Der Körper als Wissensobjekt. Ein Beitrag zum kulturbildenden Heterogenitäts- und Inklusionsdiskurs
Abstract
Insbesondere in seiner Materialität bildet der Körper eines der prägendsten Identitäts- und Differenzierungsmerkmale; die Frage nach seiner Ab/Normativität berührt mehrere Diversitätskategorien. Wie verhält sich die Materialitätsforschung zum materiellen Aspekt des Körpers und zu der Diversitäts- bzw. Heterogenitäts- und Inklusionsdebatte? Und wie kann dieser Zusammenhang für den Bildungskontext fruchtbar gemacht werden?
Im Mittelpunkt des Beitrags steht der Körper als epistemisches bzw. Wissensobjekt – in seiner Vorläufigkeit und Entwicklungsdynamik sowie mit seinem inklusiven Potenzial, das sich aus der These der Wandelbarkeit und der bindenden Rolle der Wissensobjekte für Kollektive bei Karin Knorr-Cetina herleitet. Diese These wird anhand ausgewählter konstruktivistischer Ansätze der Materialitätsforschung weiterverfolgt: der ‚kulturellen Biografien der Dinge‘ von Igor Kopytoff, der ‚Rahmen-Analyse‘ von Erving Goffman und der ‚doppelten Narrative‘ von Rom Harré. Der Beitrag demonstriert, wie das Wissen um die Sprache des epistemischen Objektes Körper manche eingleisigen Denkmuster, Hierarchien und Machtordnungen zu hinterfragen vermag und wie es im Dienste der Inklusion und Teilhabe innerhalb heterogener Kollektive und im Kontext der Kulturellen (Lehrer*innen-)Bildung eingesetzt werden kann.
Körper und Objekte des Wissens
Neben der physiologischen und performativen Dimension ist die Materialität des Körpers eine wichtige Facette seiner Erfassung (Hardt 2014:189). Die Interaktion zwischen diesen Dimensionen des Körpers prägt den kulturellen Umgang mit ihm. Auch wenn der Körper dabei in seinen diskursiven Zuschreibungen nicht aufgeht und gerade weil er „als eine historisch sich wandelnde, anthropologische Konstante“ (ebd.:190) und nur im Spannungsfeld „von sich verändernden und teilweise miteinander konkurrierenden Definitionen beschrieben und interpretiert“ (ebd.) werden kann, spielt seine konstruktivistische Auffassung, insbesondere im Kontext von Identitätsfragen, eine bedeutende Rolle.
Wenn der materielle Aspekt eine wesentliche Komponente des Körpers ausmacht, dann könnte man den Versuch unternehmen, den Körper unter anderem aus der Perspektive der Materialitätsforschung zu betrachten, die konkrete materielle Phänomene, wie etwa Dinge, Lebewesen, Stoffe oder Medien, untersucht (Soentgen 2014:226). Ich lasse mich auf dieses Experiment ein und werde auf diejenigen Konzepte der Materialitätsforschung eingehen, die mir speziell für den Bildungskontext und insbesondere für die Heterogenitäts- und Inklusionsdebatte wichtig zu sein scheinen. Ich versuche, den Körper als epistemisches oder Wissens-Objekt zu betrachten und daher dessen Forschungscharakter und somit die Vorläufigkeit und Entwicklungsdynamik des Wissens (Rheinberger 2014:193) in den Vordergrund zu rücken. Ferner werde ich darlegen, wie das Wissen um die Materialität und die Sprache der (Wissens-)Objekte, unter anderem des Körpers, manche eingleisigen Denkmuster, Hierarchien, Dualismen, Machtordnungen hinterfragen und wie es im Dienste der Inklusion und Teilhabe innerhalb heterogener Kollektive und im Kontext der (außer-)schulischen (Lehrer*innen-)Bildung eingesetzt werden kann. Um diesem Vorhaben gerecht zu werden, werde ich dezidiert konstruktivistische Ansätze heranziehen. Sie arbeiten nachdrücklich mit gesellschaftlichen Konstruktionen von Wirklichkeiten und Wissen sowie mit daran anknüpfenden Machstrukturen insbesondere auf dem kulturellen und kulturbildenden Terrain. Im Zuge der Beschäftigung mit dem Körper und seiner Materialität im Bildungskontext scheinen mir für meine Argumentation Karin Knorr-Cetinas (1998) Gedanken zu Wissensobjekten und Wissensgemeinschaften, die ich in diesem Beitrag allgemein als Gemeinschaften des Wissensaustauschs und Lernens verstehe, fruchtbar zu sein. Ich werde mich vor allem auf Knorr-Cetinas Ausführungen zu dem Wesen, der Wandelbarkeit und der bindenden Rolle der Wissensobjekte für Kollektive stützen.
Knorr-Cetina stellt „für spätmoderne Gesellschaften spezifische Strukturen“ (ebd.:90) in Aussicht, „welche durch die Vermischung des Sozialen im bisherigen Sinn mit anderen Kulturen gekennzeichnet sind“ (ebd.). „Die ‚andere‘ Kultur, die hier relevant ist […], ist die von Wissen und Expertise“ (ebd.:91). Unter Wissenskulturen versteht die Soziologin „diejenigen Praktiken, Mechanismen und Prinzipien, die, gebunden durch Verwandtschaft, Notwendigkeit und historische Koinzidenz, in einem Wissensgebiet bestimmen, wie wir wissen, was wir wissen.“ Denn „Wissenskulturen generieren und validieren Wissen“ (Knorr-Cetina 2002:11). Nach Knorr-Cetina schließen „Wissenskulturen“ ihre Fäden in soziale Prozesse ein, es erfolgt eine „‚Ausschüttung‘ von Wissensrelationen in die Gesellschaft“ (ebd.:93). Demnach sind „in einer postsozialen Wissensgesellschaft […] wechselseitig exklusive Definitionen von Wissen und Gesellschaft theoretisch nicht länger adäquat; es geht darum zu verfolgen, wie Wissensprozesse konstitutiv für soziale Beziehungen geworden sind“ (ebd.). Und wenn diese Annahme richtig ist – so Knorr-Cetina –, dann bedeutet „die expandierende Rolle von Expertensystemen […] eben nicht nur das Vorhandensein von mehr Wissensergebnissen, sondern der wissensbezogenen Strukturen und Prozessen selbst“ (ebd.).
