Künstlerische Interventionen – Erkenntnisse eines Pilotkurses zur Weiterbildung von Künstler*innen in der Kulturellen Bildung
Abstract
Dass die Künste besondere Potentiale haben, mit denen sie in verschiedenen gesellschaftlichen Kontexten intervenieren und dass sie dabei im besten Falle Veränderungen mit Bildungswirkung auf der individuellen wie der institutionellen Ebene auslösen können, wird immer wieder betont. Worin genau liegen die Potentiale der Künste für Kulturelle Bildung und unter welchen Bedingungen können künstlerische Prozesse in der Arbeit mit unterschiedlichen Gruppen wirksam werden? Mit welchen Strategien arbeiten Künstlerische Interventionen? Wie lassen sich Projekte der Kunst- und Kulturvermittlung mit der eigenen Arbeit als Künstler*in verbinden und mehr noch aus den eigenen künstlerischen Interessen heraus entwickeln?
In diesem Artikel soll genauer betrachtet werden, mit welchen Ansätzen die Künste wirken, vor allem in kulturellen Bildungskontexten, vor dem Hintergrund eines von der Autorin entwickelten und erprobten Pilotkurses für Künstler*innen in der Kulturellen Bildung, finanziert durch die Stiftung Mercator. Im Mittelpunkt des Kurses „Künstlerische Interventionen in der Kulturellen Bildung“, der inzwischen von anderen Organisationen in Bremen, Hessen und Niedersachsen übernommen und fortgeführt wird, standen die spezifischen Potentiale, die Künstler*innen in soziale und kulturelle Bildungskontexte einbringen können.
Pilotkurs „Künstlerische Interventionen in der Kulturellen Bildung"
Für diesen Pilotkurs, der von September 2021 bis Oktober 2022 vom Institut für Kulturpolitik der Universität Hildesheim in Kooperation mit der Bundesakademie für Kulturelle Bildung Wolfenbüttel durchgeführt wurde, haben sich 456 freischaffende Künstler*innen auf die 33 Plätze beworben, was die Relevanz einer solchen Fortbildung für die Zielgruppe zeigt. Fortbildungen für Kunstschaffende, die ihre Arbeit in soziale Kontexte erweitern wollen, erweisen sich auch deswegen als dringlich, weil in den Kunstakademien mehrheitlich Kulturvermittlung und Kulturelle Bildung noch immer nicht curricular verankert sind.
Die jeweilige künstlerische Expertise und die eigene künstlerische Position standen im Fokus des Kurses. Dabei ging es um die Frage, wie der eigene künstlerische Ansatz als Ausgangspunkt für die Zusammenarbeit sowohl mit Kindern und Jugendlichen als auch mit Erwachsenen in unterschiedlichen institutionellen Kontexten produktiv werden kann. Ziel war es also nicht, Künstler*innen zu Kunst- und Kulturvermittler*innen umzuschulen, sondern Vermittlungsprojekte als einen genuinen Bestandteil der künstlerischen Arbeit zu verstehen und daraus neue Anregungen für diese zu generieren. Zentral war die Frage, wie Künstler*innen unterstützt werden können, aus ihrer künstlerischen Arbeit heraus Verfahren zu entwickeln, die Räume für kulturelle Bildungsprozesse der jeweiligen Teilnehmer*innen ermöglichen, ohne die künstlerische Autonomie aufzugeben. Dafür steht auch der Begriff der „Künstlerischen Intervention“, der temporäre künstlerische Eingriffe in nicht-künstlerische Bereiche meint, oft verbunden mit dem Ziel, durch Irritation von Routinen Veränderungen bei Menschen und Organisationen anzuregen.
Kulturelle Bildung wird hier verstanden als (lebenslanger) Selbstbildungsprozess in Auseinandersetzung mit Kunst und Kultur, bei dem besondere ästhetische Differenzerfahrungen sinnlich und emotional erlebt werden. Die kognitive Reflexion dieser Erfahrungen kann zur Erweiterung eigener Perspektiven führen (vgl. Mandel 2016, Reinwand 2012).
