Konzeptionen und Empfehlungen Kultureller Bildung

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von Peter Kamp

Erscheinungsjahr: 2013/2012

Zur Erfolgsgeschichte Kultureller Bildung gehören auch und ganz maßgeblich strategische Selbstinszenierung und intelligentes Marketing. Sicherlich wurden große Abschnitte dieser Geschichte von den Akteuren selbst aufgeschrieben, mit allen Chancen (der Begeisterung) und Risiken (der perspektivischen Täuschung). Richtig ist aber auch, dass sich im Zusammenwirken von Freien Trägern und dem Staat fast immer Entwicklungspartner gesucht und gefunden haben, die gemeinsam darauf hinwirkten, dass die gute Idee zu Geld kam und umgekehrt.

Wann der stete Tropfen den Stein höhlt oder das dicke Brett durchbohrt ist, ist immer schwer vorherzusagen. Daher wird die Geschichte hier auch nicht ab ovo, sondern vom Ende her erzählt. Aber dass Politik für Kulturelle Bildung originärer Übersetzungsleistungen, stabiler Partnerschaften und strategischer Allianzen bedarf, lässt sich an den Konzeptionen und Empfehlungen zur Kulturellen Bildung schlaglichtartig beleuchten. In allen relevanten Ministerien und Politikfeldern hat es immer (nicht selten streitbare) PartnerInnen gegeben, die am Übersetzungserfolg genau so interessiert waren wie die IdealistInnen vom Fach. Unter dieser Prämisse und bezogen auf das letzte halbe Jahrhundert drängen sich fünf Entwick­lungsbaustellen geradezu auf.

1. „Kultur-Kompass für Deutschland“: Der Enquete-Bericht

„Es ist vollbracht.“ Mit biblischem Pathos trat die Kommissionsvorsitzende Gitta Connemann (MdB) am 13. Dezember 2007 vor die Abgeordneten des Deutschen Bundestags und eröffnete die zweistündige Aussprache zum „Kultur­-Kompass für Deutschland“, der in vierjähriger Arbeit unter ihrer Leitung erstellt worden war. Auf knapp 800 Seiten bringt es die Buchfassung des Schlussberichts „Kultur in Deutschland“ der gleichnamigen Enquete-Kommission. Etliche 100 weitere Seiten versammelt die DVD mit 13 Gutachten (darunter eines zur Kulturellen Bildung) und der Bundestagsdebatte zum Schlussbericht.

Vier Jahre lang hatten jeweils 22 Abgeordnete zweier Legislaturperioden und elf ExpertIn­nen bundesweit das „kulturelle Feld“ vermessen, 87 Sitzungen, 22 Anhörungen und 21 Exper­tengespräche durchgeführt, sechs Delegationsreisen unternommen und abschließend ein Dokument vorgelegt, das Maßstäbe gesetzt hat. Dreierlei macht den Bericht zum Meilenstein:

1. das Engagement und die Energie, mit denen parteiübergreifend die kulturelle Vielfalt als Strukturressource ins Zentrum von Politik und Gesellschaft gerückt wurde;

2. der pragmatische Duktus, in dem ein hoher Anspruch in 465 Handlungsempfehlungen jen­seits akademischer Debatten und partikularer Interessen politikkompatibel gemacht wird: eben „Kärrnerarbeit [...] für gesetzgeberisches Handeln“ (Deutscher Bundestag 2007:5);

3. die Weite des Blicks, die das Abschlussdokument zur umfangreichsten Bestandsaufnahme zur Kultur in der Bundesrepublik macht und hierbei gesellschaftspolitische, wirtschaftli­che, rechtliche und strukturelle Fragen in den Horizont einer Entwicklungsplanung stellt, ganz bewusst auch im europäischen Maßstab.