Da sich nun Wissenskulturen um Objektwelten drehen, müssen diese in „eine erweiterte Konzeption von Sozialität und sozialen Beziehungen einbezogen werden“ (ebd.:93). „Individualisierung erscheint dann mit Objektualisierung verflochten – mit einer zunehmenden Orientierung an Objekten als Quellen des Selbst, relationaler lntimität, geteilter Subjektivität und sozialer Integration“ (ebd.). Dabei ist es wichtig zu betonen, dass Knorr-Cetinas objektorientierte Sozialität Objekte einschließt, auf diese jedoch nicht beschränkt ist. In Wissenskulturen funktionieren Objekte unter anderem als „Integrationsmittel“, „wobei sie Einzelexperten überleben und kollektive Konventionen bzw. moralische Ordnungen implizieren“ sowie „so etwas wie emotionale ‚Heimaten‘ für das Experten-Selbst“ bilden (ebd.:95). Knorr-Cetina definiert Wissensobjekte wie folgt:
„Wissensobjekte haben die Kapazität, unbeschränkt ‚entfaltbar‘ zu sein. […] Wissensobjekte erscheinen […] wie offene Laden, die mit Akten gefüllt sich weit in die Tiefen eines dunklen Schranks erstrecken. Da Wissensobjekte sich immer im Prozeß [sic!] materialer Definition befinden, erlangen sie ständig neue Eigenschaften und wechseln diejenigen, die sie haben. Dies bedeutet jedoch auch, daß [sic!] Wissensobjekte nie völlig erreichbar sind, daß [sic!] sie, wenn man will, nie sie selbst sind. Was wir im Forschungsprozeß [sic!] antreffen, sind Repräsentationen oder Substitute, die einen grundsätzlicheren Objektmangel verdecken. Auf der Seite des Subjekts korrespondiert dieser Mangel einer Struktur des Wünschens/Wollens, einem ständig sich erneuernden Interesse an einem Wissen, das niemals durch endgültiges Wissen erfüllt wird. Wie Untersuchungen der Wissenschaft gezeigt haben, kommen Forschungsprozesse nur selten zu einem Ende derart, daß [sic!] alles, was über ein Objekt wissenswert erscheint, als bekannt gilt. Vielmehr wendet sich das Interesse in etwas andere Richtungen, in serpentinenhaften Bewegungen, die als Suchketten beschrieben werden können und durch Objektmangel angeführt sind.“ (ebd.:99f.)
Das entscheidende Merkmal der Wissensobjekte ist demnach „ihr Mangel an ‚Objekthaftigkeit‘“ und „ihr sich verändernder, entfaltender Charakter“ (ebd.:102), der die Existenz einer Vielzahl ihrer Formen erlaubt und deswegen „ihre bindende Rolle für Kollektive“ (ebd.) offenlegt. Gerade so ein Objekt kann als „Einbettungsumwelt für das Selbst“ (ebd.:114f.) fungieren, und „diese Art objektualer Integration kann ‚Denkgemeinschaften‘ konstituieren“ (ebd.). Da sich nun die Wissenskulturen auf die gesamten gegenwärtigen gesellschaftlichen Relationen erstrecken, ist man auch im Alltag zunehmend mit solchen Objekten konfrontiert, insbesondere da, wo Dinge „Wissensobjektqualitäten annehmen“ (ebd.:102).
Trotz ihrer zeitdiagnostischen Ausrichtung weisen Knorr-Cetinas Ausführungen zu (Wissens-)Objekten einen generalisierenden Ansatz auf. Sie führen vor, warum und wie eine intensivere Auseinandersetzung mit (Wissens-)Objekten in Umbruchszeiten erfolgen kann – und zwar wenn diese zu Projektionen gesellschaftlicher Wandlungs- und Transformationsprozesse werden.
Für den Kontext Kultureller Bildung und für die Heterogenitäts- und Inklusionsdebatte in einer Umbruchszeit, die durch Migrationsbewegungen und (kulturelle) Vielfalt, und somit durch divergierende Relationen zwischen Objekten wie Subjekten, geprägt ist, scheint mir eine solche Auffassung der (Wissens-)Objekte ergiebig zu sein. Im Bildungskontext im Allgemeinen dürfte sie vor allem für epistemische Überzeugungen der Lehrenden von Relevanz sein. Ich greife Knorr-Cetinas These über den sich wandelnden Charakter der (Wissens-)Objekte und deren inkludierende, bindende Rolle für Kollektive oder Denkgemeinschaften auf und mache sie für meine weiteren Ausführungen fruchtbar: Ich knüpfe sie an die Aufgabe Kultureller Bildung an, der aufkommenden und bestehenden Diversität beziehungsweise Heterogenität positiv und produktiv zu begegnen sowie Sozialisations- und Inklusionsprozesse, insbesondere im (außer-)schulischen und im Lehrer*innenbildungs-Kontext, zu fördern und zu begleiten.
