Körperlich handeln, bis Kunst entsteht – Performancekunst im Kunstunterricht praxeologisch betrachtet
Abstract
Wie handelt der Körper? Wie lässt er sich als Agens oder auch Partizipant einer performativen Interaktion konzipieren? Mittels erzählender Einblicke aus einer Unterrichtssequenz, in welcher sich Lernende der Jahrgangsstufe 12 mit Performancekunst zum Thema „Körper, Haut und Hülle“ auseinandersetzen, werden in den Ausführungen spezifische Handlungspraktiken veranschaulicht. Der Beitrag widmet sich den durch Handlungen ausgelösten Verschiebungen in der künstlerisch-performativen Auseinandersetzung unter dem Fokus praxistheoretischer Fragestellungen. Praxistheoretische Zugänge auf den Körper als Handlungsträger schärfen dabei den Blick für die materiellen und stets bedeutungsgeladenen Umstände kultureller Praxen und erhellen die Möglichkeit einer reflexiven Selbstzuwendung des entsprechend eingestellten gelebten Körpers.
Eröffnende Einblicke in Kunstunterrichtspraxis
Vignette 1: Künstlerische Forschung als performative Gestaltungsstrategie (Unterrichtsstunde 1)
Carolin liest die Definition von Performancekunst vor, die die Lehrerin in der letzten Stunde für das Portfolio ausgeteilt hat. Performance ist eine am eigenen Leib zu erfahrene künstlerische Forschung, eine bewusste Tätigkeit, die sich aus dem unbewussten Handeln in der Öffentlichkeit heraushebt. In Anknüpfung daran wird der forschende Zugang zum performativen Arbeiten durch Frageimpulse von der Lehrerin fokussiert. Sie fordert Moris, Thea und Milena auf, den Forschungsprozess zu beschreiben, den sie während des UNART-Festivals mit der Workshopleiterin verfolgt haben. Thea merkt an, dass es in Vorbereitung auf das Stück um Selbstversuche ginge, damit man etwas wirklich erlebe. Moris antwortet: Was heißt hier erforscht, wir haben so Übungen zum Thema Umwelt gemacht. Anschließend erklären die drei Schüler*innen in knappen Worten abwechselnd, wie sie dem Thema nachgegangen sind. Klimaerwärmung, Energieproduzierungsmaschinen, ohne Heizung leben, ganz viel Kohle machen, sich zwei Wochen lang vegan ernähren. Die einzelnen Ansätze werden fragmentarisch angerissen und beschrieben. Die Lehrerin systematisiert die Aussagen anschließend und fordert die Gruppe auf, das Experiment am eigenen Körper für die eigene Konzeption einer Performance mitzudenken und, wenn möglich, sogar zu erproben. Nur Tattoos, das ginge nicht. Weil Kontext Schule. (Lübke 2022:125)
Vignette 2: In der bewegten Interaktion improvisieren (Unterrichtsstunde 3)
Die Schüler*innen beginnen anschließend, ohne zu zögern, den Blickkontakt zu ihrem Gegenüber aufzunehmen und eigene Bewegungsabläufe im Duo zu entwickeln. Einige Lernende lassen sich Zeit für die Entfernung und Annäherung im Blickkontakt, andere beginnen schnell damit, standbildhaft aufeinander zu reagieren, wie zum Beispiel Robin und Moris. Sie explorieren diverse sportlich anmutende Übungen und bewegen sich dabei ausladend durch verschiedene Raumebenen. Moris streckt den Körper und verschränkt die Arme über dem Kopf … Robin hockt sich neben ihn … Moris macht eine Brücke … Robin kriecht darunter hindurch … Moris steigt über Robin hinweg und kauert sich zusammengerollt auf den Boden. Auf die Frage eines Mitschülers, wie lange das gemacht werden solle, antwortet Moris grinsend, bis Kunst entsteht. (Lübke 2022:136)
Vignette 3: Spontanes Feedback zu Performances äußern (Unterrichtsstunde 6)
Die Arbeitsatmosphäre zwischen den Performances ist von hektischem Treiben bestimmt. Die Schüler*innen helfen sich gegenseitig beim Auf- und Wegräumen der Materialien und Utensilien bzw. bereiten die nächste Performance gemeinsam vor. Letzte Absprachen werden getroffen. Insbesondere die Impulse für Licht und Projektionen werden mit den Helfenden noch einmal abschließend kommuniziert. Die Lehrerin nutzt die Pausen, um von den Schüler*innen ein kurzes Feedback einzufordern und um eigene Kommentare anzubringen. So auch zur Performance von Nico, Henrike und Lara. Was für ne schöne Materialschlacht. Guckt euch diesen Raum an. Der goldene Käfig. Cool. Sehr schön. Okay wir lassen nachwirken.
Die Gespräche zum Gesehenen sind informell und locker, die Anmerkungen wirken spontan und beschwingt. Die gesammelten Assoziationen sind nah am ersten Eindruck. Besonders beeindruckt zeigen sich die Mitschüler*innen von den Körperbemalungen Theas, Milenas, Moris’ und Belas. Bunt und sexy sei die Performance gewesen. In Bezug auf die vierte Performance betont Bela, er hätte es toll gefunden, dass man den Performenden Patricia, Noel, Robin und Lara angesehen habe, dass sich beim Performen alle auf ihre Stärken konzentriert hätten. Patricia v.a. hätte einen sehr schönen Text vorgetragen. Man hatte das Bedürfnis zuzuhören. Ich bin mir nur nicht so ganz sicher, ob das nicht auch dieses Theatralische hatte. Das würde ich noch als kleine Kritik anbringen. Thea betont, dass es toll gewesen sei, wie sich das letzte Bild dieser Performance auf das erste bezogen hätte.
