Kulturelle Bildung als Alternative zur Kommerzialisierung im postdigitalen Zeitalter? Jugendliche Lebenswelten im analog-digitalen kulturellen Wandel
Abstract
Der Beitrag zeigt die veränderte Perspektive junger Menschen auf digitale Technik in einem postdigitalen Zeitalter auf und leitet daraus Handlungsfelder für die Kulturelle Bildung ab. Dabei wird sich auf erste Ergebnisse des Forschungsprojekts „Postdigitale kulturelle Jugendwelten“ (Keuchel 2018) gestützt, das das Bundesministerium für Bildung und Forschung förderte und das Institut für Bildung und Kultur und die Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg in Kooperation mit der Akademie der Kulturellen Bildung realisierte. Innerhalb des Forschungsprojekts wurde eine repräsentative bundesweite Befragung der 14- bis 24-Jährigen unter Leitung der Autorin durchgeführt.
Mit dem Einzug digitaler Techniken existierte erstmals ein Individual-, Gruppen- und Massenmedium, das sowohl senden als auch empfangen konnte und die zeitgleiche wie zeitversetzte Kommunikation ermöglichte. Der Bürgerrechtler und Songtexter John Perry Barlow, brachte dies wie folgt auf den Punkt: „Wir schaffen eine Welt, in der an jedem Ort jeder seine oder ihre Meinung kundtun kann, (…)“ (Barlow 1996). Die Hoffnung auf eine neue Gesellschaftsordnung wurde flankiert durch die unbegrenzten Aufstiegsmöglichkeiten, die die digitale Technik scheinbar bot, manifestiert an Biografien wie Steve Jobs, der 1976 in seiner Garage „Apple“ gründete.
Aus den kreativen Experimenten der Anfangsbewegung entwickelten sich große weltweite marktbestimmende Medienkonzerne, die das Internet in weiten Teilen kommerzialisierten. Mit dem systematischen Vernetzen von digitalen Daten etablierten sich technische Steuerungsmechanismen wie Algorithmen, die Zugänge zu Datenbeständen individuell automatisieren. Nach dem „Internet der Dinge“ beginnt auch der Mensch mit der Digitalisierung des eigenen Körpers, so beispielsweise der Implementierung von Chips mit der Möglichkeit des bargeld- und kartenlosen Zahlens. Die Transformation des Menschen zum „Cyberborg“ bietet vielfältige Chancen, beispielsweise für Menschen mit Behinderungen. Natürlich birgt dies im Falle des Missbrauchs auch Gefahren, so wird aktuell an einem „Hirn-Gadget", BCI-Brain-Computer Interface, gearbeitet, das Gedanken direkt aus dem menschlichen Gehirn auf einen Computer übertragen könnte. Damit wird die drängende Frage nach der Steuerung digitaler Technik aufgeworfen.
Gesellschaftliche Perspektiven haben sich seit der Etablierung des Internets stark verändert. Dies gilt besonders für Kinder und Jugendliche, die eine hohe Affinität in der Anwendung digitaler Techniken aufzeigen. Im Folgenden werden die veränderten Perspektiven dargestellt. In einem zweiten Schritt werden für die Kulturelle Bildung im Zuge der Digitalisierung Herausforderungen abgeleitet. Dabei wird sich auf Ergebnisse des Forschungsprojekts „Postdigitale kulturelle Jugendwelten“ (Keuchel 2018) gestützt, das das Bundesministerium für Bildung und Forschung förderte und das Institut für Bildung und Kultur und die Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg in Kooperation mit der Akademie der Kulturellen Bildung realisierte. Innerhalb des Forschungsprojekts wurde eine repräsentative bundesweite Befragung der 14- bis 24-Jährigen unter Leitung der Autorin durchgeführt.