Da sich die Integration (im Bildungskontext Inklusion) in einem Nationalstaat aufgrund der Normativität von Werten als problematisch erweist, da diesen Werten in immer pluraler werdenden Gesellschaften kein gemeinsamer Konsens zugrunde liegt und sie ein Ergebnis unterschiedlicher Denktraditionen und Kulturen darstellen, folglich ohne negative Konsequenzen autoritär nicht aufgezwungen werden können, kann die inkludierende Funktion der (Wissens)Objekte – insbesondere für Kulturelle Bildung – gute Dienste erweisen. Denn: Folgt man der Argumentation von Knorr-Cetina, so dürften Wissensgesellschaften, und somit Wissens- und Bildungseinrichtungen, aufgrund der Multiperspektivität der Lern- und Erkenntnisprozesse über ein besonders hohes Inklusionspotenzial verfügen.
Nun: Wie kann man Bildungseinrichtungen für die Multiperspektivität des Denkens sensibilisieren und eine multiperspektivische Bildungsarbeit fördern? Wie könnte eine objektuale Integration und die Impulsgebung für die oben erwähnten Denkgemeinschaften in Bezug auf den Umgang mit dem Körper als (Wissens-)Objekt konkret aussehen und für die Praxis Kultureller Bildung fruchtbar gemacht werden? Die reflektive Arbeit an dem sich wandelnden Wesen der (Wissens-)Objekte und den Nutzen einer solchen Auffassung der Wissensobjekte bzw. des Körpers für den bildungskulturellen Heterogenitäts- und Inklusionsdiskurs versuche ich exemplarisch anhand dreier theoretischer Konzepte der Materialitätsforschung und deren Reflexion in (schulischen oder universitären) Lernsettings zu verdeutlichen.
Körper und kulturelle Biografien der Dinge
Den Wandel in der Stiftung der Bedeutung von Objekten greift der US-amerikanische Anthropologe Igor Kopytoff (2013) auf und reflektiert ihn anhand des Konzeptes der „kulturellen Biografie der Dinge“, wobei Kopytoffs Ding-Konzept sowohl Lebewesen als auch Nicht-Lebewesen miteinschließt, was der Anthropologe am Beispiel des Sklavenkörpers verdeutlicht. In der Auseinandersetzung mit den Objekten plädiert er für eine prozessuale Perspektive, die den Vorgang der sozialen Transformation der Artefakte miteinschließt und über ihren fixierten, eindeutigen Status hinausgeht. In den Mittelpunkt seines Konzeptes rücken somit Dinge, Objekte im Lichte kultureller Gestaltung ihrer Biografien (ebd.:65). Denn einer der Zugänge zur Einsicht in eine Kultur liegt im Verständnis dessen, welche Biografie ihrer Subjekte und Objekte die Verkörperung einer erfolgreichen sozialen ‚Karriere‘ darstellt (ebd.:66). Nicht nur in Bezug auf Menschen, sondern auch bezüglich der Dinge könnte man sich bei der (Re-)Konstruktion der Biografien fragen: Was sind die biografischen Möglichkeiten des Objektes (oder Subjektes) hinsichtlich seines Status, der Epoche oder des Kulturraums seiner Existenz, und wie werden diese Möglichkeiten ausgeschöpft? Wie ist das Objekt (oder Subjekt) entstanden, und wer hat es hergestellt oder konstruiert? Wie war die (Vor-)Geschichte des Objektes (oder Subjektes), und was wäre seine ideale ‚Laufbahn‘ aus einer bestimmten kulturellen Perspektive? Was wären die gängigen Epochen oder Lebensperioden seiner Existenz, und wie sind sie kulturell markiert? Wie ändert sich die Bestimmung des Objektes (oder Subjektes) im Laufe der Zeit, und was passiert mit ihm, wenn es nicht mehr von Nutzen ist (ebd.:66f.)?
Kopytoff ist der Meinung, dass die biografischen Details der Dinge eine Menge historischer, politischer, ästhetischer Urteile und Werte, die die Wahrnehmung der Objekte prägen, offenbaren. Sie helfen, die Schattenaspekte ihrer Existenz ans Licht zu bringen sowie ihre kulturell bedingten Umdefinitionen und Rollenzuweisungen nachzuvollziehen (ebd.:67). Bei der Erstellung und beim Lesen der kulturellen Biografien der Dinge ist es wichtig zu berücksichtigen, dass es mehrere Biografien eines Objekts geben kann: ökonomische, soziale, politische, ästhetische usw. Aus kultureller und kulturwissenschaftlicher Sicht ist der Gehalt der Biografie genauso wichtig wie die Perspektive, aus der sie verfasst wurde. Denn Biografien sind kulturell konstruierte Entitäten, die mit spezifischen Bedeutungen versehen und innerhalb der kulturell konstituierten Kategorien (re-)klassifiziert werden (ebd.:68).
Die Rolle und der Rang der Objekte, ihre Objekthaftigkeit werden konstruiert (ebd.:90), und Kultur repräsentiert eine kollektiv geteilte kognitive Ordnung innerhalb einer heterogenen Welt. Hierzu schreibt Kopytoff:
„Culture serves the mind by imposing a collectively shared cognitive order upon the world which, objectively, is totally heterogeneous and presents an endless array of singular things. Culture achieves order by carving out, through discrimination and classification, distinct areas of homogeneity within the overall heterogeneity.” (ebd.:70)
Aus dieser Spannung zwischen kulturellen, kollektiven und individuellen Normen und Werten kann das ‚Drama der Identitäten‘ (ebd.:89) resultieren.