Die Chance des aus der Tagespolitik herausragenden Ausnahmegremiums Enquete­-Kommission wurde damit in beispielhafter Weise genutzt: Der Bericht ist Maßstab für Entwicklungen und Stein des Anstoßes für mögliche Versäumnisse. Zwei Dimensionen sollen herausgehoben werden. Sie betreffen das Niveau der Darstellung und die exponierte Stellung der Kulturellen Bildung.

Jede Leistungsbilanz schärft den Blick für Defizite. Wie hier (nach streng durchgehaltenem Organisationsprinzip: A: Bestandsaufnahme, B: Problembeschreibung, C: Handlungsempfeh­lung) das Feld vermessen wird, ist beachtlich. Drei Gründe sind maßgeblich:

Erstens hat die Kommission offensichtlich allergrößten Wert darauf gelegt, die Handlungs­empfehlungen weitestgehend einstimmig zu beschließen und dadurch dem Ganzen partei­-, struktur­- und fachspartenübergreifend spürbar Rückhalt gesichert.

Zweitens überschreitet der Kommissionsbericht in jedem Detail den Rahmen der indi­viduellen Autorenperspektive und erschließt damit dem politischen und gesellschaftlichen Feld eine jugend-, kultur­- und bildungspolitische Vogelperspektive, die den Abstand zwischen Sein und Sollen handlungsorientiert vor Augen führt.

Drittens schließlich gelingt dem Bericht die Gratwanderung, trotz heterogener Förder­zuständigkeiten die Übergänge zwischen Kultur und Wirtschaft, Bildung und Jugend (und damit auch das jeweilige Berichtswesen) auf Bundes-­, Länder-­ und europäischer Ebene so zu beleuchten, dass Entwicklungspartnerschaft wünschenswert und machbar erscheint.

Das Gewicht der Kulturellen Bildung im Enquete-­Bericht (mit 55 Seiten und über 50 Handlungsempfehlungen) könnte nichts besser unterstreichen als die Tatsache, dass die Kommissionsvorsitzende dieses Feld als einziges in der Bundestagsdebatte hervorgehoben und der herausgehobenen Verantwortungspartnerschaft von Staat, Zivilgesellschaft und Kultureinrichtungen anempfohlen hat. In der sechsten Handlungsempfehlung zur außerschulischen Kulturellen Bildung heißt es: „Die Enquete-Kommission empfiehlt den Ländern, durch gesetzliche Regelungen die kulturelle Infrastruktur in ihrem Bestand auch qualitativ zu garantieren.“ Ergänzend wird an anderer Stelle empfohlen, eine noch defizitäre kulturelle Infrastruktur durch „Aufbau und Ausbau entsprechender Einrichtungen und Angebote“ überhaupt erst zu schaffen. Damit greift der Enquetebericht Anregungen des 1977 verabschiedeten „Ergänzungsplans Musisch­-kulturelle Bildung“ und Vorgaben des Kinder-­ und Jugendhilfe­gesetzes von 1990 (§ 82) auf und hat erhebliche Dynamik in die legislative Landschaft fast aller Bundesländer getragen. Kreatives Novum der Kulturenquete ist die handlungsorientierte Definition eines Orts- oder Gestaltungsauftrags, den sie „Infrastruktur der Kulturellen Bildung“ nennt (siehe Oliver Scheytt „Pflichtaufgabe, Grundversorgung, Infrastruktur: Begründungs­modelle der Kulturpolitik“).

2. Schrittmacher: Die Konzeption Kulturelle Bildung des Deutschen Kulturrats

Zur Kulturpädagogik als Beruf gehört die Erfahrung, wie lange es dauern kann, bis gute Ide­en sich durchsetzen. Ironie der Geschichte ist heute, dass der demografische Wandel das Zielgruppenprinzip als solches auflöst. Mit dem paradoxen Ergebnis, dass einerseits das Kulturpublikum vergreist und andererseits der Bildungsnachwuchs versiegt.