Zur Performance von Kilian, Carolin, Vera und Sinja beziehen sich die Aussagen der Mitschüler*innen v.a. auf das projizierte Video. Moris lobt, dass die Performenden sich dazu entschieden haben, still vor dem Video zu stehen und es wirken zu lassen. Patricia ergänzt seine Aussagen. Ich fand’s toll, dass am Ende alles so gleichzeitig passiert ist und sich so ein Gesamtbild ergeben hat. Das war voll spannend, Carolin zuzusehen. Das war so organisch, kann man sagen. Die Lehrerin stimmt zu und betont die vielen Ebenen, die gleichzeitig angesprochen wurden. Sie fragt Carolin direkt, wie die Gesten im Standbild gedacht gewesen seien. Diese antwortet lediglich schlagwortartig: Hüllen, und den Körper so generell. Das wollten wir darstellen. (Lübke 2022:149)
Einleitung
Diese vignettenhaften Momentaufnahmen (Agostini 2019:302) aus einer Kunstunterrichtseinheit zum Thema „Körper, Haut und Hülle“ in einer 12. Klasse wurden im Zuge einer qualitativ-empirischen Einzelfallstudie verfasst, die sich mit den Ausdrucksformen von Körper und Leib in der Performancekunst auseinandersetzt (Lübke 2022). Sie geben Einblick in die performative Praxis jugendlicher Schüler*innen, die sich produktiv, reflexiv und rezeptiv in sieben 90-minütigen Unterrichtseinheiten mit Performancekunst auseinandergesetzt haben. Sie verweisen auf Phänomene, welche künstlerisch-ästhetische Ausdrucksformen der besonderen Art zeigen: sich bewegende, explorierende, aufeinander reagierende Lernende, die performativ agieren und mit Körper und Leib mehrsinnlich wahrnehmend-denkend in der Welt verankert sind. Performances verhandeln die flüchtigen, schwer greifbaren und sich in Veränderung befindenden Momente künstlerischer Gestaltung. Sie erzeugen eigensinnige Bilder, die sichtbar, spürbar und reflexiv zu Verschiebungen zwischen verschiedenen Handlungs-, Zeichen- und Sprachebenen führen, die sich einer eindeutigen Sinnzuschreibung mitunter bewusst entziehen. Vielmehr generieren sie Sinnüberschüsse, die vordergründig körperlich und leiblich konturiert sind (Lange 2019:16).
Um zu begreifen, wie sich körperliche Handlungen im performativen Arbeiten mit Lernenden beschreiben und systematisieren lassen, werden im Folgenden praxistheoretische Ansätze bemüht. Praxistheorie im Allgemeinen interessiert sich für das Lösen alltäglicher Handlungsprobleme und für das präzise Verstehen des Sozialen überhaupt. Sie bettet menschliche Handlungen in sozial zirkulierende und inkorporierte Wissensordnungen ein. Praxistheoretische Überlegungen fragen nach dem Spielraum der Handlungsmöglichkeiten von Akteur*innen innerhalb bestimmter kultureller Ordnungen, von denen ihre Sinnstiftung abhängig ist (Hirschauer 2016). Der Soziologe Stefan Hirschauer formuliert dazu:
„Im Vordergrund der Differenz von Diskursen und Praktiken steht nicht das Zeichensystem (verbal/visuell), sondern der materielle Träger der Kommunikation […]. Menschliches Verhalten ist eben jene Form kultureller Selbstrepräsentation, die sich durch Körper artikuliert – und nicht durch Texte und Bilder.“ (Ebd.:58)
Praxistheorie zeigt sich auf Grundlage dieser Überlegungen als flache Ontologie, in der Gesellschaft und soziales Handeln nicht als dem Individuum gegenüberstehende Totalitäten betrachtet werden, sondern als Praktiken des Tuns, Sprechens, Fühlens und Denkens in Gemeinschaft. Das Soziale wird in diesem Kontext weder allein auf rational und individualistisch handelnde Akteur*innen zurückgeführt, noch auf determinierende Strukturen und Diskurse. Stattdessen wird die materielle und körperliche Vermittlung allen Handelns und Denkens betont, welche Sinn und Verstehen als praktisches Wissen und Können in Praktiken integriert, die sich wiederum in interkorporalen Beziehungen und Routinen entfalten. Der Soziologe Thomas Alkemeyer argumentiert deshalb:
„In diesem Horizont geraten die Materialität als Gegenpart zum Mentalen, der Körper als Pendant zum Geist, die Tätigkeit als Korrelat zur Kontemplation und die Performativität als Eigendynamik sozialer Ordnungsbildung im Unterschied zur Vorstellung von Praxis als einer bloßen Umsetzung von Intentionen, Motiven und Wissen in den Fokus.“ (Alkemeyer 2018:61)
Für die Untersuchung körperlicher Ausdrucksformen in der schulischen Performancekunstvermittlung sind praxeologische Überlegungen v.a. deshalb aufschlussreich, weil sie zwischenmenschliche Begegnung und Interaktion, Handlung und Performanz über die Materialität des Körpers zu rahmen vermögen. In diesem Sinne werden die folgenden Ausführungen wie folgt strukturiert, um zu zeigen, was es bedeuten kann, körperlich zu handeln, bis Kunst entsteht: Zum einen soll Performancekunst im Unterricht als körpergebundene Bildungspraxis verdeutlicht werden. Zum anderen wird danach gefragt, wie Körper und Körperlichkeit praxeologisch konstituiert werden. Weiterhin geht es darum, die Termini körperliches Handeln und Interagieren präziser zu erläutern. Abschließend wird systematisierend ausgeführt, welche spezifischen Handlungspraxen Performancekunst im Kunstunterricht zu erzeugen vermag, die sich „immer in materieller und körperlicher Ko-Aktivität mit anderen Subjekten, Dingen, Artefakten, den räumlich-materiellen sowie situationalen Rahmungen“ (Klein/Göberl 2015:16) vollziehen.