Möchte man im kulturbildenden Kontext der Heterogenitäts- und Inklusionsdebatte über den Körper der Anderen, beispielsweise über einen migrantischen oder einen als behindert markierten Körper nachdenken, drängen sich angesichts des vorgestellten Konzepts von Kopytoff etwa folgende Reflexionsfragen auf, die in universitären, ferner schulischen Lernsettings (didaktisch) bearbeitet werden können: Was für Biografie(n) könnte der behandelte Körper haben, und wie könnte(n) sie aussehen? Können alternative Biografien sichtbar gemacht oder entworfen werden? Welche Schattenseiten der Existenz des Körpers konnten ans Licht gebracht werden? Wie verhalten sich die Biografien des Wissensobjektes Körper zu den individuellen und kollektiven Werten und Einstellungen der Gruppenmitglieder? Inwiefern vervollständigen die einzelnen Biografien die Gesamtauffassung des Körpers, und wie tragen sie zur ‚Entdramatisierung‘ des ‚Identitäten-Dramas‘ bei?
Aus einer von Kopytoff inspirierten, multiperspektivischen Denkarbeit am Körper resultieren unweigerlich mehrere unterschiedliche Körperbiografien bzw. Körperkonzepte, die sich sowohl in Zeit als auch in Raum, also historisch-kulturell, nachverfolgen lassen. Die Existenz und Normativität eines Körperkonzeptes wird dabei infrage gestellt; andere, alternative Körperkonzepte und -normen werden ans Licht gebracht und gewinnen an Gewicht. Die Heterogenität der Körperbiografien bzw. Körperkonzepte selbst wird zu der Norm, die den Gedanken der Inklusion der Körper der Anderen miteinschließt.
Lernende, die aus unterschiedlichen (kulturellen) Kontexten stammen und mit divergierenden Körperlichkeiten vertraut sind, können zur Gestaltung und Deutung der Biografien der Körper einen wertvollen Beitrag leisten. Und die Heterogenität einer Gruppe kann für multiperspektivische Erkenntnisprozesse beispielhaft genutzt werden. Denn in heterogenen Denk- und Lerngemeinschaften werden kulturell kodierte Normen in Bezug auf unterschiedliche Biografien der Körper eher reflektiert und hinterfragt. Schließlich kann die Beschäftigung mit kulturellen Biografien der Körper für gelingende Inklusionspraktiken und eine wertschätzende Haltung gegenüber alternativen Sichtweisen und (Körper)Konzepten fruchtbar gemacht werden.
Körper und die Rahmen-Analyse
Mein weiterer Anknüpfungspunkt für das Inklusionspotenzial des Körpers als (Wissens-)Objekt ist das bekannte Konzept der Frame- oder Rahmen-Analyse des kanadischen Soziologen Erving Goffman (1977). Der Soziologe bezieht sich auf die Biografie der Objekte und Subjekte und schreibt hierzu:
„Jeder hergestellte Gegenstand und jeder Mensch, der zu einer gerahmten Tätigkeit gehört, hat eine kontinuierliche Biographie [sic!], das heißt, ein verfolgbares Leben (oder dessen Überreste) vor und nach dem Ereignis, und jede Biographie [sic!] garantiert eine Kontinuität absoluter Unterscheidbarkeit, das heißt Identität.“ (ebd.:316)
Doch diese Kontinuität wird uns nicht durch die Kontinuität der Objekte oder Subjekte bestimmt, „sondern durch unsere Vorstellungen von der Kontinuität“ (ebd.:330).
Nun: Was versteht Goffman unter einer gerahmten Tätigkeit oder einem Rahmen? Frames beziehungsweise Rahmen sind Organisationsprämissen für Erfahrungen innerhalb primärer, natürlicher und vor allem sozialer Systeme (ebd.:31), die vornehmlich „erkannt" und nicht „erzeugt werden", und „die im Bewußtsein [sic!] und im Handeln vorhanden sind: Die Menschen haben eine Auffassung von dem, was vor sich geht; auf diese stimmen sie ihre Handlungen ab, und gewöhnlich finden sie sie durch den Gang der Dinge bestätigt“ (ebd.:274). Im Alltag werden Rahmen hauptsächlich wahrgenommen und nicht aktiv oder bewusst gestaltet. Sie sind das Resultat der menschlichen Anteilnahme an den Definitionen einer Situation (ebd.:19); zugleich stehen sie „für das Verstehen von Ereignissen zur Verfügung“ (ebd.:18) und gewähren eine gewisse Orientierung bei der Interpretation und Kategorisierung der Objekte oder Erfahrungen. Primäre Rahmen einer sozialen Gruppe bilden „einen Hauptbestandteil von deren Kultur“, deren „System von Vorstellungen, ihrer ‚Kosmologie‘“ (ebd.:37). Sie sind Episoden oder Facetten der Wirklichkeit, die durch zeitliche und räumliche „Klammern“ markiert sind und innerhalb derer Subjekte und Objekte unterschiedliche Rollen oder Funktionen ausführen (ebd.:57), zum Beispiel als Studierende oder Dozierende an der Universität, Mutter, Vater, Ehegatte oder Tochter zu Hause. Die Rollen und Funktionen der Akteure, die zeitlichen und räumlichen Grenzen der Rahmen, die Definition des Realen können – je nach „Modulen“ und „Modulationen“ (ebd.:55) bzw. Transformationen der Rahmen – variieren, beispielsweise, wenn es sich um ein ‚reales‘ Ereignis oder um dessen (theatrale) Inszenierung handelt. Für die Anzahl der Modulationen ist keine objektive Grenze zu erkennen, „mehrere erneute Modulationen sind möglich“ (ebd.:94). Und jede Transformation kann man sich als „Hinzufügung einer Schicht zu dem Vorgang“ vorstellen (ebd.:96).