Konsequenz dieser Konstellation ist das parallele Profilierungsbestreben bislang eher getrennter Sinnprovinzen: Die Kultur entdeckt die Jugend, damit sie selbst überhaupt eine Zukunft hat. Die Jugend sieht sich perspektivisch des Wirkungsradius bedroht und findet sich quasi über Nacht auf dem Schulhof wieder. Nicht alle begrüßen das uneingeschränkt.

Zur Situationsbeschreibung gehören zwei Leitideen. Vor allem Integration, die strukturell immer bedroht ist. Sodann Bildung, der man am ehesten zutraut, die Kuh vom Eis zu holen. Zur Situationsbewältigung gehören Strategien, die Identität des (kulturpädagogischen) Feldes unter wechselnden Rahmenbedingungen expansiv weiterzuentwickeln und möglichst in die Fläche zu bringen.

Den exponiertesten, ehrgeizigsten und auch riskantesten Versuch in dieser Richtung unternimmt die „Konzeption Kulturelle Bildung“ des Deutschen Kulturrats (2005). Dreimal hat der Deutsche Kulturrat unter diesem Titel aufgeschlagen. Die jüngste Auflage des erstmals 1988 erschienen Klassikers riskiert sehenden Auges zweierlei: Erstens bricht sie bewusst mit der Tradition einer „Vielfalt als Konzeption“ und ersetzt die Pluralität der Stellungnahmen aus dem Mitgliederspektrum (so 1988) durch ein additives und in Teilen auch integratives Autorenkonzept, für das Max Fuchs, Gabriele Schulz und Olaf Zimmermann namentlich ver­antwortlich zeichnen. Zweitens stellt sie sich selbst erstmals (nach der strukturorientierten Erstveröffentlichung 1988 und ihrer problemorientierten Nachfolgerin 1994) in einen thema­tischen und organisationssoziologischen Rahmen, der Chancen, Risiken und Grenzen markiert und zugleich den Haupttitel bildet: „Kulturelle Bildung in der Bildungsreformdiskussion“.

Der 470 Seiten starke Band fasziniert durch seinen Abstand. Wie jede bisherige „Konzep­tion“ ist er auch programmatische Leistungsbilanz und Antwort auf die Frage „Was ist der Deutsche Kulturrat?“ Sie lautet 2005, im 25. Jahr seines Bestehens: „Lobbyist im positiven Sinne“. Der „grundlegende“ Paradigmenwechsel vom Mitgliederverband zur Lobbyagentur für inzwischen über 200 Verbände in acht Sektionen wird als strategische Option beschrieben, die pragmatisch und konzeptionell weithin auch trägt. Zur Leistungsbilanz dieser Konzeption gehört eine Fülle an Positionspapieren und Interventionen sowie insbesondere der kontinu­ierliche Vernetzungsdiskurs von Politik und Fachlichkeit, wie ihn die Zeitmonatsschrift „Politik und Kultur“ seit Jahren in die Fläche bringt, neuerdings (als Vernetzungselement und Diskus­sionsforum außerhalb der vorliegenden Buchpublikation) mit der Beilage „Kulturelle Bildung“. Ein breiter Rechercheteil mit Handbuchcharakter bietet unter anderem Ländervergleiche zur Bildung im Vorschul- und Schulbereich. Das Dreiphasenmodell aus „Skepsis – Euphorie – Ernüchterung“, das die „Kultur im Ganztag“ rhythmisiert und auf lange Sicht begleiten wird, hilft beiden Seiten beim Wandel durch Annäherung.