Performancekunst im Unterricht als körpergebundene Bildungspraxis
Performances als Formen sozialer Interaktion sind seit Jahrtausenden wesentlicher Bestandteil der Gewohnheiten, Rituale und Praktiken von Kulturen und integrales Element unserer alltagskulturellen Erfahrungen. In den 1970er-Jahren verschob sich die Lesart von der kulturanthropologischen Sicht auf Cultural Performances hin zu einem kultursoziologischen Blickwinkel, im Zuge dessen praxeologische Theorieansätze begründet wurden. Das soziale Feld menschlichen Handelns geriet darüber hinaus auch in der Kunst zunehmend ins Blickfeld, wobei sich der Fragehorizont v.a. in den performativen Künsten auf den praktischen Vollzug künstlerischer Handlungen und der damit verbundenen Erschütterung traditioneller Rezeptionsmuster verlagerte (Klein/Sting 2005:7). Performancekunst kann übergreifend als ein Genre beschrieben werden, in dem etwas handelnd, in einer Aktion dargestellt wird. In Abgrenzung zum klassischen Theater, in welchem die Illusion eines Geschehens erzeugt wird, werden in der Performancekunst reale Ereignisse als Kunst präsentiert. Performances sind dementsprechend eher durch ihren Modus als durch ihre Form bestimmbar. Sie stellen Gemeinschaften des Augenblicks her, intensivieren die Face-to-Face-Kommunikation und provozieren ein oszillierendes Verhältnis zwischen Handelnden und Rezipierenden (ebd.:13).
Performancekunst kann deshalb als Körperpraxis bezeichnet werden, über die ein gewohnheitsmäßiges, aber auch situiertes Antworten auf einen konkreten Handlungsanspruch zum Ausdruck kommt. Die Materialität des eigenen Körpers, das Handeln mit Objekten, die performative Begegnung mit einem oder mehreren Ko-Akteur*innen und letzten Endes auch die jeweilige Rahmung des Performancebegriffes spielen für das Hervorbringen der spezifischen Körperpraxis eine wesentliche Rolle.
Körperpraxen beruhen auf der Begegnung von Individuen. Praxen werden im Handeln generiert und lassen sich als charakteristische Ausdrucksweisen bezeichnen, sich zur Welt zu verhalten. Die Philosophin Eva Schürmann schreibt: „Die Praxis stellt ein Beziehungsgewebe zwischenmenschlicher Aktivitäten, ihrer Bedingungen und Strukturvoraussetzungen dar, deren wesentliches Charakteristikum darin besteht, dass Sinn gemeinsam, d.h. intersubjektiv und interaktiv, kooperativ und konfligierend, in einer sozial geteilten Welt ausgehandelt und hervorgebracht wird.“ (Schürmann 2008:64) Performancekunst kann in Anlehnung an diese Überlegungen als eine Praxis, als eine in Lebensformen eingebundene Ausdrucksform betrachten werden, die mannigfaltig, immer aber in Kopräsenz gestaltet wird. Strukturen, Objekte und Akteur*innen werden in der Performancekunst nicht verabsolutiert, sondern in unabdingbare Relationen zueinander gesetzt, die immer wieder neu ausgehandelt werden. Als künstlerische Praxis folgt sie keiner anonymen Prozesslogik, sondern wird von handelnden Akteur*innen mitgestaltet, „d.h. von Wahrnehmenden, deren Perspektiven sich ebenso in kollektiven Stereotypen wie in individuellen Abweichungen bemerkbar machen“ (Schürmann 2008:63).
Performancekunstvermittlung im Unterrichtskontext konstituiert sich ausgehend von diesem Performancebegriff oftmals im Kontrast zu einer auf Rationalität und Effizienz ausgelegten Schulkultur als eine Praxis, die v.a. existenzielle Momente der Fremdheit, Widerständigkeit und Unvorhersehbarkeit im Bildungsprozess thematisiert (Peters/Inthoff 2015:146). Die leibgebundene Kopräsenz der anwesenden Lernenden wird fokussiert und als konstitutive Bedingung für die performative Auseinandersetzung etabliert. In der durch Wahrnehmungsübungen und Handlungsexperimente initiierten künstlerischen Gestaltung werden Denkweisen und Ideen viel mehr praktiziert, als dass Wissen vermittelt wird. Es entstehen spezifische Räume des Austauschs und der Interaktion (Lange 2013:16). Die Materialität und Formung des Körpers als Handlungsträger spielt in der Performancekunst als Bildungspraxis eine wesentliche Rolle. Der praktische Vollzug des Lernens wird vordergründig bedeutsam.
Performancekunst als Bildungspraxis wird deshalb in diesen Ausführungen als prozesshafte, zeitliche Veränderung des Sozialen begriffen, innerhalb derer sich Lernende gestalterisch zu der sie umgebenden Welt verhalten. Als Praxis organisiert, kalibriert und justiert sie sich in dieser Veränderung selbst und trägt damit zur performativen Selbst-Bildung des handelnden Subjekts bei, das – so betont es Alkemeyer – „in relationalen Prozessen, in denen eine Praktik sich entfaltet, dazu befähigt wird, sich zu seinen eigenen Konstitutionsbedingungen zu verhalten“ (Alkemeyer 2018:72). Eine praxistheoretische Beschreibung von Performancekunst als Bildungspraxis schärft dementsprechend den Blick für die „durch materielle und als solche stets bedeutungsgeladenen Umstände einer Praktik bedingte reflexive Selbstzuwendung eines entsprechend eingestellten gelebten Körpers“ (ebd.). In der praktisch-handelnden, an Routinen, Automatismen und Stabilisierung geformten Körperlichkeit vollzieht sich im performativen Gestalten eine Transformation, die dem Eigensinn des Körpers Raum gibt und Impulse für das Entstehen von Neuem setzt. Um dieser agierten Transformation auf die Spur zu kommen, werden im Folgenden die Begriffe Körper, Handlung und Interaktion aus praxeologischer Perspektive geschärft.
Praktiken und ihre Körper
Praxistheoretische Überlegungen betonen den Körper in seiner materiellen Erscheinungsform als sehr deutungsoffenes Phänomen, dessen Hervorbringung immer an praktisches Wissen gebunden und in körperlichen Routinen verankert ist. Sie sind dezidiert materialistisch ausgerichtet, grenzen sich von abstrakten, nicht zu beobachtenden Setzungen ab und fokussieren die Beteiligung von Körpern und Körperbewegungen an praktischen Vollzügen. Die handelnden Subjekte werden unter diesen Prämissen „als körperlich befähigte und agierende Teilnehmer*innen konzipiert und soziale Praktiken werden als ein Zusammenspiel von geübten Körpern, gegenständlichen Artefakten, natürlichen Dingen sowie soziomateriellen und technischen Infrastrukturen entschlüsselt“ (Schmidt 2017:338). Mentale Zustände und Affekte werden deshalb keinesfalls ausgeblendet, jedoch wird davon ausgegangen, dass sich diese praktisch in Bewegungen, Haltungen, Gesten und im körperlichen Verhalten manifestieren und in der Interaktion von anderen Subjekten in graduellen Abstufungen beobachtet, registriert und ratifiziert werden können (ebd.:339).