Jeder Rahmen enthält einen „offiziellen Brennpunkt der Aufmerksamkeit“, einen zentralen Handlungsentwurf, einen „Hauptvorgang“ oder einen „Hauptkanal“ (ebd.:233). Die gleichzeitig (und räumlich) parallel ablaufenden Vorgänge, „Verhaltensweisen und -ströme“ werden meistens, „sofern von ihnen überhaupt Notiz genommen wird, als etwas Nebensächliches behandelt“ (ebd.:224). Sie sind dem offiziell vorherrschenden Hauptanliegen unterworfen und gelten unter Umständen als außerhalb des Rahmens stehend (ebd.). Eine solche Organisation der Rahmen geht auf die Begrenzung der menschlichen Wahrnehmung zurück, hier handelt es sich um „eine Art Grenze der Einsichtnahme“ (ebd.:239). Die Hauptlinie des Handelns kann jedoch von Fall zu Fall, und abhängig von zeitlichen und räumlichen Konditionen, unterschiedlich wahrgenommen werden (ebd.:224). Akteure oder Handlungen außerhalb des Rahmens können – „als wahrnehmbarer Reiz“ (ebd.:240) – mitunter als bedeutsam eingestuft werden, ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken und das Reframing beziehungsweise die Neurahmung auslösen.
Eines der Ziele der Rahmen-Analyse ist es demnach, die Rahmen auseinanderzuhalten und die menschliche Fähigkeit vor Augen zu führen, „gleichzeitig verschiedene Ebenen hinzunehmen, auf denen über verschiedene Aspekte des gleichen Materials gesprochen wird“ (ebd.:255). Die Vielfalt der Rahmen resultiert unter anderem aus der Vielfalt der Wahrnehmungsperspektiven und bedingt zugleich die Vielfalt der Rollen oder der Funktionen der Akteur*innen der Rahmen. In dieser Vielfalt und Vielschichtigkeit schwindet die verderbliche Einseitigkeit der Unterscheidung zwischen dem Wesen des Akteurs bzw. der Akteurin, das oft irrtümlicherweise als etwas „Wirklicheres“ und „Tieferes“ verstanden, und seiner bzw. ihrer Rolle, die „als etwas ‚rein‘ Soziales“ (ebd.:297f.) gedacht wird. Dieser Spaltung und Grenzziehung zwischen dem „Wesen“ und der „Rolle“ der Akteur*innen stellt Goffman „transformierte Formen des ganzen“ (ebd.:303) gegenüber, bei denen es sich um „ein Stück soziale Kategorisierung [handelt], das heißt soziale Identität, und nur dadurch ein bißchen [sic!] persönliche“ (ebd.:315).
Im Grunde geht es Goffman um die soziologische Untersuchung der Konstruktion der Inszenierung und der Verwandlung der Wirklichkeit, auch allerlei Täuschungen, denen selektive Aufmerksamkeit des menschlichen Handelns zugrunde liegt und die auf plurale Realitäten hinauslaufen können: Hier vermischen sich unterschiedliche Wirklichkeitsebenen sowie Wirklichkeit und Fiktion, wobei der Begriff „wirklich“ „[oft] lediglich zur Bezeichnung eines Unterschieds“ (ebd.:602) verwendet wird, und die Modulationen des theatralen Rahmens als „Nachahmungen dramatischen menschlichen Handelns“ (ebd.:156) fungieren.
Diese „Dramaturgie“ des menschlichen Handelns ist durch „kulturelle Normen“ und „soziale Rollen“ geprägt, die aus dem „geschichtete[n] Abglanz eines Urbildes, das selbst einen völlig ungewissen Wirklichkeitsstatus hat“ (ebd.:604), schöpfen. Die Menschen stützen das, „was sie als Organisation ihrer Erfahrung verstehen“, durch „ein System von Geschichten mit Moral […] und anderen Drehbüchern, die höchst elegant eine rahmenbezogene Auffassung von der Beschaffenheit der Welt bestätigen“ (ebd.:605). Des Öfteren wird diese Auffassung für selbstverständlich gehalten. Die vergleichende Analyse und die (Re)Konstruktion unterschiedlicher Seinsebenen und Rahmen ist eine Möglichkeit, aus dieser unbewussten Selbstverständlichkeit herauszukommen (ebd.:606). So geht es bei der Rahmen-Analyse weniger um konkrete Rollen oder Wesen der Akteur*innen, sondern eher um deren Modulationen bzw. Transformationen: Denn „[e]s liegt in der Natur des Rahmens, daß [sic!] er seine eigene Neurahmung vorzeichnet“ (ebd.:619).
Goffmans Rahmen-Analyse könnte in Bezug auf Objekte und Subjekte in zweierlei Hinsicht gelesen werden: Zum einen könnte deren Lektüre und Anwendung Objekte oder Subjekte betreffen, die in unterschiedlichen Rahmen auftreten und deswegen ihre (häufig verborgenen, ignorierten oder widersprüchlichen) Facetten offenbaren. Zum anderen könnten Objekte und Subjekte selbst zur Konstruktion von Rahmen beitragen und somit bestimmte Erwartungen hervorrufen und Hinweise auf bestimmte Verhaltensmuster geben oder diese ändern. Nach Goffman wäre es weniger wichtig, was das Geheimnis des Wesens eines Objektes oder Subjektes auszumachen scheint. Entscheidend ist, wie sich sein vielschichtiges und komplexes Wesen oder sein Ganzes in unterschiedlichen Rahmen und Modulationen zeigt und entfaltet. Erst diese mannigfaltigen, nicht identischen, situativen Perspektiven auf das Objekt oder Subjekt und dessen Verwandlungen ergeben seine ganzheitliche Identität oder Biografie. Die Erkundung und das Sammeln der Identitätsausprägungen des Objektes oder Subjektes im Prozess seiner ständigen Neudefinition und Neurahmung ist eine der spannendsten Aufgaben der Rahmen-Analyse.