3. Auf dem Weg zum Jugendkulturland: Der Jugendkulturbericht NRW

1994 veröffentlichten das Jugendministerium (das damalige Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales) und das Kultusministerium des Landes Nordrhein­-Westfalen gemeinschaft­lich den Bericht „Kinder-­ und Jugendkulturarbeit in Nordrhein­-Westfalen. Bestandsaufnahme, Perspektiven, Empfehlungen“. Der von zehn Expertisen flankierte „Jugendkulturbericht“ wurde mehrfach nachgedruckt und hat typenbildend gewirkt. Konzeptionell bildet diese Landeser­hebung eine Brücke zwischen dem Ergänzungsplan (1977, s.u.) und dem Enquete­-Bericht (2007), strukturell und personell eine starke Schnittmenge aller landes-­ und bundesweit vernetzten Akteure.

Das ehrgeizige Vorhaben, das zeitlich in die Phase von Vorüberlegungen zur Landesjugend­planreform fiel und schon deshalb Kontroversen auslösen mochte, war politisch brisant, aus einer Vielzahl von Gründen. Erstens durfte oder wollte keiner wissen, wie der Berichtswunsch in die Rede des damaligen Landessozialministers Heinemann gekommen war. Zweitens war „Bericht“ als solcher Landesprivileg bzw. als Jugendbericht Landespflicht und keineswegs an eine partikulare Trägersicht abzutreten, noch dazu an die ‚falsche’ (also die parteiische LKD der Jugendkunstschulen und nicht die LKJ als Landesdachverband). Drittens sah es für etabliertere Träger der Jugendarbeit (namentlich die offene und die verbandliche Jugendar­beit) so aus, als wollte sich hier ein Teilbereich zur Messlatte des Ganzen aufschwingen. Und viertens schien besonders prekär, dass nur ein Ministerium (das MAGS) das Geld gab und ein anderes gleichberechtigt mitherausgeben sollte.

Den diversen Konfliktlagen begegnete die Projektträgerin LKD (Landesarbeitsgemeinschaft Kulturpädagogische Dienste/Jugendkunstschulen NRW e.V.) durch ein anspruchsvolles Projektdesign, in dem alle aktuellen und potentiellen KritikerInnen auf verschiedenen Ebenen (Fachliche Leitung, Projektbeirat, Ministeriumskonsultationen) in die Projektrealisierung eingebunden wurden. Insbesondere die sechsköpfige fachliche Leitung mit (in alphabetischer Reihenfolge) Eckhart Bücken bzw. Ute Froitzheim, Kurt Eichler, Dr. Max Fuchs, Christoph Honig, Dagmar von Kathen, Ulrike Werthmanns­-Reppekus und das professionsgemischte Autorenteam mit Prof. Dr. Werner Thole, Dr. Stephan Kolfhaus und Peter Kamp schien eine Vernetzungs-­ und Entwicklungssynergie zu gewährleisten, deren Rendite sich erst im Rück­blick erschließt. Drei Aspekte erscheinen festhaltenswert:

1. Aus Fremden wurden Freunde (oder zumindest Partner): Alle landeszentralen Träger der Jugendarbeit haben sich zum schlagkräftigen G5­-Gipfel assoziiert, dessen wichtigster Erfolg sicher die Volksinitiative 2006 „Jugend braucht Vertrauen“ war, die mit nahezu 300.000 Unterschriften dem Kinder- ­und Jugendförderungsgesetz des Landes einen eindrucksvollen gesellschaftlichen Rahmen gegeben hat, in dem auch Kulturelle Jugend­arbeit Flagge und Kontur zeigt.

2. Kulturelle Jugendbildung konnte als „eigenständiger und integrierter“ Bestandteil der Jugendarbeit konzeptionell gefasst und förderrechtlich operationalisiert werden.

3. Die Landesjugendplanreform (seit 1999 ein work in progress mit Wirksamkeitsdialog und strukturierter Erfolgskontrolle) hat in der Dualität von Struktur­- und Projektförderung, Verstetigung und Innovation Kulturelle Jugendarbeit als Innovations-­ und Entwicklungs­partner absichern können.

