Konzerthäuser und Orchester als Orte Kultureller Bildung
Die Diskussion zur Bedeutung der Kulturellen Bildung hat innerhalb weniger Jahre eine beachtliche Breite und Nachhaltigkeit gewonnen, die alle Kulturbereiche und -institutionen in Deutschland erfasst. Für die Konzerthäuser, Orchester und Rundfunkensembles muss aber zunächst ganz klar festgehalten werden, dass sie in erster Linie Kulturinstitutionen und keine Bildungseinrichtungen sind. Denn Bildung ist nicht ihr Kernauftrag. Sie reproduzieren vielmehr in Spielzeiten (und nicht in Lehrpläne) gegliedert den Kanon der abendländischen Musikkultur mit einem Kernrepertoire vom 18. bis zum 20. Jh. Das wesentliche Personal dieser Einrichtungen besteht aus KünstlerInnen, nicht aus PädagogInnen. Auch werden sie aus dem Kulturetat (bzw. aus Rundfunkgebühren), nicht aber aus dem Bildungsetat finanziert.
Historische Entwicklung
Ungeachtet dieser durchaus bedeutenden formalen Aspekte hat sich die inhaltliche Ausrichtung und Angebotsstruktur der Konzerthäuser, Orchester und Rundfunkensembles seit Beginn des 21. Jh.s dennoch signifikant verändert. Ein Widerspruch? Nur auf den ersten Blick. Denn historisch entstanden die ersten deutschen Hofkapellen im frühen 16. Jh., um dem Potentaten bei Jagd, beim Militär, bei Fest und feierlicher Repräsentation zu dienen. Die Entwicklung der Kunstformen Oper und Konzert mit all ihren Ausprägungen bis hin zur bürgerlichen Emanzipation seit dem 17. Jh. war ebenso Ursache wie Wirkung eines sich rasch entwickelnden kulturellen Lebens, dessen Vielfalt und Einzigartigkeit Deutschland bis heute prägt: Über 130 öffentlich finanzierte Kulturorchester und mehrere große Konzerthäuser, unter anderem in Hamburg, Essen, Dortmund, Köln, Leipzig oder Berlin, bieten im Jahr mehrere tausend Konzerte in einer immer weiter ausdifferenzierten Vielfalt von Konzert- und Veranstaltungsformaten an.
Neues Selbstverständnis durch Legitimationsdruck
Auf den zweiten Blick hat das Selbstverständnis von Orchestern und Konzerthäusern einen durchgreifenden Wandel durchgemacht. Es geht längst nicht mehr um das bloße Durchführen von Musikveranstaltungen. Es geht immer mehr um Audience Development, um die Gewinnung neuer und langfristige Bindung bereits bestehender Publikumsgruppen (siehe Birgit Mandel „Kulturvermittlung, Kulturmanagement und Audience Development als Strategien für Kulturelle Bildung“). Die Kombination von Marketing und Audience Development im Sinne totaler Besucherorientierung wird neuerdings auch als Audiencing bezeichnet (Mertens 2010:60).
Hiermit sind verschiedene weitere Aspekte verbunden:
1. Orchester und Konzerthäuser werden in Deutschland ganz überwiegend öffentlich finanziert. Bei knapper werdenden öffentlichen Mitteln werden Verteilungskämpfe mit anderen Ressorts härter. Der entsprechende Legitimationsdruck für die Kultureinrichtungen ist seit Anfang der 1990er Jahre kontinuierlich gestiegen.
2. Diesem Druck begegnen die Institutionen idealtypisch mit möglichst hohen und stabilen Besucher- und Auslastungszahlen und einem möglichst hohen Eigenerwirtschaftungsgrad.
3. Orchester und Konzerthäuser versuchen verstärkt, ihre gesellschaftliche Relevanz unter Beweis zu stellen. Sie verstehen sich nicht mehr nur als Einrichtungen der sogenannten „Hochkultur“, sondern auch als Orte Kultureller Bildung. Durch diese Erweiterung des Selbstverständnisses erhoffen sie sich in der Öffentlichkeit eine breitere Wahrnehmung und Akzeptanz sowie in den regelmäßig wiederkehrenden Haushaltsdebatten eine bessere Positionierung.