Educational Turn in den Künsten und verändertes Künstler*innenbild
Dass Künstler*innen ihre Autonomie wahren und zugleich in die kulturell-vermittelnde Arbeit involviert sind, wurde mit dem „educational turn“ in den Künsten ab Mitte der 2000er Jahre postuliert. Die Vermittlung von Kunst, partizipatives Arbeiten und interventionistische Aktivitäten im öffentlichen Raum und in verschiedenen gesellschaftlichen Kontexten werden damit als genuiner Bestandteil künstlerischen Schaffens begriffen (vgl. u.a. Lacy 2016). Der Fokus verschiebt sich dabei von der objektzentrierten Produktion von Werken der Kunst auf die künstlerischen und vermittelnden Prozesse sowie auf die Verwendung diskursiver, vermittelnder Methoden und beteiligungsorientierter Verfahren (vgl. Bishop 2012). Die Grenzen zwischen Kunst und Vermittlung werden fließend, wenn gemeinsam mit Laien und „Expert*innen des Alltags“ zu aktuellen Fragen geforscht wird, wenn etwa Künstler*innen zusammen mit Schüler*innen neue Räume in Schule und Ansatzpunkte für kulturelle Schulentwicklung erkunden, wenn Künstler*innen mit Bürger*innen Ideen für die Stadtentwicklung erproben oder mit künstlerischen Aktionen in politische Kontexte intervenieren.
Künstlerische, kunstvermittelnde, kulturpädagogische und kulturmanageriale Arbeit, häufig mit Bezug zu sozialen und gesellschaftspolitischen Aktivitäten, gehen hier ineinander über und entsprechen dem Rollenmodell des „postheroischen Künstlers“ (van den Berg 2007).
Dieses unterscheidet sich deutlich vom traditionellen Künstler*innen-Bild des einsamen Genies, des Künstlers als Außenseiter, wie es v.a. in den Bildenden Künsten vorherrscht (Krieger 2007). Individualität, Originalität, Autonomie und der Anspruch der auch wirtschaftlichen Unabhängigkeit zeichnen das traditionelle Künstler*innenbild ebenso aus wie Exklusivität, Distinktion und die Abgrenzung von Alltäglichkeit und Zweckmäßigkeit (Stutz 2019:31).
Wenn Künstler*innen ihre Arbeit in kulturelle Bildungskontexte erweitern, müssen sie also auch ihr angestammtes Feld mit seinen impliziten Normen verlassen und sich auf neue Weise mit ihrer künstlerischen Rolle auseinandersetzen.
Dass die künstlerische Arbeit speziell in Bildungskontexten noch immer nicht als gleichwertig zum autonomen Kunstschaffen anerkannt ist, zeigt sich u.a. an einer Studie des BBK, in der der gesamte Bereich der Vermittlung unter „künstlerischer Lehre versteckt“ wird, die de facto nur von einem kleinen Anteil vorwiegend männlicher Künstler angegeben wurde, während 85 % der befragten Künstler*innen in Schulen, Kitas und Kunstschulen Projekte anbieten (BBK/Priller 2020).
Zugleich zeigen solche Studien, dass schon jetzt viele Künstler*innen ihre Arbeit in soziale Kontexte ausweiten: Projekte mit vielfältigen Teilnehmenden in Schulen, in der Stadtteilkulturarbeit, in soziokulturellen Zentren realisieren, auch wenn sich das in den Curricula der Kunsthochschulen in Deutschland noch nicht widerspiegelt. Insgesamt lässt sich feststellen, dass sich Kunstschaffende in der Kulturellen Bildung in einem stetigen Prozess ihrer beruflichen Selbstpositionierung befinden.