Glaubwürdigkeitsgewinne in unterschiedlichste Richtungen haben auch die begleitenden Expertisen eingefahren, unter anderem zu den Themen Interkultur (Nieke), Netzwerk (Honig/Zacharias), Strukturelle Grundlagen (Eichler/Kolfhaus), MitarbeiterInnen (Rauschenbach/Christ/Galuske) und Katholische Kinder­- und Jugendkulturarbeit. Der Jugendkulturbericht hat sich in Nordrhein­-Westfalen, aber auch bundesweit als Schrittmacher und Index der Feldentwicklung bewährt. Ein Großteil seiner Empfehlungen ist heute – 18 Jahre nach Er­scheinen – umgesetzt, der Rest bleibt Stachel im Fleisch beim Ringen um Struktursicherung und Innovationsimpuls.

Landesberichte wurden in zeitlicher Nähe auch vorgelegt von der LKJ in Thüringen, der LAG Jugendkunstschulen in Brandenburg und auch von der LKJ Sachsen-Anhalt. Für Baden­-Württemberg müssen die Kunstkonzeptionen aus den Jahren 1990 und aktualisiert 2011 erwähnt werden. Kulturelle Bildung ist auch hier ein Schwerpunkt. Eine Schneise ins Dickicht unübersichtlicher Förderlandschaften schlug 1996 die von Ina Bielenberg und Brigitte Prautzsch erarbeitete und höchst kundig kommentierte Richtliniensammlung „Durchblick im Föderalismus“ (BKJ 1996).

4. Kulturelle Bildung in der Stadt – Kommunale Gesamtkonzepte

Starke Anregungen für die Entwicklung der kommunalen Kulturarbeit in NRW gingen von der Konzeptgruppe zum „Handbuch Kultur 90“ um Ellen Lissek-­Schütz und Oliver Scheytt aus (1988). Sie wurden mit der LKD-­Veröffentlichung der „Impulse für die kommunale Jugend­kulturarbeit“ aufgegriffen und riefen ein erstes, informelles Städtenetzwerk auf den Plan. Im Zusammenspiel Stadt – Land – Bund sind von kommunalen Netzwerken und Initiatoren immer wieder starke Entwicklungsimpulse ausgegangen. Immerhin tragen die Kommunen im föderalen System trotz übergreifender Verantwortung „die finanzielle Hauptlast“ (siehe Dieter Rossmeissl „Kommunale Politik für Kulturelle Bildung“).

Lange Zeit galt allein das kommunale Gesamtkonzept „Kinder­- und Jugendkulturarbeit“ der Landeshauptstadt München als bundesweit maßstabsetzend. Ihm folgten mit einigem zeitli­chen Abstand die ebenfalls vorbildliche Vernetzungsinitiative in Hamburg unter Federführung des Kultursenats sowie in Nordrhein­-Westfalen neuerdings der jährliche Landeswettbewerb zur Auszeichnung beispielhafter Kommunen, der seit 2005 40 Städte, Gemeinden und Kreise auszeichnen konnte. Darunter finden sich mehrfach Großstädte wie Dortmund, Düsseldorf und Oberhausen, aber auch Gemeinden wie Altenberge oder Würselen und – besonders wichtig zum Ausgleich regionaler Disparitäten – Städteverbünde, Kooperationsnetzwerke und Kreise. Auch Aurich hoch im Norden hat heute sein kommunales Gesamtkonzept.