Diese Aufgabe kann wiederum als Reflexionsarbeit bei (außer-)schulischen Lernangelegenheiten und in universitärer Lehrer*innenbildung – im Bereich Kultureller Bildung und im Kontext der Heterogenitäts- und Inklusionsdebatte – gestaltet werden. Diese Reflexion kann am Beispiel des Körpers der Anderen, zum Beispiel eines migrantischen oder eines als behindert markierten Körpers, erfolgen. Folgende Fragen wären hier angebracht: Was macht den Rahmen des Körpers aus, und welchen Einfluss übt der Rahmen auf den Körper aus? Oder: Wie trägt der Körper zur Schaffung des Rahmens bei? Wie ändert sich der Rahmen, wenn der Körper aus ihm entfernt wird, und welche Funktion erfüllt er in einem anderen, realen oder fiktiven, Rahmen: in einer anderen Zeit und/oder in einem anderen (Kultur-)Raum? Welche Folgen für die Identität des Körpers hätte die Verschiebung der zeitlichen und räumlichen Klammern? Wie beeinflusst der neue Rahmen die Rolle des Körpers und seine Wahrnehmung? Und wie trägt die Vielfalt der Rahmen zum Verständnis des ganzheitlichen Wesens und Konzepts des Körpers bei?
Einerseits bringen diverse Rahmen unterschiedliche Körper bzw. Körperkonzepte und -normativitäten hervor; andererseits ändern Körper, Körperkonzepte und -normen die Rahmen. Die Reflexion dieser Zusammenhänge – beispielsweise in schulischen und universitären Lernsettings – führt zur Einsicht, dass Körper und Rahmen kulturelle Konstrukte sind und dass es ein oder das Körperkonzept nicht gibt. Vielmehr existieren mehrere heterogene, zeitlich und räumlich bedingte, kulturell kodierte, Körperauffassungen und Normen. Geht man von der Vielfalt der Körperauffassungen und Normen aus, sind die Körper der Anderen in diesen Auffassungen und Normen in der Regel bereits inkludiert. Lernende, die aus unterschiedlichen (kulturellen) Kontexten stammen und auf divergierende Körperlichkeiten und Rahmen-Bedingungen zurückgreifen, tragen zur Vielfalt der Rahmen und der Körperauffassungen wesentlich bei. Denn oft hinterfragen sie einseitig kulturell kodierte Körperkonzepte und Frames und verfügen über das Hintergrundwissen und die Erfahrungen, um den Vorgang des Reframing anzustoßen. Die Heterogenität einer Denk- bzw. Lerngemeinschaft kann somit für die multiperspektivischen Erkenntnisprozesse im Zuge der Rahmen-Analyse genutzt werden. Und die Rahmen-Analyse kann zum Gelingen von Inklusionspraktiken und zur Aufwertung der Diversität der Körper beitragen.
Körper und doppelte Narrative
Der britische Philosoph und Psychologe Rom Harré – seine Thesen sind mein drittes Beispiel für das Inklusionspotenzial des (Wissens-)Objektes Körper – plädiert ebenfalls für eine kontextuelle Determiniertheit der Objekte. In seiner Argumentation greift er auf soziale Objekte oder Substanzen und Narrative zurück. Unter sozialen Substanzen versteht Harré Objekte, die durch die Eigenschaften einer sozialen Welt, das heißt durch symbolische Interaktionen und diskursive Akte, definiert werden können (Harré 2002:23f.). Nach Harré kann der komplette Sinn der Aussagen, die die sozialen Substanzen definieren, nur innerhalb der sozialen Akte und in einer konkreten sozialen Welt verstanden werden.
Die für meine Ausführungen relevante zentrale These von Harré lautet: Nichts existiert in einer sozialen Welt, solange es nicht in diese Welt durch das menschliche konstruktive Handeln eingeführt wird (ebd.:24). Dieser konstruktive Prozess zeichnet sich durch folgende Spezifika aus: Materielle Substanzen ohne (Vor-)Geschichte werden infolge ihrer Einbettung in Narrative in soziale Objekte verwandelt. Nur innerhalb der Narrative, in die die Objekte integriert sind, verfügen sie über eine ‚magische Kraft‘“ (ebd.:25) – wie beispielsweise in Märchen.
Harré betont, dass materielle Objekte in diversen Narrativen unterschiedliche Rollen einnehmen können, und die Modi der Einbindung der Objekte in Narrative nicht nur durch das Narrativ selbst, sondern auch durch kulturelle Konventionen bestimmt werden (ebd.:26). Aus dieser Erkenntnis resultiert die Definition des Objektes, in der der Begriff der Affordanz, das heißt eine latente Handlungsaufforderung eines Objektes (Gibson 1982:137ff.), in den Vordergrund rückt und die – bedingt durch mannigfaltige Attribute und Rollen des Objektes im Narrativ – mehrfache soziale Existenzen des Artefakts gestattet. Multiple Affordanzen erlauben multiple Rollen der Objekte in Narrativen, die unter Umständen widersprüchlich sein können (Harré 2002:27). Harré unterscheidet zwei Typen von Narrativen, die er als ‚doppelte Narrative‘ bezeichnet (ebd.:28): Zum einen spricht er über Narrative, die sich derselben ‚Grammatik‘ – das heißt derselben Konventionen zwecks Konstruktion der Sujetstränge – bedienen und keine Widersprüche aufweisen. Zum anderen weist er auf Narrative hin, denen unterschiedliche Grammatiken zugrunde liegen und die bei der Zusammenfügung in eine Geschichte inkompatibel sein können (ebd.:29).