Der Körper wird in diesem Zuge zweierlei umrissen. Er tritt zum einen als organisches, stofflich-materielles Substrat in Erscheinung. Er ist heterogenes Rohmaterial einer jeden Praktik, der als ungeformtes Möglichkeitsspektrum ein „diffuses Bündel von einfachen Dispositionen im Sinne aller möglichen, noch ungestalteten Anlagen und Aktionspotentiale wie Affekte, Empfindungen, Bewegungsmöglichkeiten und Fertigkeiten“ (Alkemeyer 2018:65) darstellt. Erst in der Teilnahme an sozialen Praktiken entwickelt sich dieser Körper in eine durch historische, kulturelle und soziale Kontexte veränderte Form. Somit zeigt sich der Körper zum anderen als „Körper-im-Vollzug“ (ebd.), sprich als eine Aktualisierung und Materialisierung des Rohmaterials. In diesem Prozess stabilisiert sich der Körper als „ein in Praktiken wiedererkennbarer Körper, indem er sich wiederholt mit den Anforderungen des involvierenden Verflechtungsgeschehens auseinandersetzt und so komplexe Dispositionen ausformt, die es ihm erlauben, sich routiniert auf im Vollzug sich ergebende, wechselnde Situationen einzustellen“ (ebd).
Bereits Pierre Bourdieu hat diese Akzentuierung des gelebten Körpers als Subjekt der Praxis im Sozialen herausgearbeitet, indem er mit dem sogenannten Praktischen Sinn (Bourdieu 1993) auf ein leiblich konstituiertes Konzept verweist, das als Routine und Intuition situationsangemessenes Handeln in sozialen Ordnungen anleitet und diese somit herstellt und verfestigt. Er beschreibt praktisch-körperliche Könnens- und Wissensformen als inkorporierten sozialen Sinn, im Zuge dessen der Körper verstehend in die Welt eingreift und sie im Eingreifen versteht. Der Soziologe Michael Meuser erläutert in der Auseinandersetzung mit der Theorie Bourdieus: „Der Körper bildet, in Gestalt des Habitus, Dispositionen aus, die von den Strukturen des sozialen Raums geprägt und auf diese Weise hin orientiert sind. Indem der Körper auf diese Weise sozial geformt wird, findet ein Lernen durch den Körper statt. Er ist ein gelehriger Körper, welcher der Welt im aktiven Eingreifen Sinn verleiht.“ (Meuser 2015:101)
Bourdieu charakterisiert den Körper als sinnhaft strukturierten Agens und Basiseinheit der Praxistheorie, der in seinen zum Ausdruck drängenden Bewegungen, Haltungen und Handlungen in der Interaktion mit anderen Körpern soziale Ordnungen evoziert. Die Einübung und Wiederholung körperlicher Routinen spielen dabei ebenso eine Rolle wie die Auswirkungen der sozialen Kontextbedingungen, welche nicht unabhängig von gesellschaftlichen Ordnungsstrukturen betrachtet werden können. In der zeitgenössischen Lesart der Theorien Bourdieus wird dezidiert betont, dass der Körper als Agens in der Lage ist, nicht nur bestehende Praktiken zu festigen, sondern darüber hinaus neue Praktiken zu etablieren (ebd.:105).
Alkemeyer attestiert den menschlichen Körpern eine gewisse Schwerfälligkeit und Widerständigkeit ihrer sozialisierten Materialität, sodass diese keineswegs nur Vollzugsorgane von Routinen seien, die Praktiken im Zusammenspiel mit Infrastrukturen, Dingen und technischen Artefakten am Laufen halten. Vielmehr wirken sie immer auch eigensinnig und sind in der Lage, Reflexion und Veränderung, Entautomatisierung und Erneuerung anzustoßen (Alkemeyer 2018:74).
Die Ausführungen haben bis zu diesem Punkt gezeigt, dass der Körper in der Praxistheorie als gelebter, materiell in der Welt verankerter Vollzugskörper konstituiert wird. Er ist in soziologischer Perspektive nicht aprioristisch vorauszusetzen, sondern in Praktiken zu verorten, in die jeweils verschiedene Entitäten involviert sind (Hirschauer 2015:75). In diesem Sinne erweist sich v.a. der Begriff des Körpers als konstitutives Moment einer jeden Praxis, insofern sich an ihm und mit ihm Bewegungen, Gestiken und Gebärden materialisieren, die eine Praxis jeweils hervorbringen (Bedorf 2015:130).
Körperliche Handlung und Interaktion praxeologisch befragt
Wie handelt der Körper? Wie lässt er sich als Agens oder auch Partizipant einer Interaktion konzipieren? Die Orientierung von Praktiken am Körperlichen steht primär für eine spezifische Art, Handlungen und Interaktionen zu konzipieren, indem sie deren körperlich tätige Seite sowie eine von den Akteur*innen dezentrierte Verteiltheit von Tätigkeiten hervorhebt (Hirschauer 2017:91). Praxistheoretische Ansätze offerieren in diesem Punkt reichhaltige, differenzierte Überlegungen, die v.a. das Eingebettet-Sein von Handlungen und Interaktionen in sozialen Situationen berücksichtigen. Beide Dispositionen körperlichen Ausdrucks können somit kaum getrennt voneinander umrissen werden, sie existieren vielmehr in wechselseitiger Bezugnahme.
