen Professionen und Selbstverständnissen geprägt ist und die dynamische Szene der Kulturellen Bildungsarbeit vor konzeptuelle Herausforderungen stellt (vgl. Reinwand 2012:13).
Bilderbuchrezeptionsforschung im Kontext Kultureller Bildung
Das von Erwachsenen eingeforderte kindgemäße Bilderbuch definierte sich lange über Vermutungen zur kindlichen Rezeption; kindliche Aneignungsprozesse rücken jedoch vermehrt in den Blick von ForscherInnen. So konnte Bettina Uhlig (2008) beispielsweise erste Erkenntnisse zu kindlichen Bildpräferenzen formulieren, die zeigen, dass Vorlieben für Bilder ihren Ursprung in den lebensweltlichen Bezügen von Kindern finden. Bei den kindlichen BetrachterInnen konnten bestimmte „Schlüsselreize“ ausgemacht werden, die die Aufmerksamkeit für ein Bild weckten. Auf Grundlage ihrer Untersuchung nimmt Uhlig an, dass die jeweiligen biografischen und soziokulturellen Hintergründe des Kindes als Präferenz auslösende Impulse geltend gemacht werden müssen (vgl. Uhlig 2008:8). Neben diesem wurden zwischenzeitlich weitere Pilotprojekte aufgelegt, die sich dem Sujet „Bilderbuch und Rezeption“ widmen (vgl. beispielhaft Wiprächtiger-Geppert/Lüscher Mathis 2014, die mit der Perspektivübernahme ein grundlegendes Konzept der Rezeptionskompetenz vorstellen); ferner wurden Diskussionsräume geöffnet, um einen produktiven Dialog zwischen den unterschiedlichen Bezugsdisziplinen zu fördern (vgl. Kruse/Sabisch 2013 und Scherer/Volz/Wiprächtiger-Geppert 2014).
Auf Basis des bis dato skizzierten Diskurses und in Anlehnung an Thiele (2003 und 2007) ist es möglich, einige konzeptuelle Leitgedanken zu fixieren, die für eine Bilderbuchforschung im Spiegel der Kulturellen Bildung als tauglich erachtet werden. In diesem Sinne wäre eine Bilderbuchrezeptionsforschung zu fordern, die davon ausgeht, dass das Bilderbuch ein literar-ästhetisches Medium mit entsprechender Symbolkraft darstellt (die Frage, ob es sich um ein kommerzielles, populärkulturelles oder rein künstlerisches Medium handelt, wäre hierbei zunächst zu vernachlässigen). Das ästhetische Objekt wäre unter seinen spezifischen Merkmalen anzuerkennen und im Kontext literarischer und bildnerischer Potentiale zu bearbeiten. Vor diesem Hintergrund wäre ein weites Verständnis von „Text“ nötig, welches die bildhafte und literarische Sprache gleichermaßen miteinbezieht (vgl. Marci-Boehncke 2008:80); daran anschließend würde das „Lesen“ eines Bilderbuches einer neuen Bedeutungsebene zugeführt. Gleichzeitig stünden das Subjekt und sein Aneignungsprozess im Mittelpunkt des Interesses: Es wäre zunächst danach zu fragen, unter welchen Voraussetzungen die Rezeptionssituation entsteht und unter welchen Rahmenbedingungen sie abläuft. Um zu verstehen, wie ein „ästhetischer Dialog“ zwischen den BetrachterInnen und dem Bilderbuch verläuft, wäre ferner der kindliche Selbstbildungsprozess zu untersuchen (vgl. Thiele 2003:191). Im Falle einer Vorlesesituation wäre der Kommunikations- bzw. Konversationsverlauf zwischen den AkteurInnen zu analysieren (zur Vorlesepraxis in Familien vgl. Ehmig/Reuter 2013). Vor dem Hintergrund der von Uhlig (2008) dokumentierten Untersuchungsergebnisse zu kindlichen Bildpräferenzen könnte auch eine biografische Herangehensweise fruchtbare Erkenntnisse liefern, weil sie die soziale Einbettung der Rezeptionssituation fokussiert.
Dieser hier skizzenhaft dargestellte wissenschaftliche Zugang vermittelt, dass eine derartig angelegte Bilderbuchrezeptionsforschung eine Kulturelle Bildungsforschung wäre, die stets die literar-künstlerischen Spezifika des ästhetischen Objekts, das Bildungssetting und gleichzeitig den sozial-biografischen Hintergrund der Rezeptionssituation bzw. den Kontext der kulturellen Sozialisation im Blick haben muss.
Das Bilderbuch: Ein multioptionales Bildungsmedium?!