Die Befragung der teilnehmenden Künstler*innen des Pilotkurses zeigte, dass sich eine deutliche Mehrheit zwar klar als Künstler*in positioniert und deutlich weniger als Kulturvermittler*in oder Kulturpädagog*in. Zugleich sagten viele, dass sie in der Regel in der Außendarstellung unterschiedliche Selbstbezeichnungen verwenden je nach Auftraggeber*in. Für die große Mehrheit (80 %) lassen sich aber die eigenen künstlerischen Interessen mit der Arbeit in kulturellen Bildungsprojekten sehr gut (56 %) oder gut (24 %) verbinden, für 16 % weniger gut und für 4 % gar nicht. Als größte Herausforderung für die künstlerisch-vermittelnde Arbeit werden der hohe bürokratische Aufwand bei der immer neuen Antragstellung für Projekte und eine fehlende kontinuierliche Förderung wahrgenommen (Mandel 2022).
Potentiale der Künste für Prozesse Kultureller Bildung
Die Künste können für Lernerfahrungen und Bildungsprozesse eine wesentliche Bedeutung haben. Die Art und Weise wahrzunehmen, wird durch den Gegenstand der Wahrnehmung selbst geformt. So kann die Beschäftigung mit Kunst dazu beitragen, sinnlich-ästhetische Wahrnehmung auszudifferenzieren, genauer hinzusehen, hinzuzuhören, eigenes Erleben genau zu beschreiben und zu reflektieren (vgl. Liebau/Zirfas 2008:12f.).
Die Künste ermöglichen ein spielerisches und zweckfreies Probehandeln in einem Freiraum, mehr noch können sie utopische Räume schaffen, die zeigen, dass alles auch ganz anders sein könnte. Erfahrungen von Emergenz mit dem Auftauchen unerwarteter Möglichkeiten sowie Erfahrungen von Ganzheit sind in künstlerischen Gestaltungsprozessen angelegt (vgl. u.a. Westphal 2014).
In den Künsten gibt es nicht die eine richtige Lösung, Kunst ist immer mehrdeutig, interpretationsoffen und auch Widersprüche und scheinbar unvereinbare Positionen lassen sich in den Künsten aushalten. Das macht sie so wertvoll in zunehmend auseinanderdriftenden Gesellschaften, in denen viele sich nur noch in voneinander abgeschotteten Gruppen bewegen und oft kein Verständnis mehr für andere Positionen aufbringen können. Eigene Erfahrungen in künstlerischen Prozessen können insofern auch dazu beitragen, andere Perspektiven als interessant und bereichernd wahrzunehmen.
Verfahrensweisen und Qualitätsmerkmale Künstlerischer Interventionen
Der Begriff der „Künstlerischen Intervention“ fokussiert die Stärke der Künste, sich nicht anzupassen an gängige Arbeitsweisen, bekannte Muster und Konventionen und gerade deswegen Wirkung zu entfalten.
Im Kunstkontext werden unter „Künstlerischen Interventionen“ meist bestimmte Formen von Kunst im öffentlichen Raum (sowohl Installationen als auch temporäre Aktionen und projektorientierte Ansätze) sowie informelle und subversive künstlerische Strategien (wie Graffiti und Street Art) verstanden. Künstlerische Interventionen sind meistens temporär, situations- und kontextabhängig. Ihre Ziele reichen von Störungen und Irritationen bis hin zum Willen nach Veränderung (Borries et al. 2012).
„Intervention meint im Kontext künstlerischen Handelns Arbeitsweisen, die aus gesellschaftlichen Subsystemen stammen, um, zunächst abseits von den gesellschaftlich geübten gängigen Kriterien der Kunstbetrachtung/-erfahrung agierend, zu überraschen, zu irritieren und Wahrnehmung zu sensibilisieren.“ (John 2003)
Der Begriff der „Künstlerischen Intervention“ scheint deswegen für Arbeiten in der Kulturellen Bildung geeignet, weil er Freiraum für die nicht vorhersehbare, besondere Qualität der Künste in ihrer Ganzheit ermöglicht und diese für Bildungsprozesse öffnet. Durch temporäre und überraschende künstlerische Eingriffe in ein anderes System können ästhetische Differenzerfahrungen ermöglicht werden, die neue Perspektiven schaffen und dadurch auch Veränderungen initiieren.