Handlungen werden in praxistheoretischer Perspektive von ihrer materiellen Seite her betrachtet. Hirschauer gibt dieser Abgrenzung Ausdruck, indem er schreibt: „Praktisches Handeln ist nicht das Ausführen individueller Pläne und Entscheidungen, sondern eine körperlich vollzogene Koaktivität in Wechselwirkung mit anderen Entitäten.“ (Hirschauer 2017:91) In dieser definitorischen Bindung von Handlungen an Koaktivität offenbart sich eine Öffnung des Handlungsbegriffs für Artefakte des Handelns und somit für eine von der Praxistheorie postulierten Dezentrierung des Subjekts. Handlungen grenzen sich von basalem menschlichem Verhalten durch den Grad der jeweiligen Bewusstseinsbeteiligung, Initiative, Impulsivität und affektiven Engagiertheit ab. Unter praxistheoretischen Prämissen werden dieses Eingreifen und Modifizieren jedoch bewusst nicht rationalistisch und aktivistisch idealisiert. Vielmehr wird betont, dass die tätigen Involvierungen von Menschen durch unterschiedliche Aktivitätsniveaus gekennzeichnet sind, insofern handelnde Subjekte viele Dinge nur anstoßen oder geschehen lassen: etwas explizit tun, etwas routiniert vollziehen, etwas beiläufig mitvollziehen, etwas geschehen machen, etwas geschehen lassen, etwas unbeachtet liegen lassen oder sich gar selbst überlassen (Hirschauer 2016:49).
Diese bei Weitem unvollständige Aufzählung macht deutlich, dass handelnde Subjekte nicht als unternehmerisch und durchweg proaktiv bezeichnet werden können. Vielmehr liegt die systematische Bedeutung dieser Rahmung nach Hirschauer darin, „dass ein Handelnder sich nicht einfach nur gegebenen Bedingungen und dem kontingenten Tun der Anderen gegenübersieht; sein eigenes Tun fädelt sich vielmehr ein in schon laufende eigendynamische Geschehnisse: Interaktionen, Diskurse, körperliche und physikalische Ereignisse, mit denen er mitläuft oder auf die er sich einlässt“. (Ebd. :50)
Die Aufmerksamkeit verschiebt sich unter diesen Vorannahmen von rational abgewogenen, individuell motivierten Aufforderungen denkender Subjekte und den verbalen Aufforderungen Anderer hin zu situativen Umständen, die uns Handlungen nahelegen (ebd.:51). Handlungen werden jeweils von einer Person ausgeführt, Praktiken hingegen von Teilnehmenden in der Interaktion getragen. Praktiken werden also immer koaktiv vollzogen, wobei in dieser Koaktivität sowohl Menschen als auch Artefakte involviert sind. Interaktion in praxistheoretischer Perspektive schließt den Gebrauch von Dingen ein, indem ihnen eine gewisse, wenn auch schwach ausgeprägte Aktivität zugesprochen wird. Handlungen in Interaktion werden in der Praxistheorie demzufolge als verteiltes Handeln und in diesem Sinne situierte Koaktivität dimensioniert. Der bewusste Einsatz von Bewegungen, Gesten, Fingern, Augen und Kleidungsstücken als materiellen Ausdrucksformen des Körperlichen und des unmittelbaren Zugangs zur Welt formen die Interaktion als ein koaktives Handeln anwesender Akteur*innen. In dieser Koaktivität entstehen mehr oder weniger sinnhafte soziale Beziehungen, in welchen die Körper als Kommunikationsmedien fungieren.
In der individuellen Interaktion kommt es zur Ausformung spezifischer, sozial determinierter Praktiken, die in ihrer Reichweite über die individuelle Begegnung mit einem menschlichen oder dinghaften Gegenüber hinausweisen (ebd.:62). Handlungen produzieren und repräsentieren somit Interaktionsordnungen, die in Form von Körperbewegungen wahrnehmbar sind und mikrosoziologisch beschrieben werden können. Dem Körper wird in diesem Zuge eine Subjektposition zugestanden – so betont es der Soziologe Thomas Bedorf: „[…] lassen sich doch zwar Praktiken ohne Dinge, nicht aber ohne Körper denken“ (Bedorf 2015:130). Der Körperbegriff ist für eine Theorie der Praxis dementsprechend unverzichtbar, „sind es doch hier nicht mehr die Individuen und Subjekte, die am Ursprung von Handlungen stehen, zu denen sie sich zunächst (bewusst, aber körperlos) entschlossen haben, sondern skilled bodies, die Praktiken vollziehen, inszenieren und fortschreiben“ (ebd.:130).
Körperlich handeln, bis Kunst entsteht – eine Systematisierung
Was passiert nun, wenn körperlich gehandelt wird, bis Kunst entsteht? Wie handelt der Körper? Wie lässt er sich als Agens oder auch Partizipant einer Interaktion konzipieren? In den eingangs dargestellten Vignetten klingt die Vielfalt performativer Ausdrucksformen in der Performancekunstvermittlung bereits an. In den verschiedenen Phasen des Kunstunterrichts setzen sich die Schüler*innen produktiv, rezeptiv und reflexiv mit unterschiedlichen Modi des Performens auseinander (vgl. Vignette 1–3). Sie versuchen nachzuvollziehen, was es im Kontext eines künstlerischen Arbeitsprozesses bedeutet, an sich und mit sich selbst zu arbeiten, körperliche Handlungen bewusst zu initiieren, das Repertoire aussagestarker Handlungsweisen zu explorieren und auf etwas (Impulse, Personen, Material) handelnd zu reagieren.