Nach Harré lässt sich das Wesen eines Objektes in erster Linie durch seine Zugehörigkeit zu bestimmten Narrativen begreifen. In Anlehnung an diese These und die Feststellung einer unveränderlichen Tiefenstruktur der Handlung der Märchen des Strukturalisten Wladimir Propp (Propp 1975), leitet Harré einen interessanten Gedanken in Bezug auf die (gleichen) Identität(en) der (unterschiedlichen) Objekte in (unterschiedlichen) Narrativen ab: Wenn Objekte in dem Maße zu sozialen Objekten werden, in welchem sie in Narrative eingebettet werden, dann hängt die Antwort auf die Frage, ob diese Objekte die gleichen sind, davon ab, ob die Narrative gleich sind (Harré 2002:30): In diesem Sinne wären beispielsweise Lew Tolstois „Anna Karenina" und Gustave Flauberts „Madame Bovary" mehr oder weniger dieselben Geschichten beziehungsweise Narrative (ebd.). Harrés These führt zurück zur Idee der Affordanzen und der Einsicht, dass Artefakte nur in der Vielfalt ihrer Narrative und innerhalb der doppelten sozialen Ordnung, in der sich die Menschheit bewegt, erschließbar sind: in der praktischen Ordnung, in der die sozialen Arrangements auf die Lebenserhaltung in einer bestimmten Umgebung gerichtet sind, und in der expressiven Ordnung, innerhalb derer die sozialen Arrangements auf die Etablierung von Hierarchien, Prestige und Status abzielen. Will man Objekte und ihre Bedeutung für den jeweiligen kulturellen Kontext verstehen, muss man ihre Rolle in beiden Ordnungen identifizieren und berücksichtigen, denn diese narrativen Ordnungen können sehr unterschiedlich sein (ebd.:32). Die expressive Ordnung nimmt in der Regel überhand; die vermeintlich reale Bedeutung der Objekte ist eine Illusion und ein Effekt der durch Generationen überlieferten Interpretationsgrammatiken. Harré behauptet:
“There is nothing else to social life but symbolic exchanges and the joint construction and management of meaning, including the meaning of bits of stuff. To become relevant to human life material beings must be interpreted for them to play a part in a human narrative. Interpretations require grammars that are historically and culturally local” (ebd.).
Wie können Harrés Gedanken über doppelte Narrative anhand des Körpers der Anderen – zum Beispiel anhand eines migrantischen oder eines als behindert markierten Körpers – für den Heterogenitäts- und Inklusionsdiskurs in kultureller (Lehrer*innen-)Bildung fruchtbar gemacht werden? Man könnte versuchen, für diesen Körper ein doppeltes (fiktionales oder nichtfiktionales) Narrativ zu verfassen und über folgende Fragen nachzudenken: Wie ändert sich die Rolle des Körpers in unterschiedlichen Narrativen, und welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede weisen die Grammatiken der Narrative auf? Wie werden Narrative konstruiert, und welche Rolle spielen dabei individuelle und kollektive Werte und kulturelle Einstellungen? Wie trägt die Vielfalt von Narrativen zum Gesamtbild des Körpers bei?
Der Ansatz von Rom Harré verdeutlicht, dass kulturelle Normen durch Narrative konstruiert werden. Auch Körpernormen und -konzepte sind von Narrativen, symbolischen Ordnungen und kulturellen Konventionen abhängig. Da jedoch mehrere Narrative ins Gewicht fallen, ziehen sie multiple Körperrollen, -bedeutungen und -normen nach sich. Der Körper ist nur in der Vielfalt seiner Narrative und demnach in der Inklusion seiner alternativen Muster erschließbar. Die Analyse der doppelten Narrative bzw. ihre Gestaltung – beispielsweise in schulischen oder universitären Lernsettings – stellt die symbolische, kulturelle Willkürlichkeit der Konzepte und Normativitätszuschreibungen in Bezug auf den Körper zur Schau. Lernende, die aus unterschiedlichen (kulturellen) Kontexten stammen und mit unterschiedlichen Körperauffassungen vertraut sind, können diese Willkürlichkeit in der Regel besonders gut wahrnehmen, reflektieren und hinterfragen sowie zur Vielfalt von Narrativen und Interpretationen des Körpers und zur Inklusion der anderen Körper beitragen. Insofern kann die Heterogenität einer Denk- bzw. Lerngemeinschaft für multiperspektivische Erkenntnisprozesse im Zuge der Identifizierung und Gestaltung der doppelten Narrative genutzt werden. Und das Bewusstsein über die Konstruiertheit der Narrative kann gelingende Inklusionspraktiken und die Wertschätzung der Diversität der Körper fördern.
Schlussbemerkungen und Ausblick
Anhand einiger theoretischer Konzepte der Materialitätsforschung sowie ihrer Reflexion für den Kontext Kultureller (Lehrer*innen-)Bildung habe ich Möglichkeiten aufgezeigt, den Körper als ein offenes, im ständigen Wandel begriffenes (Wissens-)Objekt zu beschreiben. Dabei habe ich verdeutlicht, dass gerade der Wandel der (Wissens-)Objekte, ihr Mangel an Objekthaftigkeit und die daraus resultierende Vielzahl ihrer Formen bzw. Konzepte, ein wertvolles Instrument und eine Voraussetzung für die sogenannte ‚objektuale Integration‘ (im Bildungskontext Inklusion) innerhalb heterogener Kollektive (in einer Wissensgesellschaft Denkgemeinschaften) sein kann. Denn die Normativität der Vielzahl bzw. die Heterogenität der Körperkonzepte hat in der Regel auch ihre Inklusion zur Folge.
