Kommentar zum Abschluss der 12. Tagung des Netzwerks Forschung Kulturelle Bildung
„Was tun? Handlungspraxis und -verantwortung in der Kulturellen Bildung“
Abstract
Der Kommentar zur 12. Tagung des Netzwerks Forschung Kulturelle Bildung (16.‒17.09.21 an der Fliedner Fachhochschule Düsseldorf) nimmt zunächst in den Blick, wie die im Tagungsthema „Was tun? Handlungspraxis und -verantwortung in der Kulturellen Bildung“ anklingende Paradoxie der aktuellen Affirmation einer politischen Beauftragung oder jedenfalls Verantwortung der Kulturellen Bildung mit deren etablierter Autonomiebehauptung bzw. Instrumentalisierungs- und Funktionalisierungsabwehr diskutiert wird. Hierbei setzt sich der Eindruck fest, dass die sozusagen klassische, wenn nicht konstitutive Selbstbehauptung des Eigenwerts der Kulturellen Bildung von der Forschungscommunity kaum noch artikuliert wird.
Eine zweite Überlegung, die den Kommentar angesichts der Tagungsbeiträge beschäftigt, ist die weitgehende Dethematisierung des Verhältnisses der herangezogenen Bezugsdisziplinen und Theorierahmen. Hier stellen sich Fragen nach der Kontingenz der vertretenen Ansätze und nach deren Kompatibilität, die v.a. im Hinblick auf praxeologische und phänomenologische Theorien unterstellt zu werden scheint.
Die 12. Tagung des Netzwerks Forschung Kulturelle Bildung fand am 16./17.09.2021 an der Fliedner Fachhochschule Düsseldorf zu dem Thema „Was tun? Handlungspraxis und -verantwortung in der Kulturellen Bildung“ statt (siehe: Hofmann/Rosskopf „Forschung zu Handlungspraxis und -verantwortung in der Kulturellen Bildung"). Als Veranstalter fungierten das Netzwerk Forschung Kulturelle Bildung, das Institut für Kulturpolitik der Universität Hildesheim und die Professur für ästhetische Bildung und Erziehung in der Kindheit an der Fliedner Fachhochschule Düsseldorf. Neben wenigen Plenumsveranstaltungen war die Tagung überwiegend durch Panels, respektive Labore geprägt.
Der vorliegende Kommentar stützt sich in seinem Versuch, die Bearbeitungen des Tagungsthemas auch aus einer generalisierteren Perspektive einzuschätzen, hilfsweise ebenfalls auf den umfangreichen Abstractband. Schließlich ging es der Tagung gerade um eine solche Perspektive. Die Fragen, wie „implizite Handlungsverständnisse in der Kulturellen Bildung thematisiert“, „kulturelle Bildungspraktiken (…) entworfen, vollzogen und reflektiert“ und wie „kulturelle Bildungspraktiken erforscht werden“, stehen nicht nur zentral im Tagungsflyer, sondern tatsächlich mehrfach explizit im Fokus der Beiträge und Diskussionen über den ganzen Tagungsverlauf. Die stringente Systematik dieser Dreiteilung hat sich also gelohnt.
Kulturelle Bildung als Einheit der Unterscheidungen von Praxis, Semantik bzw. Selbstbeschreibung und wissenschaftlicher Reflexionsinstanz zu denken (wie man diese Systematik systemtheoretisch reformulieren könnte) erlaubt es, die verschiedenen Wissens- bzw. Reflexionsebenen, die in den jeweiligen Vorträgen und Diskussionen im Mittelpunkt stehen, auf die jeweils anderen und auf Kulturelle Bildung als Ganze zu beziehen. Die Einheits- oder Identitätsfrage der Kulturellen Bildung, die auf Tagungen zwischen praxisorientierten, professionsbezogenen und wissenschaftlichen Diskursen nicht selten mit dem Maß ihrer Dethematisierung drängender wird, wird hier immer wieder durch die Aufrufung der vorgeschlagenen Systematik thematisch.