„Eine künstlerische Intervention im sozialen und physischen Kontext einer Organisation regt dazu an Routinen zu durchbrechen und Einstellungen zu verändern. Sie schafft einen Raum, in dem neue Formen des Sehens, Denkens und Handelns erprobt werden können.“ (Berthoin Antal 2019:2)
Im Kontext von Kultureller Bildung und Kulturpädagogik bedeutet der Begriff der „Künstlerischen Intervention“, dass eine künstlerische Aktion zunächst ohne gezielte Bildungsabsicht und eher im Sinne einer Störung und ästhetischen Irritation eingesetzt wird. Die Wirkungen sind nicht direkt planbar. Auch weist der Begriff darauf hin, dass es eher um temporäre Eingriffe in ein bestehendes System geht und nicht um ein kontinuierliches Andocken.
Künstlerischen Interventionen wirken, weil sie überraschen, weil sie außeralltäglich sind, weil sie sich nicht anpassen an einen bestehenden Kontext. Künstlerische Interventionen können irritieren, verärgern, Proteste und in der Folge auch individuelle oder gesellschaftliche und politische Veränderungen auslösen. Oder sie können auch einfach nur als langweilig oder unverständlich übersehen werden.
Unter welchen Bedingungen können Künstlerischen Interventionen in kulturellen Bildungsprozessen besondere ästhetische Erfahrungen auslösen und mehr noch nachhaltig sein? Welche Eigenschaften machen die Wirkung einer Künstlerischen Intervention aus?
Nana Eger identifiziert in ihrer Analyse der künstlerischen Praxis in verschiedenen Kontexten Kultureller Bildung mit Gruppen u.a. folgende Dimensionen für das Gelingen Künstlersicher Interventionen:
- „Begin with the Body“ – die hohe Bedeutung der ästhetischen, leiblich-sinnlichen Wahrnehmung;
- „Sparkling Moments“ – inspirieren, irritieren, involvieren – überraschende, außergewöhnliche ästhetische Momente und Erfahrungen schaffen;
- „Learning by noticing, experiencing and doing!“ – selbst handelnd lernen und gestalten in projektbasierten Formaten;
- „In Loops and Spirals“ – künstlerische Prozesse mit ihren Suchbewegungen und Widerständigkeiten erfahrbar machen und dabei auch mit Überforderungen arbeiten;
- Diversity – bewusstes Arbeiten mit pluralen Perspektiven der verschiedenen Teilnehmenden und diese als Expert*innen in eigener Sache ernst nehmen;
- „Aware and Awake“ – die hohe Bedeutung der Künstler*innen-Persönlichkeit einbringen, die in Bildungsprozessen für persönliche Glaubwürdigkeit und Authentizität stehe sowie
- Bereitschaft der Künstler*innen, sich selbst als Lernende auf Neues einzulassen, eigene Vorannahmen zu hinterfragen und präzise wahrzunehmen und die richtige Mischung aus genauer Planung und hoher Flexibilität für den Prozess (Eger 2015:100-114):
In einer Studie zu Künstlerischen Interventionen in Betrieben kommt Ariane Berthoin Antal zu dem Fazit: „Jede künstlerische Intervention ist einzigartig. Es gibt keinen standardisierten Ablauf.“ Dennoch identifiziert sie bestimmte Verfahren, die in der Regel mit einer künstlerischen Recherche des fremden Kontextes, in den interveniert werden soll, starten:
„Dieser Ablauf beinhaltet zu Beginn eine intensive Recherchephase, in der die Künstler*innen den „fremden“ Kontext der Organisation erkunden. Der physische und der soziale Raum mit seiner eigenen Sprache, seinen eigenen Werten, Regeln, Tabus, Routinen und Objekten liefert das Material, auf das die Künstler*innen mit ihren künstlerischen Praktiken reagieren.“ (Berthoin Antal 2019:3)
Ein zentrales Merkmal von Künstlerischen Interventionen sei, „dass sie einen „Interspace“ öffnen. In diesem Zwischenraum sind die üblichen, in der Kultur der Organisation verankerten Normen zeitweise aufgehoben. Der temporär geschaffene Interspace ermöglicht es Mitarbeiter*innen, sich mit Ideen, Materialien und mit ihren Kolleg*innen auf eine neue, spielerische, provokative, ernsthafte, kreative oder humorvolle Weise auseinanderzusetzen. Künstler*innen können die Teilnehmer*innen in den „Interspace“ einladen, damit sie körperlich-sinnliche Arten des Wissens aktivieren, statt ausschließlich auf kognitive Art und Weise zu lernen. (...) Indem die Teilnehmer*innen angeregt werden, Routinen infrage zu stellen, haben künstlerische Interventionen das Potenzial, festgefahrene Denkmuster aufzulösen und Handlungsoptionen zu erweitern.“ (Berthoin Antal 2019:3f.)