Als wichtigste Erfolgsfaktoren für solche Kooperationsansätze identifiziert Kurt Eichler (2005:8) „die genuine Fachlichkeit von Orten, Konzepten und Angeboten der kulturellen Kin­der­- und Jugendbildung und die ressortübergreifende Verantwortlichkeit zwischen Jugend, Bildung und Kultur mit dem Ziel, zunehmend engmaschigere und passgenauere Angebots­bausteine zu entwickeln“. „Findungsmerkmale“ für ein Kommunales Gesamtkonzept hat Christoph Honig (2007:56) unter dem Titel „Kulturelle Bildung in der Stadt“ handlungsorientiert konkretisiert. Von zentraler Bedeutung für die Übertragbarkeit kommunaler Entwicklungen ist die möglichst systematische Einbindung von Struktur-­ und Organisationserfahrungen anderer Bundesländer, damit eine echte Entwicklungspartnerschaft von Stadt und Land wachsen kann. Hierfür bieten der NRW­-Landeswettbewerb „Kommunale Gesamtkonzepte“ und auch das neue Förderprogramm „Kulturrucksack“ interessante Anknüpfungspunkte, weil sie thematisch fokussierte Kontexte und Anlässe zur kommunalen Vernetzung schaffen.

5. Am Anfang war der „Ergänzungsplan“

Bildungskatastrophe und Bildungsgesamtplan sind Stichworte aus den 1970er Jahren, in denen die Kulturelle Bildung zunächst vergessen, dann jedoch nach Kräften nachgeholt wurde. 1977 erschien im Klett­-Verlag ein schmales, zweibändiges Kompendium, unter dem etwas sperrigen Titel „Ergänzungsplan Musisch­-kulturelle Bildung zum Bildungsgesamtplan“, herausgegeben von der Bund-Länder-Kommission r Bildungsplanung und Forschungsförderung. Der Inhalt war revolutionär. Man kann ihn zusammenfassen mit den Worten: Kulturelle Bildung aller Sparten bundesweit überall für alle Kinder und Jugendlichen.

Ein flächendeckendes Netz von Einrichtungen und Angeboten sollte geknüpft werden. Wo die Maschen noch nicht eng genug oder womöglich gar nicht konturiert waren, sollten „Kul­turpädagogische Dienste“ als kommunale Servicestellen dem abhelfen, in allen Schulen und außerschulisch sollten alle Kunstsparten Flagge zeigen, und wo es sonst nichts gab, sollten wenigstens Jugendkunstschulen (bzw. Kunst­- und Kreativitätsschulen) gegründet werden.

Systematisch gliedert sich der zweibändige Ergänzungsplan in einen programmatischen Textteil und einen Tabellenband mit konkreten Förderzahlen und Zuständigkeiten, gestaffelt nach Bundes-­ und Länderebene sowie nach Trägern und Sparten. Am Textband besticht die einheitliche Systematik, nach der generell alle damals einschlägigen Kunst­- und Kultursparten zueinander ins Verhältnis gesetzt werden:

a) Ist­-Zustand und Planungsvorstellungen,
b) Probleme und Abhängigkeiten,
c) Folgerungen.

Man sieht den roten Faden bis hin zur Kulturenquete 2007, die ihrerseits den Umsetzungsstau offenlegte. Eine exponierte Stellung nimmt der schon damals fachlich und strukturell am stärksten ausdifferenzierte Musikbereich ein (auch quantitativ), noch in den Kinderschuhen stecken damals die sogenannten „Multimedialen Angebote“, worunter der Ergänzungsplan 1977 unter anderem neun Kunst­- und Kreativitätsschulen in Nordrhein-­Westfalen subsumie­ren kann. Qualitativ und quantitativ hat der Ergänzungsplan im Rückblick eine herausragende Rolle als „regulative Idee“ zur breiteren Verankerung Kultureller Bildung gespielt, mehr oder weniger zwangsläufig auf Kosten der Übersichtlichkeit des Feldes.

Ausblick

Die „Ausnahmen müßten […] die Regel sein“, hatte Gert Selle (1992:10) mit Bezug auf die Verbreitung Kultureller Bildung gefordert. Heute hat man zumindest das Gefühl, dass sich die Balance zugunsten des knappen Guts verschiebt. Schon am Ergänzungsplan Musisch­-kulturelle Bildung, der sich auf das außerschulische Einrichtungs­- und Angebotsfeld kon­zentriert, waren die Träger der Kulturellen Bildung im Wege einer Anhörung (am 27. Januar 1977) beteiligt. Wer heute das damalige Planungsraster über die Angebotslandschaft legt, wird – trotz erheblicher regionaler Disparitäten – mehr Licht als Schatten sehen, auch im gesamteuropäischen Vergleich. Vielleicht liegt das auch daran, dass in der Kulturellen Bildung mehr Überzeugte an einem Strang gezogen haben als in anderen Entwicklungsfeldern.