Vorbilder aus den USA und Großbritannien
Kulturelle Bildung firmiert bei Orchestern, Opern- und Konzerthäusern heute unter den Begriffen Theater- bzw. Konzertpädagogik, Musikvermittlung oder „Education“. Projektnamen wie z.B. „Zukunft@BPhil“ (Berliner Philharmoniker), „Listen to our future“ (Deutsche Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz) oder „freakquenzy“ (Dresdner Philharmonie) verwenden oftmals nicht nur Anglizismen, sondern weisen damit auch auf die Vorreiter hin. Die nordamerikanischen Orchester begannen bereits in den 1950er, die britischen etwa ab den 1970er Jahren mit Education- und Outreachprojekten, vor allem für Kinder und Jugendliche. Die Fernsehliveübertragungen der „Young People‘s Concerts“ mit Leonard Bernstein und den New Yorker Philharmonikern Mitte der 1950er Jahre gelten als legendär und setzten erste Maßstäbe für moderierte Konzerte.
Impulse für Deutschland
In Deutschland gab es seit den 1950er Jahren eher vereinzelt und längst nicht flächendeckend Schüler- oder Jugendkonzerte von Orchestern (Keuchel/Weil 2010:25). Ab dem Jahr 2000 bekam die Musikvermittlung in Deutschland als Teilbereich der Kulturellen Bildung wesentliche Impulse durch das mehrjährige Projekt der Jeunesses Musicales mit dem Titel „Konzerte für Kinder“, welches seit 2007 im netzwerk junge ohren aufgegangen ist. Für viele Orchester und Konzerthäuser gaben auch seit 2002 der Aufbau der Education-Abteilung der Berliner Philharmoniker mit dem Amtsantritt von Chefdirigent Sir Simon Rattle und das verfilmte Tanzprojekt „Rhythm is it!“ mit Choreograf Royston Maldoom entscheidende Impulse (Schulze Steinen 2011:30). Es gibt heute kaum mehr ein deutsches Konzertorchester, das nicht über ein eigenes Musikvermittlungsprogramm verfügt. Bei Opernorchestern gilt dies mit gewissen Einschränkungen, da dort die Theaterpädagogik eine größere Rolle spielt, die das Orchester immer nur am Rande berücksichtigt. Für die Konzerthäuser wiederum sind eigene Education-Aktivitäten inzwischen ebenfalls allgemeiner Standard. Auch die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten mit eigenen Klangkörpern haben ihre Musikvermittlungsaktivitäten in den letzten Jahren stark ausgebaut.
Nur ausnahmsweise wurden für diese neuen Aktivitäten auch neue Personalstellen z.B. für KonzertpädagogInnen und MusikvermittlerInnen bzw. Sachkostenbudgets geschaffen. Vereinzelt werden die Programme über Sponsoren finanziert (z.B. die Deutsche Bank bei den Berliner Philharmonikern). Ganz überwiegend jedoch erfolgt die Finanzierung aus den laufenden Etats der Konzerthäuser und Orchester sowie unter hohem, teilweise ehrenamtlichem Einsatz einzelner, besonders engagierter Orchester- und Ensemblemitglieder. Gerade bei den Orchestern spielen die MusikerInnen in der Musikvermittlung die Hauptrolle, während die Vermittlungsarbeit bei anderen Kultureinrichtungen eher von pädagogischen Fachkräften übernommen wird (Keuchel/Weil 2010:87).
Angebotserweiterungen und Publikumssegmentation
Betrachtet man die erweiterte und immer mehr professionalisierte Angebotserweiterung der Orchester und Konzerthäuser näher, fällt auf, dass es gerade in der Musikvermittlung zu einer letztlich sinnvollen und ausdifferenzierten Publikumssegmentation gekommen ist. Systematisch sind hierbei im Wesentlichen drei Bereiche zu differenzieren:
1. Erweiterte Konzert- und Veranstaltungsformate,
2. Neue Projekt- und Workshopformate,
3. Outreach-Aktivitäten.
Bei den erweiterten Konzert- und Angebotsformaten reicht die Palette von „Konzerten für Schwangere und Stillende“ (Deutsche Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz), Konzerten für Kleinkinder, für Kindergarten und Vorschulkinder, „Sitzkissenkonzerten“ (z.B. NDR Radiophilharmonie), über das „musikspielzimmer“ – Konzerten für Eltern mit Kinderbetreuung (Dresdner Philharmonie) bis hin zu moderierten Kinder-, Schüler- und Jugendkonzerten. Unter die zweite Kategorie neuer Projekt- und Workshopformate fallen Educationprojekte und Workshops mit Kindern, Jugendlichen, Behinderten, MigrantInnen oder alten Menschen, die neben der Musik spartenübergreifend meist auch Tanz, Bewegung, szenisches Spiel, Malerei, bildende Kunst, Film oder visual arts einbeziehen. Die dritte Kategorie (Outreach-Aktivitäten) umfasst vor allem kleinformatige Aktivitäten in Schulen, Kindergärten, Jugendclubs, z.B. MusikerInnen im Klassenzimmer oder „Rhapsody in School“ (Gesangs- und Instrumentalsolisten in Schulen). Vor allem zwischen den letzten beiden Kategorien kommt es in der Regel zu Überschneidungen.