I. Generationsspezifische Perspektiven
Der generationsspezifische Blickwinkel auf Digitalität ist aufgrund der rasanten technischen Weiterentwicklung sehr unterschiedlich. Grundsätzlich kann beobachtet werden, dass es älteren Bevölkerungsgruppen eher schwer fällt, mit technischen Innovationen digitaler Techniken und KI Schritt zu halten, während die Jugend diese begeistert aufgreift und dadurch zur bestimmenden Gruppe neuer sozialer Netzwerkplattformen und Computerspielewelten geworden ist. Dabei unterscheidet sich das Nutzungsverhalten nicht nur im Rückgriff auf neue digitale Techniken, sondern auch bezogen auf die Anwendungsfelder. Ältere Generationen, die mit dem Digitalen oftmals noch ausschließlich den Computer assoziieren, nutzen digitale Techniken vor allem als berufliches Arbeitsinstrument und Informationsmedium (vgl. Prensky 2001). Für junge Menschen, die mit dem Smartphone aufgewachsen sind, sind analoge und digitale Welten dagegen längst zu einer Einheit verschmolzen. Forscher gehen davon aus, dass die jungen „Digital Natives“ nicht mehr zwischen virtuellen und realen Welten unterscheiden (Ketter 2011). Ein Beispiel für das Auflösen solcher Grenzen ist das Spiel „Pokemon Go“. Negraponte spricht hier vom „Postdigitalen Zeitalter“ (Negroponte 1998), das dadurch gekennzeichnet ist, dass „Digitales nur durch seine Ab- und nicht Anwesenheit bemerkt“ wird.
In der eingangs erwähnten Forschungsstudie (Keuchel 2018) konnte noch ein weiterer generationsspezifischer Unterschied herausgearbeitet werden. Assoziieren Ältere mit dem Internet vielfach immer noch einen spannenden Experimentierraum, ist für Jüngere das Internet längst ein kommerziell durchregulierter Lebensraum geworden. So sind 51% der 14- bis 24-Jährigen in der bundesweiten repräsentativen Umfrage, die Ende 2018 durchgeführt wurde, der Meinung, dass Verhaltensweisen heute indirekt stark durch Social Media, beispielsweise das Erlangen von „Likes“, bestimmt sind. Entsprechend stimmen 71 % der 14- bis 24-Jährigen einer gesetzlichen Reglementierung im digitalen Bereich zu, wenn sich dadurch Phänomene wie Mobbing eingrenzen lassen, auch wenn dadurch Redefreiheit eingeschränkt würde. 59 % wünschen sich eine internationale Gesetzgebung für alle Anbieter und Nutzer im Internet. 80 % fordern die gleichen Regeln für das Miteinander in digitalen Welten, die auch im analogen gesellschaftlichen Leben gelten: Respekt und Toleranz. Sexuelle Belästigung solle demnach genauso geahndet werden wie in Offline-Szenarien.
II. Handlungsfelder der Kulturellen Bildung im postdigitalen Zeitalter
Welche neuen Themen, Aufgaben und Handlungsfelder könnten für die Kulturelle Bildung in postdigitalen Zeiten relevant sein? Mit Blick auf die Forschungsstudie (Keuchel 2018) ergeben sich insbesondere folgende Herausforderungen für die Kulturelle Bildung:
- Verantwortungsübernahme für analog-digitale kulturelle Teilhabe
- Verankerung von Kultur und Kulturelle Bildung in analog-digitalen Lebensräumen
- Aufgreifen zeitgemäßer künstlerisch-ästhetischer analog-digitaler Ausdrucksformen
- Ästhetischer Diskursraum zur Ausgestaltung analog-digitaler Lebenswelten
- Gesellschaftlicher Diskursraum in Anwaltschaft für Kinder und Jugendliche
So wurde in der Studie deutlich, dass kulturelle Rezeption der 14- bis 24-Jährigen heutzutage grundsätzlich analog-digital erfolgt und Online-Plattformen dabei eine wichtige Rolle einnehmen. Hieraus kann jedoch, wie die Ergebnisse der Studie zeigen, nicht der Umkehrschluss gezogen werden, dass eine aktive kulturelle Teilhabe junger Menschen, die bisher nicht erreicht wurden, beispielsweise junge Menschen mit formaler niedriger Bildung, durch die erweiterten digitalen Möglichkeiten kulturell aktiver werden. Des Weiteren konnte beobachtet werden, dass junge Bevölkerungsgruppen digitale Räume für kulturelle Rezeption nutzen, es jedoch vergleichsweise wenige sind, die jenseits der vorgegebenen Gestaltungsräume kommerzieller Online-Plattformen künstlerisch-kreativ gestalterisch im Digitalen unterwegs sind. Gerade jedoch diese kleine Gruppe Künstlerisch-Kreativer ist zugleich wesentlich medienkritischer im Umgang mit kommerziellen digitalen Räumen als das Gros der 14- bis 24-Jährigen.