Die drei dargestellten Vignetten sind einem Untersuchungskontext entnommen, der sich an einer Vielzahl an Vignetten aus einer Unterrichtseinheit im Sekundarbetrieb eines Gymnasiums abgearbeitet hat. Die Analysen dieser qualitativ-empirischen Untersuchung legen übergreifend dar, wie vielseitig und reichhaltig sich die performativen Handlungsvollzüge der Lernenden als ein Spiel ihrer selbst ausgestalten (Lübke 2022). In der präzisen und nuancierten Beobachtung lässt sich eine Fülle körperlicher Handlungsdispositionen charakterisieren, die sich gegenseitig bedingen und im Sowohl-als-auch in Erscheinung treten. Die nachfolgende Visualisierung ist als Synthese aus der Untersuchung hervorgegangen und wird anschließend mit dem Fokus auf die grundlegenden und spezifischen performativen Handlungsmodi (zweiter grauer Kasten von oben) kurz erläutert:
Im Zuge der umfangreichen Vignettenlektüre ist deutlich geworden, dass körperliche Handlungen in der Performancekunst grundlegend in dreierlei Form umrissen werden können:
-
Faktische Handlungen zeigen sich im Vollzug referenzarm und generieren sich aus einer individuell geprägten Körperlichkeit. Sie können als Ausdrucksformen von Körper und Leib beschrieben werden, die weder aufgeladen noch überspitzt in Erscheinung treten. Die Analysen haben verdeutlicht, dass es mit Routinen, Materialien und Körperbetonung spezifische Bezugskategorien gibt, die faktische Ausdrucksweisen im performativen Handeln begünstigen. Das heißt zum einen, dass performative Handlungen eng verwoben sind mit routinierten Handlungsschemata, die vorab außerhalb des Kunstunterrichtes über eine eigenleibliche und körperliche Erfahrung kultiviert wurden. Faktische Handlungen werden somit nah an Bewegungen und Gesten ausgeführt, die den alltäglichen Handlungsvollzügen der Performenden entlehnt sind und geschickt und sicher ausgeführt werden. Zum anderen fordert der forschend-performative, verfremdende Umgang mit Alltagsobjekten und impulsgebenden Materialien dazu heraus, referenzarme Handlungen zu entwickeln. Die Körperbetonung im Sinne eines bewussten und konzentrierten Handlungsvollzug spielt dabei sowohl in Bezug auf routinierte Handlungen als auch auf Handlungen, die am Material vollzogen werden, eine wesentliche Rolle.
Die Analysen haben darüber hinaus verdeutlicht, dass faktische Handlungen durchaus wiederholt erprobt werden müssen, insofern sich dieser grundlegende Handlungsmodus erst im Laufe eines körperlichen Lernprozesses einzustellen vermag (vgl. Vignette 2). Die drei aufgeführten Bezugskategorien erlauben es, konzentrierte Übungsimpulse zu entwickeln, um faktische Handlungen in der Performance herauszufordern, zu explorieren und reflexiv wahrzunehmen. Im Unterricht werden alle drei Bezugskategorien verhandelt und in Gesprächen reflektiert. Im Unterrichtsgeschehen wurden v.a. Übungen initiiert, in denen körper- und leibliche Aspekte in der Handlung bewusst betont und über Materialzugänge Handlungssequenzen in der Improvisation entwickelt werden. Den Lernenden wird in den Vermittlungssettings nachdrücklich abverlangt, betont aufmerksam in der Situation zu sein und sich den eigenen Handlungen gegenüber mit Konzentration zu widmen. -
Mit theatralischen Handlungen wird ein Modus des Performens gefasst, der artifizielle, überzogen betonte und bewusst einstudierte Handlungen markiert. Theatralische Handlungen weisen keine körperbezogene Notwendigkeit auf und stehen als darstellende Handlungen für etwas als etwas. In der Analyse der performativen Handlungen ist offenbar geworden, dass theatralische Handlungen v.a. auf intersubjektive Nachvollziehbarkeit zielen und auf vorab bestimmten Aussageintentionen beruhen. Im Unterricht wird diese Handlungsdisposition in der Nähe zum klassischen Schauspiel verortet und für die Lernenden veranschaulicht. Für die Gestaltung performativer Vermittlungssettings lässt sich schlussfolgern, dass lehr- und lernseitig vorab gesetzte Bedeutungen und Intentionen aufmerksam danach befragt werden können, bis zu welchem Grad sie handelnd transformiert werden können, ohne an intersubjektiver Nachvollziehbarkeit einzubüßen. Sich einer Nähe und Abgrenzung zum klassischen Schauspiel bewusst zu werden, tritt als wesentlicher Erkenntnisprozess in der Auseinandersetzung mit Performancekunst in Erscheinung (vgl. Vignette 3).
-
Demonstrierendes Handeln ist als spezifische Ausprägung eines verkörperten Abstraktionsprozesses zu verstehen. Die Analysen haben somit einen weiteren Handlungsmodus umrissen, der sich qualitativ zwischen faktischen und theatralischen Handlungen verorten lässt. Der Modus hat sich im Unterricht und in den Schüler*innenperformances in Momenten herauskristallisiert, in denen die Lernenden in der Körperarbeit an einer abstrahierenden Übersetzung von Ideen und Gestaltungsintentionen arbeiteten. Sprachbilder und Aussageabsichten werden durch körperliche Handlungen veranschaulicht. In graduellen Abstufungen wird auf ein Anderes gezeigt. Das Ausloten von Inhalt und Form in der körperlichen Handlung liegt diesem Abstraktionsprozess zugrunde. Demonstrierendes Handeln tritt in diesem Sinne als körpergebundene Explikation in Erscheinung. Der Umstand, dass Lernende im körperlichen Handeln Botschaften transportieren und zum Ausdruck bringen möchten, zeigt sich v.a. in den Vignetten aus dem Unterrichtsgeschehen eindrücklich (Lübke 2022). Über spezifische Aufgabenformate widmen sich die Lernenden der formalen Abstraktion und Verfremdung der eigenen Ausdrucksformen, binden diesen Abstraktionsprozess gleichzeitig inhaltlich an das Unterrichtsthema „Körper, Haut und Hülle“.
Besonders spannungsreich treten die Kippmomente zwischen den grundlegenden Modi des Performens in Erscheinung. Sie werden im Verlauf der Unterrichtseinheit sowohl von der Lehrerin als auch von den Lernenden wahrgenommen und reflektiert. In diesem prozesshaften Changieren zwischen faktischen, theatralischen und demonstrierenden Handlungen zeigt sich das Potenzial für die Gestaltung vielfältiger Zugänge im Performativen. Über spezifische Vermittlungsformate wird Aufmerksamkeit für das beschriebene Oszillieren zwischen den einzelnen Modi herausgefordert. Die Lernenden werden für Umbrüche und Kippmomente in den körperlichen Handlungen sensibilisiert, um die Qualität der einzelnen Modi gegebenenfalls zu konturieren und für die eigene Gestaltungsintention zu explorieren (ebd.).