Kulturelle Bildung
Die Tagung beginnt mit einer bezugswissenschaftlichen Irritation der Kulturellen Bildung: Mit Oliver Marchart konnte ein besonders exponierter – um nicht zu sagen: radikaler – Vertreter eines Pols im Spannungsfeld gewonnen werden, nämlich jenes, das man betritt, wenn man „Was tun?“ in der Kulturellen Bildung fragt. Marchart geht davon aus, dass „wir alle innerhalb eines politischen Horizonts [stehen], weshalb wir uns bewusst machen müssen, dass nicht allein politische Diskurse, sondern Sprache als solche politisch funktioniert“ (Marchart 2010, 57). Diese Universalitäts- und Ubiquitätsthese des Politischen ist in den Sozial- und Kulturwissenschaft heute derart etabliert, dass ihre Radikalität offenbar nicht mehr spürbar ist und dass niemand von sich oder anderen je zu verlangen scheint, sie eigens zu begründen. Folgt man der Darstellung von Marchart, die sich in der Hauptsache auf Gramsci stützt, gibt es für die Kulturelle Bildung im Ganzen und in jeder konkreten Situation nur zwei Optionen: unterdrücken oder gegen Unterdrückung kämpfen. Entweder Kulturelle Bildung bekämpft die hegemonialen Strukturen, als deren Teil sie selbst aus der Geschichte hervorgeht, oder sie reproduziert sie. Sich scheinbar neutral zu verhalten, indem man beispielsweise mit einer Kindergruppe Klangimprovisationen ausprobiert oder jemandem Klavier beibringt, bedeutet, ebensolche hegemoniale kulturelle Strukturen zu reproduzieren (das Klavier als Symbol und die Klaviermusik als Zeugnis klassistischer, patriarchaler und kolonialer Strukturen wird bejaht, sie müssten aber wenigstens dekonstruiert werden).
In einer zweiwertigen Konflikttheorie sind Drittstellungen, Paradoxien, Ambivalenzen, Aufhebungen, Unklarheiten und Enthaltungen nicht abbildbar, mithin nicht existent. Wenn marxistischen Ansätzen über Foucault’sche Einflüsse das dialektische Denken entzogen wird, wird jede Position, die nicht klar „Ja“ sagt, zu einem „Nein“ abgerundet, da die dann noch übrig bleibende zweiwertige Konflikttheorie nicht mehr an Auflösevermögen besitzt.
Die Frage „Was tun?“ erhält hier dadurch jedenfalls eine denkbar klare Antwort: Kulturelle Bildung muss in den antihegemonialen Kampf eintreten, um nicht durch Enthaltung ebendiese hegemoniale Position zu reproduzieren und zu stärken. Jede Praxis der Kulturellen Bildung hat demnach die allgegenwärtigen, alles durchwirkenden Machtstrukturen vermöge des Gramsci‘schen buon senso zu erkennen, zu analysieren, wenn möglich zu dekonstruieren, noch besser zu destruieren, und idealerweise durch bessere, emanzipatorische zu ersetzen.
Für die Tagung ist diese von Marchart vorgestellte Position also eine ideale Eröffnung, die – so könnte man meinen – eine ebenso klare Gegenposition formulieren ließe, derart ein Spannungsfeld entstehen lassend, in dem sich die jeweiligen Tagungsbeiträge verorten könnten. Allein, diese Gegenposition nach der etwa eine Politisierung der Kulturellen Bildung im Verweis auf eigene Vollzüge, Normen, Funktionen und Leistungen abgewiesen würde, ist nicht zu vernehmen. Eine andere, ebenfalls nicht artikulierte, Gegenposition wäre etwa die der post-kritischen Pädagogik, die auf der Grundlage einer Würdigung kritischer Analysen beispielsweise der Frankfurter Schule oder Foucault’scher Provenienz die These vertritt, dass Pädagogik eine affirmative Beziehung zu sich selbst als Profession, zur Welt und v.a. zu ihrer eigenen Praxis einnehmen muss, um überhaupt möglich zu sein (vgl. Hodgson/Vlieghe/Zamojski 2017).