Neben der Förderung künstlerisch gestalterischer Praktiken im Digitalen ist auch der Zugang zu Kultur und Wissen im Digitalen kritisch in den Blick zu nehmen, aufgrund der unendlichen Vielschichtigkeit des digitalen Raums. Das Aufsuchen neuer kultureller Angebote wird zudem durch Algorithmen kommerzieller Suchmaschinen erschwert, die bestehende Interessen im Digitalen eher verfestigen statt neue Interessen öffnen. Alternative Orientierungspfade wie „Likes“ oder „Rankings“ sind dabei künstlerisch oftmals an Massenphänomene gekoppelt. Wenn Kulturelle Bildung den Anspruch verfolgt, kulturelle Teilhabe von Kindern und Jugendlichen in den aktuellen erweiterten analog-digitalen Lebensräumen zu ermöglichen, gilt es zum einen auch digitale kulturelle Teilhabe aktiv zu fördern und dabei sicherzustellen, dass junge Bevölkerungsgruppen Zugriff auf vielfältige kulturelle Inhalte in digitalen Räumen haben. In der Tat wünschen sich die 14- bis 24-Jährigen mehr Präsenz von öffentlich geförderten Kulturgütern im digitalen Raum. 65 % der 14- bis 24-Jährigen möchten, dass die Inhalte von Kultureinrichtungen auch digital zugänglich gemacht werden. Es ist für viele nicht nachvollziehbar, warum eine verpasste Theatervorstellung im Anschluss nicht digital abrufbar ist. 62 % sind der Meinung, dass der Zugriff auf digitale Bücher im Internet genauso öffentlich gefördert werden sollte, wie dies beispielsweise analoge Bibliotheken tun.
Die Chance eine Vielzahl junger Menschen interaktiv durch digitale Techniken, unabhängig von Zeit und Raum, im Sinne von mehr kulturelle Teilhabe zu erreichen, sollte nicht vertan werden. Es gilt zu prüfen, ob beispielsweise Musikschulen oder Jugendkunstschulen mit Tutorials auf Youtube ihre Zielgruppenreichweite erhöhen oder durch Beratung und Sprechstunden via Skype barrierearmer werden könnten.
Wenn Kulturelle Bildung den Anspruch der Lebensweltorientiertheit für junge Menschen aufrechterhalten möchte, gilt es nicht nur analoge jugendkulturelle Ausdrucksformen in den Blick zu nehmen, sondern auch zeitgemäße analog-digitale. Viele künstlerisch-ästhetische jugendkulturelle Ausdrucksformen entstehen in der Auseinandersetzung mit digitalen Medien. Dies beginnt bei der Sprache mit der Übernahme von Kürzeln wie „lol“ und reicht bis zu neuen künstlerischen Ausdrucksformen, so das Interesse zunehmend mit interdisziplinären Kunstpraktiken zu experimentieren, Ausschnitte aus Lieblingsfilmen zu einem selbst gewählten Musikstück neu zusammenzuschneiden oder für Youtube Musikvideos zu produzieren, die auch künstlerisch performativ inszeniert werden. Denn digitale Techniken eröffnen künstlerische Gestaltungsprozesse, ohne die Notwendigkeit des Erwerbs handwerklicher Techniken wie das Erlernen eines Musikinstruments. Damit wächst das Interesse junger Menschen an künstlerischen Gestaltungsprozessen wie Performance, Improvisation oder Komposition. Dies bringt möglicherweise die Notwendigkeit mit sich, alternative Angebotsformate zu schaffen und sich noch stärker zwischen den künstlerischen Einzeldisziplinen zu vernetzen.