Darüber hinaus identifiziert die Autorin folgende drei Prinzipien Künstlerischer Interventionen:
„Die Art, wie Fragen mit Handeln verbunden werden, wie Nichtwissen produktiv wird und wie Reaktionen aller Art als eine Energiequelle gesehen werden. (...)
1. Künstler*innen überwinden die Dualität (von Analysieren und Handeln), indem sie Ausprobieren, Reflektieren und Konzeptualisieren miteinander verflechten. (...)
2. Sie beurteilen Nichtwissen positiv, weil es die Entstehung von etwas Neuem ermöglicht.
3. Während Widerstand in Organisationen üblicherweise als problematisch angesehen wird, neigen Künstler*innen dazu, Widerstand als ein Zeichen dafür zu sehen, dass eine Energiequelle vorhanden ist, die sie sich als Ressource zunutze machen können.“ (Berthoin Antal 2019:4)
Damit sich die Teilnehmenden auf die neuen, als fremd wahrgenommenen Handlungsweisen einlassen, die Künstler*innen in eine Organisation einbringen, müssten diese zugleich einen „sicheren Rahmen“ für die Teilnehmenden und auf der menschlichen Ebene Vertrauen schaffen (Berthoin Antal 2019:6).
Eine weitere Erkenntnis ihrer Analyse der Wirkungen von Künstlerischen Interventionen war, dass Künstler*innen nicht per se kreativ sind, dass sie aber das „individuelle und kollektive – kreative Potenzial freisetzen können, das in einer Organisation bzw. ihren Mitgliedern vorhanden ist“ (Berthoin Antal 2019:4).
Die Analyse zeigt, dass es die kollektive Auseinandersetzung mit dem Erlebten in der Gruppe der Mitarbeitenden oder Teilnehmenden ist, die dafür sorgt, dass eine Künstlerische Intervention nachhaltig wirkt:
„Die fortgesetzten Gespräche sorgen dafür, dass die während der Intervention gewonnene Einsicht im Bewusstsein bleibt: nämlich, dass die Organisation fähig war, etwas Neues zu schaffen.“ (Berthoin Antal 2019:7)
Lernen finde dann statt, wenn es eine Reflexion und Auswertung des gemeinsam Erlebten gibt, und Organisationen könnten sich nur dann verändern, wenn die Menschen in ihnen sich verändern (vgl.:ebd.).
Aus Sicht der von Berthoin Antal befragten Künstler*innen bestand ein zentraler Gewinn für sie darin, dass „ihre Kompetenzen außerhalb der Kunstwelt Bestätigung fanden. Zudem gewannen sie eine neue Sicht auf ihre eigene Arbeitsweise und Erkenntnisse, die sie dann wieder in ihre Kunstpraktiken einfließen lassen konnten. In einigen Fällen entwickelten Künstler*innen neue Techniken, weil sie Zugang zu speziellen Materialien und Technologien hatten.“ (Berthoin Antal 2019:6) Aus Sicht der teilnehmenden Teams in den Betrieben waren es die neuen Perspektiven auf ihren (Arbeits-)Alltag und die neuen Handlungsmöglichkeiten, die sie bereicherten.