Die moderne (im Sinne von vor-post-moderne) These, dass die Frage „Was tun?“ im Hinblick auf die originäre autonome Praxis der Kulturellen Bildung beantwortet werden muss und gerade nicht im Rückgriff auf externe, v.a. politische Diskurse und daraus resultierende Erwartungen, kommt jedenfalls als Gegenpol zur Keynote kaum zur Sprache. Lediglich Fabian Hofmann deutet in seinem Einführungsvortrag den Gedanken an, dass Kulturelle Bildung nicht nur als eine spezifische Handlungspraxis anzusehen ist (die allerdings noch nicht hinreichend systematisch beschrieben sei), sondern zudem in ihrer Praxis auf daraus folgende Selbstbeschreibungen angewiesen ist. Der Widerspruch dieser modernen Autonomie- und Differenzierungsthese zu Marcharts Ausführungen wird allerdings nicht expliziert oder bearbeitet.
Die Panelveranstaltung mit der NRW-Ministerin für Kultur und Wissenschaft Isabel Pfeiffer-Pönsgen, dem Sozialpädagogen Werner Thole, Anke Dietrich vom Netzwerk Frühkindliche Kulturelle Bildung, moderiert für Deutschlandfunk Kultur von Hans Dieter Heimendahl, geht ebenfalls geradewegs, aber auf anderem Terrain auf die Tagungsfrage zu. Durch die Anwesenheit der zuständigen Ministerin und die Rundfunkübertragung dominieren massenmediale und bildungspolitische Sprechweisen. Schlagworte wie Chancen, Potenziale, Teilhabe, Diversität, Dialog, Brücken bauen, kulturelle Fähigkeiten, Kompetenzen und Qualität werden affirmativ ins Spiel gebracht, als gäbe es nicht zu all diesen Semantiken ein wissenschaftliches Aber. Es werden Forderungen nach einem früheren Ansetzen, einem Fit-Machen für die Bildungsbiografie vorgebracht; dazu Appelle an Studien und Evidenzbasierung; schließlich die Sichtweise auf Digitalität als Bereicherung — neben Sprachungetümen der verwalteten Welt (Korn 1962) wie die Durchführung und Verankerung Kultureller Bildung (die zudem meist in eine Angebotsmetaphorik einbezogen wird). Diese können sozial-, kultur- oder geisteswissenschaftlich in diesem Rahmen nicht gebrochen, kaum auch nur irritiert werden. Die sich an diesen Punkten üblicherweise meldende Ökonomisierungskritik bleibt jedenfalls weitgehend stumm. Man könnte spekulieren, dass es das Verantwortungsgefühl gegenüber dem Feld nicht nahelegt, Politik und die zuhörenden Steuerzahler*innen darüber zu informieren, dass die üblichen Leistungserwartungen an die Kulturelle Bildung von dieser selbst im Großen und Ganzen nicht geteilt werden.
Kritik wird in der Diskussion allerdings im Hinblick auf die (allerdings von niemandem in der aktuellen akademischen Kulturellen Bildung vertretene) Position laut, dass Kulturelle Bildung eine besondere Nähe zu so etwas wie Hochkultur habe. Dagegen wird einhellig der Vielfalt, Teilhabe, Alltäglichkeit und der Bedeutung jugendkultureller, insbesondere digitaler Medien das Wort geredet. Eine Autonomisierung gegenüber den politischen Zumutungen, nach denen „Was tun?“ mit so etwas wie Transfereffekten zu beantworten wäre, wird allerdings kaum artikuliert.
Nach dem ersten Tag kann also der Eindruck entstanden sein, der Kulturellen Bildung mangele es an Widerstandswillen oder -kraft gegenüber nun schon zweierlei Formen politischer Heteronomisierungen, nämlich ihrer grundsätzlichen Verortung im Politischen (Keynote Marchart) und ihrem stillen Einvernehmen mit der Politik und deren Leistungserwartungen (Paneldiskussion).