Diesen Gedanken versuchte ich anhand von drei theoretischen Ansätzen der Materialitätsforschung zu verfolgen und bestätigt zu finden: Das Konzept der kulturellen Biografien der Dinge von Kopytoff ist insofern inklusiv, als er in seiner Propagierung diverser Biografien an die von Knorr-Cetina postulierte Vielzahl von Formen der (Wissens-)Objekte anschließt und unterschiedliche Perspektiven, aus denen kulturelle Biografien der Objekte oder Subjekte verfasst und gelesen werden können, in den Vordergrund rückt. Die heterogenen Formen der (Wissens-)Objekte deuten unterschiedliche Seinsebenen beziehungsweise Rahmen – Knorr-Cetina würde vermutlich schreiben: Substitute oder Repräsentationen – der Objekte bzw. Subjekte bei Goffman an. Erst durch die kontinuierlichen Neurahmungen und Neudefinitionen des Objektes oder Subjektes nähert man sich seinem ganzheitlichen und vielschichtigen Wesen an; und die Rahmen-Analyse hilft, die Grenze der Einsichtnahme zu überwinden, aus der Selbstverständlichkeit der konstruierten Wirklichkeit herauszukommen und plurale Realitäten zu ermöglichen. Genauso verhelfen die Lektüre und die Analyse der doppelten Narrative von Harré dazu, die Grammatiken der gesellschaftlichen Normen und kulturellen Konventionen sowie multiple Rollen der Objekte (wie Subjekte) und ihre mehrfachen sozialen Existenzen in den Narrativen offen zu legen.
Eine solche multiperspektivische Erkenntnisarbeit an (Wissens-)Objekten, und am Körper im Besonderen, hinterfragt eingleisige Denk-, Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster. Sie ist beinahe prädestiniert dafür, in heterogenen Gruppen geleistet zu werden, und stellt einen essenziellen Bestandteil Kultureller Bildung dar. Lernende mit unterschiedlichen (kulturellen, religiösen, sozialen oder sprachlichen) Hintergründen und Körpererfahrungen können – durch die Vielfalt ihrer Perspektiven, Biografien, Frames, Narrative – zur Erkenntnisarbeit an (Wissens-)Objekten und am Körper einen wesentlichen Beitrag leisten. In heterogenen Lern- oder Denkgemeinschaften haben solche Wissensobjekte eine reale Chance, zu Bindeelementen zu werden und ihren inkludierenden Auftrag auf die Probe zu stellen: Beispielsweise in schulischen Lernsettings oder in der universitären Kulturellen Lehrer*innenbildung, indem Schüler*innen und Studierende dazu gebracht werden, anhand der Rahmen-Analyse, der Analyse der kulturellen Biografien der Körper oder deren doppelten Narrative unterschiedliche Körperkonzepte und ihre kulturellen Codierungen wahrzunehmen und zu reflektieren, ihre Vielfalt beziehungsweise Heterogenität als Norm gelten zu lassen und sie in ihren (Berufs-)Alltag zu inkludieren.
Das Plädoyer dieses Beitrags wäre demnach, zum einen solche offenen Wissenskulturen und epistemischen Praktiken in Bildungseinrichtungen und in Lernsettings zu fördern und zu tradieren, denen eine multiperspektivische und inkludierende Denkarbeit am Körper – zum Beispiel anhand der skizzierten theoretischen Ansätze und deren (didaktischen) Reflexionen – zugrunde liegt; und zum anderen die Vorzüge einer Wissens- und Transformationsgesellschaft zu nutzen und die Mitglieder der heterogenen Denk- und Lerngemeinschaften als Expert*innen in Sachen (Wissens-)Objekte, zum Beispiel des Wissensobjektes Körper, in die Gestaltung der Wissenskulturen miteinzubeziehen – nicht mit dem Ziel einer künstlichen, selbstbezüglichen, beständigen Neudefinition der Objekte, sondern aufgrund der Notwendigkeit der Neudefinitionen in den sich wandelnden Gesellschaften und zugunsten einer konstruktiven und friedlichen Auseinandersetzung mit den Herausforderungen ihrer Diversitäten. Insbesondere in Bezug auf Wissensobjekte handelt es sich hier um einen Fall, in dem die Materialitätsforschung und die Wissenschaftsgeschichte ineinandergreifen. Hinsichtlich der Kulturellen (Lehrer*innen-)Bildung und der Heterogenitäts- und Inklusionsdebatte verspricht dieser Zusammenhang besonders gewinnbringend zu sein, wenn es darum geht, Denkgemeinschaften einer geglückten und erfüllten Inklusion zu ermöglichen.
Gewiss hat das oben skizzierte Vorhaben, Körperkonzepte und -diversitäten im Lichte der Materialitätsforschung zu deuten, seine Limitationen. Es wirft aber auch einige Lichtblicke auf die Subjekt-Objekt-Interaktion sowie auf die Auffassungen von Subjekt und Objekt. Insbesondere in Zeiten gesellschaftlicher, politischer, kultureller Umbrüche wird der Sichtbarmachung der von Bruno Latour (1970) beklagten ‚asymmetrischen Anthropologie‘ eine besondere Bedeutung zuteil. Die Konstellation Objekt-Subjekt wird neu ausgewürfelt, die Machtverhältnisse werden aufs Neue definiert. Sowohl Kopytoff (2013) – am Beispiel von Sklaven als Objekten des Handels (ebd.:65) – als auch Goffman (1977) – anhand der Änderung des Status der Subjekte innerhalb eines Rahmens zugunsten der objektähnlichen Wesen (ebd.:211) oder am Beispiel der unsichtbaren Präsenz der marginalisierten Akteur*innen eines Rahmens, wie beispielsweise Pförtner*innen, Bühnenarbeiter*innen, Journalist*innen, Kellner*innen oder Dienstboten (ebd.:135), – demonstrieren die Fragilität der Grenze zwischen Subjekt und Objekt in unterschiedlichen Kontexten. Insbesondere hinsichtlich der rasanten Entwicklung der Technik und der digitalen Technologien ist die Frage nach der Grenzziehung zwischen Subjekt und Objekt, die den menschlichen Körper und seine Diversitäten unmittelbar betrifft, aktueller denn je: Sie ist zu unserer alltäglichen Realität geworden. Aber das ist ein anderes Thema für einen anderen Beitrag.