In den eingangs aufgeführten Vignetten wird deutlich, dass diese grundlegenden Modi performativen Handelns von den Lernenden rezeptiv (vgl. Vignette 1), produktiv (vgl. Vignette 2) und reflexiv (vgl. Vignette 3) erschlossen werden können. Es zeigt sich, dass Performancekunstvermittlung auf Lernprozessen beruht, die sich an der bewussten Wahrnehmung des eigenen Handelns abarbeiten. Den eigenen Handlungen wird in der Exploration Raum gegeben, um sich in der intellektuellen und bewegten Auseinandersetzung an Routinen und Alltäglichem, an Bekanntem, aber auch Ungewöhnlichem zu reiben. Das Erfahren, Sehen-Können und Steuern-Können faktischer, demonstrierender und theatralischer Handlungen im Performativen vollziehen sich in einem Prozess körperfokussierter Auseinandersetzung. In den Vignetten wird deutlich, dass die Schüler*innen v.a. die Kippmomente zwischen den verschiedenen Modi zunächst zaghaft wahrnehmen und reflektieren können (vgl. Vignette 3).
In der Ergänzung der grundlegenden Handlungsmodi konnten in den Analysen des Untersuchungsmaterials spezifische Modi des Performens rekonstruiert werden. Sie weisen eine unverkennbare Eigenheit auf und treten lediglich in bestimmten Sequenzen performativer Handlungsvollzüge in Erscheinung:
- Rhythmische und choreografische Handlungen folgen einer bestimmten Taktung, im Sinne einer regelmäßigen Wiederkehr vorab erprobter und ausgehandelter Handlungseinheiten. Sie weisen eine Nähe zur Musik und zum Tanz auf, die in bestimmten Abschlussperformances sichtbar zum Ausdruck kommt. Besonders in der Auswahl der Songs, die eine rhythmische und choreografische Handlungsdisposition begünstigen, erlangt die Lebenswelt der Jugendlichen anschaulich Eingang in die Performances. Im analysierten Unterrichtsgeschehen treten Takt und Rhythmus v.a. über Zählzeiten und Variationen in einzelnen Übungen auf. Raumgreifende Ausdrucksformen, die innerhalb eines abgesteckten Rasters improvisiert entwickelt werden müssen, rufen ausladende, choreografische Handlungen hervor und erweitern das Handlungsrepertoire der Lernenden. Diese Zugänge offenbaren das Potenzial, den Körper in seinem raum-zeitlichen Gefüge erfahrbar zu machen und in Resonanz zu spezifischen Impulsgebern – sei es durch Sound, Musik oder Handlungen von Mitperformenden (vgl. Vignette 2) – zu verhandeln.
- Im Handeln für ein technisch Anderes kommt ein Modus des Performens zum Ausdruck, der sich intermedial vollzieht. Die Lernenden nutzen Video- und Bildaufnahmen, um Körperausschnitte bewusst im Detail zu zeigen und als erweiterte Ebene der Bedeutungsgenerierung in ihren Performances zu integrieren (vgl. Vignette 3). Handlungen für ein technisch Anderes zeigen sich in den Analysen als digital gebrochene, verkörperte Introversion und Selbstbezüglichkeit, die über Projektionen und Montagen von Bildern nach außen getragen werden und die körperlichen Livehandlungen der Lernenden ergänzen. Videos und Fotografien ermöglichen eine spezifische Nähe zur individuellen Körperlichkeit und haben sich in den Analysen als dynamische künstlerische Begleitpraxis offenbart, innerhalb derer die Lernenden engagierte Gestaltungsideen umsetzen. Aus der Lektüre der Vignetten ist hervorgegangen, dass die digitalen Medien lehrseitig handlungsorientiert und äquivalent zu herkömmlichen künstlerischen Materialien ins Unterrichtsgeschehen integriert werden (Lübke 2022). Die Ergänzung durch digitale Bildebenen und der Einsatz der Körper als Display erregt bei den Lernenden motivierende Aufmerksamkeit und knüpft an ihren lebensweltlichen Umgang mit diesen Medien an.
- Materialhandlungen treten in allen performativen Ausdrucksformen als spezifischer Modus des Performens in Erscheinung. Über kunstgenuine Materialien, Gebrauchsgegenstände und Alltagsobjekte werden die Lernenden aktiviert, vielgestaltige performative Ausdrucksformen zu entwickeln. Dabei haben sich zwei Strategien herauskristallisiert, die die beobachteten Materialhandlungen qualitativ bestimmen. Zum einen explorieren die Lernenden die Materialien in ihrer Eigensinnlichkeit. Das heißt, sie machen die Materialität der Dinge performativ sichtbar und reagieren handelnd auf ihre Beschaffenheit. Dabei wird v.a. in den Abschlussperformances ersichtlich, dass die eingesetzten Materialien präsentisch ausdifferenziert werden. Zum anderen inszenieren die Lernenden die zur Verfügung stehenden Materialien im performativen Prozess. Diese Dynamik lässt sich in den Abschlussperformances an Materialhandlungen festmachen, die auf etwas zulaufen und ein sich aus der Materialität bedingtes Ziel verfolgen (vgl. Vignetten 1 und 3). In der erweiterten Vignettenlektüre hat sich gezeigt, dass die Lernenden mit einem wiederkehrenden Materialarrangement konfrontiert werden, welches als aktivierender Impulsgeber Aufmerksamkeit und Resonanz im Handeln erzeugt. Das Material wurde dezidiert als ein Dialogpartner konzipiert, dem in den Performances eine gleichberechtigte Stellung zuzuschreiben ist. Der Materialität des Körpers wird dabei eine besondere Bedeutung beigemessen. In diesem Sinne zeigt sich der Zugang zum performativen Arbeiten über die explorative Verhandlung unterschiedlichster fremder und eigener Materialitäten als äußerst reizvoll und impulsgebend (Lübke 2022).