Was die verschiedenen Panels betrifft, die den zweiten Tag prägen, überwiegen Berichte praxeologischer und phänomenologischer Forschungen zum Feld und zum Teil zu den Selbstbeschreibungen bzw. Diskursen der Kulturellen Bildung. Die eingangs formulierten Fragen der Tagung werden damit auf zwei Ebenen bearbeitet, während die Frage offen bleibt, ob die (empirische) Forschung selbst als Reflexionsinstanz der Kulturellen Bildung gesehen werden kann – und damit als integraler Teil der Kulturellen Bildung (s. Grafik oben) – oder ob es sich vielmehr um eine außenständige Forschungsposition handelt, die ebenso gut andere Felder in den Blick nehmen könnte, ohne ihre Forschungspraxis zu verändern. Wie ist vor diesem Hintergrund die Dominanz praxeologischer und phänomenologischer Ansätze zu interpretieren? Gibt es Eigenschaften des Forschungsfeldes Kultureller Bildung, die sich auf diese Weisen besonders erschließen lassen, oder werden hier lediglich bezugswissenschaftliche (v.a. sozial-, kultur- und erziehungswissenschaftliche) Trends in die Reflexion Kultureller Bildung eingeführt? Gibt es überhaupt eine gemeinsame Basis dieser beiden wissenschaftstheoretisch doch sehr verschiedenen Theorien?
Offensichtlich ist ein besonderes Interesse an Materialität und Materialisierungen eine – wenn auch wenig tiefenscharfe – Schnittstelle. Ob der Fokus auf Leiblichkeit auf der phänomenologischen Seite den Verkörperungs- und Habituskonzepten auf der praxeologischen eine substantielle Anschlussmöglichkeit bietet, ist nicht ohne Weiteres vorauszusetzen, da schließlich Leiblichkeit im Paradigma der Subjektivität zu denken ist und nicht automatisch schon in dem der Subjektivierung bzw. der Verkörperung sozialer (d.h. dann Macht-)Strukturen.
Während der Tagung wurde allerdings deutlich, dass auch die phänomenologischen Beiträge bereit waren, die eingangs am Beispiel von Marchart problematisierte Konflikt- bzw. Machttheorie zu integrieren und somit die Schnittmenge zur Praxeologie zu maximieren. Machteffekte werden nicht – wie man es erwarten könnte – in aufwendigen, strengen Konstitutionsanalysen aufgewiesen. Wie viele Stufen von der Basis phänomenologischer Reduktionen müssten aufgebaut werden, bis man beispielsweise in einer beobachteten Szene gemeinsamen Musizierens – alleine dies ist schon recht hochstufig – schließlich bei Subjektivierungen anlangte? Mit Husserls Gründlichkeit würde dies, wenn überhaupt möglich, sicherlich einige Bände erfordern. Wie in der Praxeologie nicht selten sind auch die phänomenologischen Zugänge hier wohl auch bereit, die Analyseergebnisse schon durch einen Analyserahmen (wie beispielsweise Subjektivierungs- oder Adressierungsanalysen) zu formatieren, wenn nicht gar vorwegzunehmen. Jedenfalls scheint das einvernehmliche Neben- und Miteinander phänomenologischer und praxeologischer Herangehensweisen nicht zuletzt durch die weitgehende Dethematisierung wissenschaftstheoretischer Fragen begünstigt. Um nur eine meines Erachtens zentrale zu nennen: Wie leistungsfähig kann ein Praxisbegriff sein, der die kulturpädagogisch und ästhetisch und besonders für den phänomenologischen Blick hoch relevanten Unterscheidungen von Wahrnehmung, Imagination, Erleben, Erfahrung, Beobachtung, Kommunikation, Handlung und Interaktion nicht scharfstellt? Wenn die wissenschaftliche Reflexion Kultureller Bildung auf Theorien zurückgreifen könnte, die hierbei klare Differenzierungen vorzunehmen in der Lage sind – wie überzeugend ist es, auf diese Differenzierungen im Verweis auf einen undifferenzierten Begriff zu verzichten?
Vielleicht hat diese Tagung durch ihre ungewöhnlich klare und überzeugende Struktur, auf die sich die Beitragenden – ebenso ungewöhnlicherweise – sehr weitgehend eingelassen haben, dazu geführt, dass am Ende dieses anspruchsvolle (im Sinne von: viel verlangende) Desiderat einer mitlaufenden wissenschaftstheoretischen bzw. metatheoretischen Reflexionsebene formuliert werden kann.