Aus der Diskussion um eine theoretische Erschließung des Bilderbuchs und im Zuge erster Überlegungen zur Bilderbuchrezeptionsforschung lassen sich drei Dimensionen möglicher Bildungspotentiale entwickeln, die auf grundlegenden theoretischen Annahmen zur Kulturellen Bildung (unter anderem Bildungs- und Kulturbegriff, Selbstverständnis, gesellschaftspolitische Relevanz) (vgl. ausführlich Fuchs 2008) basieren. Zunächst ist zu konstatieren, dass es sich beim Bilderbuch um ein interdisziplinär angelegtes Medium handelt, das im Bereich der Literatur, der Bildenden Künste und der visuellen Medien anzusiedeln ist. Die erste Dimension ist daher eine ästhetische, die eine symbolhafte und sinnliche Begegnung mit unterschiedlichen kunstförmigen Ausdrucksformen ermöglichen kann. Als zweites ist eine soziale Dimension auszumachen, die im Kontext informeller bzw. familialer Bildungsprozesse zu nennen ist. Das Konzept von Emotionalität findet vor allem während der Vorlesesituation Anwendung, weil diese von einer starken Nähe zwischen den Beteiligten geprägt ist und folgend als intensiver und intimer Kommunikationsmoment bezeichnet werden muss. Sabine Andresen (2016) spricht diesbezüglich von Bildung als „Herzensbildung“ (vgl. Andresen 2016:413f.). Zuletzt kann eine inhaltliche, bisweilen politische, Dimension beschrieben werden, die bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht explizit diskutiert wurde, jedoch nicht zu vernachlässigen ist. Die Themenwelten von Bilderbüchern öffnen sich zunehmend für bislang tabuisierte Themen wie Patchwork-Familie, Krankheit, Alter, Tod, Kindesmissbrauch, Behinderung, Scheidung, Homosexualität etc. (vgl. Künnemann 2005:53). Bilderbücher, die derartige Themen aufgreifen, sind beispielsweise Wolf Erlbruchs „Ente, Tod und Tulpe“ (2007) – ein Bilderbuch, das sich mit dem Thema Sterben auseinandersetzt – sowie das Bilderbuch „Planet Willi“ (2012) von Birte Müller, das sich der Lebenswelt von Willi, einem Jungen mit Down-Syndrom, widmet. In Anbetracht aktueller Entwicklungen scheinen auch Sujets wie Einwanderung, Kulturalität und Flucht Einzug in Bilderbücher zu halten. Exemplarisch wäre hier der Gewinner des Jugendliteraturpreises von 2014, „Akim rennt“ (2013) von Claude K. Dubois, zu nennen. Alle angeführten Bilderbücher zeichnen sich durch einen sensiblen Umgang mit schwierigen Themen und Fragestellungen aus. Ihre Stärke liegt mitunter in dem mutigen Einsatz künstlerischer Gestaltungsformen und Techniken. Darüber hinaus ist festzustellen, dass Bilderbücher insbesondere dann das Potential besitzen, komplexe gesellschaftspolitische Themen aufzubereiten, wenn es AutorInnen und IllustratorInnnen gelingt, das Sujet fern klischeehafter Darstellungen zu bearbeiten und Merkmale wie Gender, Hautfarbe, sexuelle Identität, Religionszugehörigkeit etc. implizit und selbstverständlich in Geschichten einzubinden (diese Annahme geht aus dem Seminar „Wir und die Anderen – ‚Das Fremde‘ in Bilderbuch und Kinderfilm“ an der Universität Hildesheim hervor).
Herausforderungen und weiterführende Fragen
Im Folgenden sei noch einmal auf einige Problemstellungen eingegangen, die bisweilen unzureichend diskutiert wurden bzw. gänzlich unberücksichtigt geblieben sind.
Wenn von Bildungspotentialen die Rede ist, beinhaltet dies immer die Annahme möglicher Wirkungen. Diese zu messen, stellt die Kulturelle Bildungsforschung vor Herausforderungen, die bereits erkannt und im wissenschaftlichen Diskurs besprochen werden (siehe: Vanessa-Isabelle Reinwand-Weiss „Wirkungsnachweise in der Kulturellen Bildung: Möglich, umstritten, vergeblich, nötig?“). Ein erschwerender Faktor kommt jedoch hinzu, wenn es um die Erforschung Kultureller Bildung in informellen Kontexten geht: Zunächst kann sich die informelle Bildung nicht auf eine wissenschaftliche Tradition stützen, darüber hinaus ist der informellen Bildung inhärent, dass sie überwiegend unsystematisch, unorganisiert und vor allem auch ungeplant erfolgt, was eine Untersuchung unter Realbedingungen unmöglich erscheinen lässt (vgl. Schleicher 2009:15). Rauschenbach et al. (2007) geben ferner zu bedenken, dass der Versuch, informelle Bildungsprozesse zum Untersuchungsgegenstand zu erheben, eine Sichtbarmachung und Beachtung impliziert, die die Gefahr einer Formalisierung dieser lebensweltlichen Bildungssettings birgt (Rauschenbach/Düx/Sass 2007:9). Diese Kritik potenziert sich im Hinblick auf die Kulturelle Bildungsforschung und stellt gleichzeitig die Frage nach (der Notwendigkeit) einer Zertifizierung informell erworbener Kompetenzen – beispielsweise nach dem Vorbild des „Kompetenznachweis Kultur“, der für die außerschulische Jugendkulturarbeit entwickelt wurde (siehe: Brigitte Schorn „Der Kompetenznachweis Kultur in der Schule: Unterstützung auf dem Weg zu einer veränderten Lernkultur“).