Durch die digitale Erweiterung analoger Lebenswelten und der Weiterentwicklung digitaler Techniken und KI, verlagern sich Aktivitäten und kulturelle Techniken zunehmend in digitale Kontexte, ohne das darüber reflektiert wird, ob dies in dieser Form tatsächlich wünschenswert ist. Möglicherweise ist das ein Grund, warum aktuell junge Bevölkerungsgruppen künstlerisch-ästhetisch mit der Schnittstelle analog-digital spielen, hier ästhetische Erfahrungen aus dem Digitalen ins Analoge und umgekehrt transformieren, wie beispielsweise bei den mittlerweile sehr bekannten „Escape Rooms“. Auch Künstler wie Aram Bartholl setzen sich mit diesen analog-digitalen Grenzerfahrungen auseinander. Kulturelle Bildung, im Sinne der Schulung unterschiedlicher Wahrnehmungsperspektiven, kann die aktuelle Suchbewegung junger Menschen zur künftigen Ausgestaltung analog-digitaler Lebenswelten aktiv begleiten.
Darüber hinaus bedarf es aber auch eines gesellschaftlichen Diskursraums, wie wir neue Technologien einsetzen wollen und welchen Interessen diese dienen sollten. Junge Menschen verbringen aktuell viel Zeit in digitalen Räumen. So beträgt bei den 16 bis 17-Jährigen die tägliche online-Verweildauer mittlerweile 243 Minuten (JIM Studie 2018: 32). In Anwaltschaft von Kindern und Jugendlichen sollten innerhalb der Kulturellen Bildung auch kritische Fragen diskutiert werden: Sollen beispielsweise Suchmaschinen als Straßenschilder des digitalen Raums zu Wissen und Teilhabe von Konzernen mit kommerziellen Interessen bereitgestellt werden? Oder bedarf es hier nicht öffentlich-rechtlicher Alternativen? Neben der kritischen Reflektion von Mechanismen digitaler kommerzialisierter Räume bedarf es zugleich Bildungskonzepte, die eine emanzipatorische Haltung von Kindern und Jugendlichen zu diesen Räumen fördern. Denn über technische Steuerungsmechanismen, z.B. Social Bots oder das Phänomen der Filter Bubbles, haben viele noch nie etwas gehört. Immerhin die Hälfte kennt Algorithmen. Allerdings sind unter jenen 14- bis 24-Jährigen nur wenige, jeweils knapp über oder unter 10 %, die diese Steuerungsmechanismen auch kritisch bewerten. Auch hier ergibt sich ein Aufgabenfeld für die Kulturelle Bildung, denn eine Änderung des analog-digitalen Raums bedarf nicht nur staatlicher Regulierung, sondern zugleich emanzipatorischer Anwender, die beispielsweise Open-Source-Programme nutzen oder das Bezahlen kommerzieller Anbieter mit den eigenen Daten bewusst vermeiden.
III. Fazit – Postdigitalität ist eine kulturelle Herausforderung
Die Gestaltung digitaler Lebenswelten ist nicht nur eine technische, sondern vor allem eine kulturelle Aufgabe und sie bedarf eines kulturellen Wandels innerhalb der Gesellschaft. Eine kulturelle Perspektive ist beispielsweise nicht die Frage: Was kann Technik? Sondern, was wollen wir, das Technik kann? Wie viele kulturelle Techniken wie Lesen, Sprachenlernen, Arbeiten etc. wollen wir »digitalisieren«? Und welche kulturellen Techniken möchten wir als Menschen im posthumanen Zeitalter beherrschen?