In einer Befragung der Künstler*innen des Pilotkurses „Künstlerische Interventionen in der Kulturellen Bildung“ sprechen sich diese klar gegen Standardisierung von Methoden für die Arbeit mit Gruppen aus, nennen aber gleichwohl eine Vielzahl von Strategien und Methoden, die sie in ihren Projekten einsetzen:
- Strategien der räumlichen ästhetischen Gestaltung, die vor allem den Einsatz und das Inszenieren von anregenden Räumen und Materialien sowie das Schaffen einer Ateliersituation umfassen, die sich deutlich von den Alltagsräumen der Teilnehmenden unterscheidet.
- Strategien der Partizipation beinhalten die Entwicklung gemeinsamer Themen in Zusammenarbeit mit der Gruppe und das gemeinsame ästhetische Tun. Hierzu seien auch gemeinsame Rituale und Gesprächsräume und eine bestimmte Kommunikationsstruktur zu etablieren, in die alle ihre Interessen und Fähigkeiten einbringen können.
- Den gemeinsamen Arbeitsraum diversitäts- und diskriminierungssensibel als sicheren Ort zu gestalten, in dem alle auch persönliche und emotionale Themen teilen können, sei eine weitere zentrale Strategie für gelingende Prozesse. Um eine positive Gruppendynamik zu entwickeln, müsse vor allem am Anfang viel Zeit für spielerische Übungen zum gegenseitigen Kennenlernen eingeplant und den Teilnehmenden Raum für persönlichen Austausch gegeben werden.
- Mit Strategien der prozessoffenen Projektkonzeption werden Projekte flexibel mit der Gruppe entwickelt entsprechend der entstehenden Dynamiken, neuen Ideen und Bedürfnisse.
- Zur differenzierten und wertfreien Beobachtung und Reflexion der in der Gruppe entstandenen ästhetischen Produktionen anzuregen ist eine weitere zentrale Strategie, die von fast allen genannt wird.
Der Begriff der Künstlerischen Intervention wird von den Künstler*innen des Pilotkurses mehrheitlich als adäquat und passend begriffen für die eigenen künstlerischen Strategien in sozialen Kontexten (Mandel 2022).
Es lässt sich also festhalten: Künstlerische Interventionen können besondere ästhetische Differenzerfahrungen durch ihre Überraschungsmomente in Verbindung mit sinnlich-körperlicher Wahrnehmung auslösen. Nachhaltige kulturelle Bildungserfahrungen können dann entstehen, wenn die Erfahrungen im Kontext des künstlerischen Ereignisses bewusst reflektiert werden und Erkenntnisse daraus im Alltag weiterwirken.
Neben den durch überraschende Wirkungen ausgelösten Erfahrungen in Künstlerischen Interventionen, kann künstlerisches Arbeiten auch in kontinuierlichen sozialen Kontexten bildungswirksam sein, indem sich verschiedene Systeme und Lebenswelten annähern und voneinander lernen. Dies zeigt sich etwa am Beispiel der künstlerisch-sozialen Arbeit der Bremer Kammerphilharmonie, die seit vielen Jahren in einer „Wohngemeinschaft“ mit einer Bremer Gesamtschule in einem als prekär geltenden Stadtbezirk zusammenwirken. Von dieser langfristigen Partnerschaft profitieren das kulturelle Leben der Schule genauso wie das des Orchesters und das kulturelle Leben im Stadtteil mit seinen vielfältigen einbezogenen Initiativen und Menschen. Wie die Künste kontinuierlich in nicht-künstlerischen Kontexten wirken können, zeigt auch das Beispiel des „Fliegenden Künstlerzimmers“ der Crespo Foundation in Hessen, wo Künstler*innen unterschiedlicher Genres ein Jahr lang auf dem Schulgeländer gemeinsam mit Schüler*innen und Lehrer*innen zusammenarbeiten. Beide Organisationen waren Partner des Pilotkurses, vermittelten ihre Erfahrungen an die Künstler*innen und ermöglichten diesen mit ihnen ein gemeinsames Praxisprojekt zu realisieren.