Unter dem Aspekt der Partizipation wurde in der Studie „Lernorte oder Kulturtempel“ im Jahr 2010 ermittelt, dass 52 % der Vermittlungsangebote der Orchester nur rezeptiv (also reine Konzertformate) waren. 17 % der Angebote waren nur künstlerisch-kreativ (z.B. experimentelle Workshops) und 31 % waren sowohl rezeptiv als auch künstlerisch-kreativ (Keuchel/Weil 2010:83).
Lückenhafte quantitative Besucherdokumentation
Quantitativ werden die durch die wachsende Vielzahl der Musikvermittlungsaktivitäten zusätzlich erreichten BesucherInnen leider bislang nicht flächendeckend erfasst. Die bloße Zählung von Eintrittskarten lässt z.B. die BesucherInnen kostenloser Workshops oder von Outreach-Aktivitäten in Schulen oder Kindergärten außer Acht. Nach einer Meldung des Norddeutschen Rundfunks vom Mai 2011 hatten das Sinfonieorchester, die Radiophilharmonie, der Chor und die Bigband des NDR mit ihren Education-Angeboten in der Spielzeit 2010/11 fast 45.000 Kinder, Jugendliche und Eltern erreicht. In zahlreichen Musikvermittlungsprogrammen wurde dem Publikum die Musik der NDR-Klangkörper nahegebracht. Kinder und Jugendliche wurden nicht selten erstmals überhaupt mit Klassik in Berührung gebracht (NDR-Pressemeldung 6.5.2011).
Weiter steigende Zahl von Musikvermittlungsangeboten
Die zuletzt verfügbare Konzertstatistik der Deutschen Orchestervereinigung hat für die Spielzeit 2009/2010 eine leichte Steigerung der Gesamtzahl aller angebotenen Konzerte in den zwei zurückliegenden Spielzeiten um 1 % auf 12.847 Veranstaltungen verzeichnet. Im Bereich der Sinfonie- und Chorkonzerte war hingegen ein Rückgang um 2 % auf 5.902 Veranstaltungen festzustellen, der insbesondere auf den Einbruch im Auslandsgeschäft zurückzuführen ist. Besonders positiv verlief jedoch die Entwicklung bei den Musikvermittlungsangeboten der Orchester und Rundfunkklangkörper, wo es mit gut 2 % eine erneute Zunahme auf insgesamt 4.069 Veranstaltungen gab. In der Konzertstatistik erfasst sind die Veranstaltungen aller 133 öffentlich finanzierten Kulturorchester sowie der sieben Rundfunkchöre und vier Rundfunk Big Bands. Nicht berücksichtigt sind die Musikvermittlungsaktivitäten der Konzerthäuser ohne eigenes Orchester oder durch Fremdanbieter.
Veränderte Wahrnehmung durch Kulturelle Bildung
Bemerkenswert ist, wie die Verstärkung der Musikvermittlungsangebote der Orchester und Konzerthäuser in den vergangenen Jahren ganz offenbar zu einer veränderten Wahrnehmung in der Bevölkerung geführt hat. Im 9. KulturBarometer des Zentrums für Kulturforschung vom September 2011 wurde als wichtigste Aufgabe für die Orchester genannt, Kinder und Jugendliche für Musik und das musikalische Erbe zu begeistern. Die musikalische Unterhaltung oder die Arbeit von Orchestern in sozialen Brennpunkten waren vergleichsweise weniger bedeutend (Keuchel 2011a:35).
Ausblick, Perspektiven und Herausforderungen
Die Bedeutung der Kulturellen Bildung durch Orchester und Konzerthäuser wird noch weiter zunehmen. Der Rückgang der musikalischen Breitenbildung durch die fortschreitende Einschränkung des Musikunterrichts an den allgemein bildenden Schulen kann dadurch nicht aufgefangen werden. Dies ist und bleibt eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. In ihrem unmittelbaren Einzugsbereich können und müssen Orchester und Konzerthäuser jedoch langfristig auf Publikums-„Bildung“ setzen. Dies wird den Ausbau der Professionalisierung in der Musikvermittlung durch Schaffung neuer Stellen und Ausbildungsgänge beschleunigen.