Fazit
Abschließend sollen die vorangestellten Überlegungen mit dem Fragehorizont „Was tun? Handlungspraxis und Handlungsverantwortung in der Kulturellen Bildung“ konfrontiert und diskutiert werden. Als Explorations- und Ausdrucksform im Kunstunterricht materialisiert sich Performancekunstvermittlung in der körperlichen Begegnung zwischen Individuen, aber v.a. auch in der Interaktion zwischen Individuen und Dingen bzw. Artefakten des Sozialen, die in der Performance zum Handlungsgegenstand gemacht werden. Diese begleitenden Entitäten können als „materielle Partizipanden des Tuns“ (Hirschauer 2015:74) betrachtet und als miteinander verwobene Aspekte der performativen Praxis erschlossen werden. In praxistheoretischer Perspektive lässt sich dementsprechend zielgerichtet und offen danach fragen, welche spezifischen Beiträge Performancekunst als Bildungspraxis von ihren unterschiedlichen Partizipanden gewinnt, aber auch verlangt: In der praktisch-handelnden, an Routinen, Automatismen und Stabilisierung geformten Körperlichkeit vollzieht sich im performativen Gestalten eine Transformation, die dem Eigensinn des Körpers Raum gibt und Impulse für das Entstehen von Neuem setzt. In der Performancekunst eröffnen sich „in den Schwellenzuständen einer performativen Befremdung des Gewohnten […] Möglichkeiten eines anderen Handelns und somit einer Veränderung des Selbst“ (Alkemeyer 2018:73).
Die Auseinandersetzung mit Performancekunst in der Kunstpädagogik wird dementsprechend getragen von einem anspruchsvollen und herausfordernden Bildungsverständnis. Performancekunst lenkt – so der Grundtenor im Fachdiskurs wie auch das Fazit der Forschungsarbeit – die Aufmerksamkeit auf die Ressourcen von Körper und Leib, indem sie distanzlos in die Lebenswirklichkeit der beteiligten Subjekte hineinwirkt, die Sinnfragen des Daseins berührt und die tagtägliche Erfahrung von Widersprüchlichkeiten verhandelt (Mark 2015:111). Die Hoffnung gegenüber dieser Kunstform, aber auch die Skepsis ihr gegenüber sind groß, scheint sie doch einem tradierten Rationalitätsbegriff schulischen Lernens bewusst etwas entgegenzusetzen zu wollen. Die Untersuchungen und Überlegungen möchten einen Beitrag dazu leisten, diese Hoffnung aus der Unterrichtspraxis heraus zu fundieren, zu der im Gymnasialbereich nach wie vor wenige empirische Studien vorliegen.
Die gegenwärtige Veränderung der Bedeutung von Körper und Leib unter postdigitalen, vielleicht auch posthumanen Vorzeichen lässt sich in diesem Sinne weniger als Gegensatz zu den Untersuchungsergebnissen verstehen, als vielmehr als eine dringliche Bestätigung derselben. Der Körper ist und bleibt zentrales Medium ästhetischer Bewusstwerdung, in welchem die divergierenden Kräfte einer Gesellschaft im Wandel aufeinandertreffen. Somit ist der Aussage der Kunstwissenschaftlerin Magdalena Kröner dezidiert zuzustimmen, wenn sie betont: „Der Körper dient […] als universelles Medium des kollektiven Unbewussten; als unmittelbarste Projektionsfläche der Phantasmen und Dystopien von Jetztzeit und Zukunft. Der Körper bündelt und kanalisiert die gemeinschaftlichen Phantasien davon, was ein Mensch sei und was ihn ausmache – und was nicht.“ (Kröner 2020:58)
Kulturelle Bildung kann sich dazu positionieren und in der Auseinandersetzung mit den performativen Künsten selbst facettenreiche Gestaltungskonzepte und -strategien entwickeln, Kinder und Jugendliche im Schulkontext mit den Imaginationen, Visionen und Utopien des Körpers zu konfrontieren, „um uns zu fragen, welche Erkenntnisse, Paradoxien und Konsequenzen sich aus dem menschlichen Gebundensein an eine sterbliche Hülle ableiten lassen, und was davon als Potential und Motor einer veränderlichen, offenen, integrativen Gesellschaft genutzt werden kann“ (ebd.:70).
Die Vielseitigkeit der Handlungsvollzüge markiert Performance im Kunstunterricht als komplexe künstlerische Praxis, die sich einer einseitigen Engführung entzieht. In der Betrachtung des Unterrichtsgeschehens und der im Unterricht aufgeführten Abschlussperformances ist offenbar geworden, dass es weniger um eine definitorische Schärfe in der Abgrenzung verschiedener Handlungsformen geht, als vielmehr um die zu bewältigende Herausforderung, Performance als künstlerische Ausdrucksform über genaue und sensible Auseinandersetzungen körperbetonender Handlungen zu gestalten. Performancekunst zeigt sich als Körperarbeit, die sich dezidiert zwischen den Disziplinen Kunst, Tanz und Theater positioniert. Weltbilder und Bildwelten emergieren in diesen Handlungsvollzügen und gelangen in der Exploration eines Materials, über faktische oder zugespitzte Handlungen, über das Aufgreifen eines Rhythmus, über das Ausführen einer choreografischen Handlungsabfolge oder im Performen für einen digitalen Bildträger zu einer komplexen Dichte künstlerisch-ästhetischer Gestaltungsmöglichkeiten. Über ergebnisoffene Übungsformate werden die Lernenden dazu angeregt, sich im Prozess Handlungsentscheidungen abzuringen und Verantwortung für sich und die Gruppe in der situativen Gestaltung zu übernehmen. Eine diffus lockere Arbeitsatmosphäre erweist sich in diesen Zusammenhängen in der komplexen Gruppendynamik eines Kunstkurses als unabdingbare Ausgangslage für eine offene Exploration körperlicher Handlungen, die es im Prozess zu fokussieren gilt. In den Abschlussperformances haben die Lernenden gezeigt, dass sich diese Ernsthaftigkeit den eigenen Handlungen gegenüber einzustellen vermag. Die erarbeitete Systematisierung kann als Angebot verstanden werden, die verschiedenen Handlungsmodi in pluralen Vermittlungssituationen aufzuzeigen und über vielseitige Übungsformate in einer Spannbreite zwischen Symbiose und kleinteiliger Ausdifferenzierung erfahr- und intersubjektiv nachvollziehbar zu machen.