In diesem Zusammenhang sind die Stichworte „Kulturelle Teilhabe“ und „Partizipation“ zu diskutieren, welche programmatisch als gesellschaftspolitische Ziele Kultureller Bildung postuliert werden (vgl. Reinwand 2012:112f.). Es wurde bereits skizziert, dass die Familie als geschlossenes System innerhalb eines gesamtgesellschaftlichen Gefüges zu verorten ist und damit auch soziale Ungleichheit reproduziert. Nicht zuletzt seit Pierre Bourdieu (1982) ist bekannt, dass der ästhetische Geschmack auch vom Bildungsgrad und von der sozialen Herkunft abhängt und als Indikator für gesellschaftliche Zugehörigkeit gelten kann. Vor diesem Hintergrund gewinnt die formale Bildung an besonderer Bedeutung, weil sie durch ihr Bildungsangebot der Verfestigung sozialer Ungleichheiten entgegenwirken kann. Dies soll die Wichtigkeit und Anerkennung informeller Bildungssettings in keiner Weise schmälern; gleichwohl muss darauf aufmerksam gemacht werden, dass familiale Kulturelle Bildung schnell an Grenzen stößt, weil differente Zugänge zum ästhetischen Objekt bestehen und Bildungsressourcen ungleich verteilt sind (siehe: Uli Glaser „Mythos Kultur für Alle? Kulturelle Teilhabe als unerfülltes Programm“).
Angesichts dieser schwierigen Ausgangslage stellt sich ferner die Frage nach der Qualität einer familialen Vermittlungssituation. Die „Qualität“ der Vermittlung ist nur schwer bis überhaupt nicht überprüfbar, sodass davon ausgegangen werden muss, dass ein professionelles Hineinwirken in informelle Bildungsprozesse äußerst schwierig zu gestalten und grundsätzlich zu hinterfragen ist (vgl. Rauschenberg/Düx/Sass 2007:8). Die Qualität des Bildungsprozesses definiert sich ausschließlich über das Bildungssetting und das ästhetische Objekt – in diesem Fall über das Bilderbuch und das familiale Umfeld.
Unter dieser Betrachtungsweise gilt es, die Frage nach dem „guten“ Bilderbuchmedium erneut und unter dem Aspekt seiner Produktionsbedingungen zu stellen. Handelt es sich hierbei um ein rein kommerzielles, von der Verlagspolitik und den ökonomischen Rahmenbedingungen des Buchmarktes abhängiges Konsumprodukt? Ist es dann als populäres (kinder-)kulturelles Medium anzuerkennen, weil es als Unterhaltungs- und Freizeitmedium gehandelt wird? Oder ist es als hochpreisiges Luxusgut zu bestimmen, das sich dem Markt entzieht und als rein künstlerisch motiviertes und dann autonomes Werk die Grenze zur Hochkultur streift? Hinsichtlich der Fülle an Bilderbüchern, die derzeit offeriert werden, ist zu fordern, dass im Zuge der wissenschaftlich-theoretischen Diskussion davon Abstand genommen werden muss, von „dem“ Bilderbuch zu sprechen; vielmehr muss das breite Angebot an Bilderbüchern differenziert betrachtet und im Sinne der Trias „Kind, Kunst, Kommerz“ (vgl. Thiele 2003) auch unter Einbeziehung der Produktions- und Marktbedingungen diskutiert werden.
Abschließende Gedanken
Eine Vielzahl an unbeantworteten Fragen und die zu diskutierenden Problemstellungen sind symptomatisch für ein lückenhaft erschlossenes Forschungsfeld, wie es hier dargestellt wurde. Es ist zu rekapitulieren, dass die Präsentation gesicherter Thesen mitnichten die Zielstellung dieses Artikels war; vielmehr galt es, einen möglichen Untersuchungsrahmen abzustecken und das Phänomen Bilderbuch unter Berücksichtigung seiner Rezeptionsbedingungen in den Fokus der Kulturellen Bildungsforschung zu rücken. Zukünftig muss es darum gehen, konkrete Fragestellungen zu formulieren, adäquate Untersuchungsdesigns zu entwickeln und gewonnene Erkenntnisse in die aktuelle gesellschaftspolitische Diskussion um die Kulturelle Bildung einzubinden.