Verwendete Literatur

  • Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung (1977): Musisch-kulturelle Bildung. Ergänzungsplan zum Bildungsgesamtplan. Band I (Textteil) und Band II (Dokumenta­tions­teil). Stuttgart: Klett.
  • Deutscher Bundestag (Hrsg.) (2007): Schlussbericht der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“. Drucksache 16/7000. Berlin.
  • Deutscher Kulturrat (Hrsg.) (2005): Kulturelle Bildung in der Bildungsreformdiskussion. Konzeption Kulturelle Bildung III. Berlin: DKR.
  • Deutscher Kulturrat (Hrsg.) (1994): Konzeption Kulturelle Bildung. Analysen und Perspektiven. Essen: Klartext.
  • Deutscher Kulturrat (Hrsg.) (1988): Konzeption Kulturelle Bildung. Positionen und Empfehlungen. Bonn: Fördergesellschaft für kulturelle Bildung e.V.
  • Eichler, Kurt (2005): Kooperativ – Kreativ – Kommunal. PädAktion vernetzt Bildung in der Stadt. In: infodienst Kulturpädagogische Nachrichten 76, 7/2005, 5.
  • Erny, Richard/Godde, Wilhelm/Richter, Karl (1988): Handbuch Kultur 90. Modelle und Handlungsbedarf für die kommunale Kulturarbeit. Köln: Deutscher Gemeindeverlag.
  • LKJ Thüringen e.V. (1997): Kinder- und Jugendkulturarbeit in Thüringen. Erfurt.
  • Honig, Christoph (2007): Kulturelle Bildung in der Stadt. Findungsmerkmale für ein kommunales Ge­samtkonzept. In: infodienst. Das Magazin für Kulturelle Bildung 85, 10/2007, 56-57.
  • Kamp, Peter (2012): Ausnahmen regeln. Über die Angst der Bildung vor der Teilhabe. In: infodienst. Das Magazin für Kulturelle Bildung 103, 4/2012, 14-15.
  • Landesarbeitsgemeinschaft kulturpädagogische Dienste/Jugendkunstschulen NRW e.V. (Hrsg.) (1989): Impulse für die kommunale Jugendkulturarbeit. Unna: LKD.
  • Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales (MAGS)/Kultusministerium des Landes Nordrhein- Westfalen (Hrsg.) (1994): Bericht Kinder- und Jugendkulturarbeit in Nordrhein-Westfalen. Be­standsaufnahme, Perspektiven, Empfehlungen. Düsseldorf.
  • Selle, Gert (1992): Das ästhetische Projekt. Plädoyer für eine kunstnahe Praxis in Weiterbildung und Schule. Unna: LKD.
  • Scheytt, Oliver (2005): Kommunales Kulturrecht. Kultureinrichtungen, Kulturförderungen und Kultur­veranstaltungen. München: Beck.

Anmerkungen

Dieser Text wurde erstmals im Handbuch Kulturelle Bildung (Hrsg. Bockhorst/ Reinwand/ Zacharias, 2012, München: kopaed) veröffentlicht.

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Peter Kamp (2013/2012): Konzeptionen und Empfehlungen Kultureller Bildung. In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE: https://www.kubi-online.de/artikel/konzeptionen-empfehlungen-kultureller-bildung (letzter Zugriff am 14.09.2021).

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Dieser Artikel wurde dauerhaft referenzier- und zitierbar gesichert unter https://doi.org/10.25529/92552.370.

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