Zentrale Erkenntnisse des Pilotkurses und Konsequenzen für die Weiterqualifizierung von Künstler*innen in der Kulturellen Bildung
Die Arbeit am Pilotkurs hat verdeutlicht, dass Künstler*innen spezifische Interessen und Herangehensweisen an Arbeiten in sozialen und Bildungskontexten haben und dass eine Weiterbildung dezidiert auf diese eingehen muss. Deutlich wurde, dass Weiterbildungen für Künstler*innen nur dann sinnvoll sind, wenn sie bei deren besonderen Bedarfen ansetzen und nicht für sie, sondern mit ihnen gemeinsam gestaltet werden. Dazu gehörte im Pilotkurs auch die Einbindung ästhetisch-künstlerischer Verfahren in den Kurs selbst mit gemeinsamer Praxis: zum Start jedes Kurs-Tages, jeweils von einer/einem der Künstler*innen angeleitet, die von den Teilnehmenden rückblickend als besonders bereichernd empfunden wurde. (Sämtliche Materialien und Methoden des Kurses sind für zukünftige Weiterbildungen abrufbar unter https://kuenstlerische-interventionen.de/)
Als Qualitätsmerkmal für Dozierende des Kurses wurden künstlerische Expertise und eigene Erfahrungen in der künstlerisch vermittelnden Arbeit als zentral genannt.
Zentrale Erwartung an den Kurs war der Austausch und die Vernetzung untereinander – das ist die übereinstimmende Aussage in der Befragung der teilnehmenden Künstler*innen. Es ging den meisten weniger darum, bestimmte Kenntnisse über Kulturelle Bildung zu erlangen, als vielmehr Erfahrungen als Künstler*in in kulturellen Bildungskontexten auszutauschen, sich in gut moderierten Foren über die eigenen Ansätze, Positionen und Arbeitsweisen klar zu werden, lernen diese zu benennen und daraus konkrete Handlungsstrategien in unterschiedlichen Kontexten Kultureller Bildung entwickeln zu können. Als wertvollster Impuls des Kurses wurde abschließend der kollegiale Erfahrungs-Austausch mit den anderen Teilnehmenden zu künstlerischen Strategien, Methoden, aber auch zu Förder- und Akquise-Strategien wahrgenommen.
Weiterbildungen tragen auch dazu bei, dass sich Künstler*innen ihrer Stärken und gesellschaftlichen Relevanz stärker bewusstwerden und dass sie sich vernetzen und politisch engagieren, um ihre Arbeitsbedingungen zu verbessern. So ging aus dem Pilotkurs auch die Gründung eines Fachverbands für Künstler*innen in der Kulturellen Bildung hervor als Untersektion des Bundesverbands der Kulturagent*innen.
Die teilnehmenden Künstler*innen sind auf einer eigenen Website mit ihren Profilen präsent und für unterschiedlicher Auftraggeber*innen auffindbar.
Die besondere Expertise von Künstler*innen wird dringend gebraucht in der Kulturellen Bildung und in anderen gesellschaftlichen Kontexten. Doch nur, wenn es dafür auch gute Bedingungen gibt – wie faire Bezahlung, deutliche Reduktion bürokratischer und administrativer Hürden bei Anträgen und Projektmitteln, längerfristige Aufträge an Künstler*innen und Freiraum für experimentelles Arbeiten –, werden sich mehr Kunstschaffende in diesen Feldern engagieren.
Dass die Künste gerade in ihrer Andersartigkeit im Vergleich zu den alltäglichen Handlungsweisen etwa in Schulen oder Betrieben wirken, kann Künstler*innen darin bestärken, ihren spezifischen künstlerischen Ansatz in der Zusammenarbeit mit Organisationen und Teilnehmenden stark zu machen und sich selbstbewusst als Künstler*in, die/der in sozialen Kontexten interveniert zu positionieren.
Künstler*innen anzuregen, Kulturelle Bildung konsequent von Kunst aus zu denken und zugleich Interesse an und Verständnis für die Logik anderer Institutionen und Lebenswelten zu entwickeln, kann ein Beitrag dafür sein, Kunst über Kunst hinaus wirksam zu machen. Ganz im Sinn des Ansatzes des Künstler- und Stadtentwicklungs-Netzwerks Spacewalk aus Wolfsburg: „It takes art to make life more important than art.“