Klassismus als Gegenstand künstlerischer Praxis: „Dance is a weapon in class struggle”. Interview
Abstract
Welches Potenzial haben Tanz und Körper gegen klassistische Einschreibungen? Wie können klassenbedingte Ausgrenzung, Isolation und körperliche Anspannung künstlerisch bearbeitet werden und in eine Support Structure umgewandelt werden? Die Tänzerin und Choreographin Josephine Findeisen initiiert in ihrer künstlerischen Praxis (Selbst-)Bildungsprozesse, um Ausdrucksmöglichkeiten zu stärken und Räume für Selbstermächtigungsbestrebungen rund um klassistische Themen zu eröffnen. Ein Gespräch über Klassismus als Gegenstand künstlerischer Praxis, Solidarität und kollektive Körper mit angeschlossener Praxis. Das Gespräch ist Teil des Dossiers „Klassismus und Kulturelle Bildung“.
Reading as a physical practice
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Bevor Du diesen Text liest, nimm Dir einen Moment Zeit und richte Deine Aufmerksamkeit auf Deine Atmung.
Mit jedem Ein- und Ausatmen hebt und senkt sich Dein Brustkorb und die Bauchdecke. Beobachte Deine Atmung und stell’ Dir vor, wie die Luft deine Lungenflügel in alle Richtungen füllt.
Auch die Rückenseite Deiner Lunge füllt sich mit Luft, die Lunge entfaltet sich und die Rippen bewegen sich etwas auseinander.
In welcher Körperposition befindest Du dich? Welche Körperteile und Oberflächen berühren die Sitzoberfläche? Wie ist Deine Wirbelsäule momentan positioniert? Kannst Du Dein Körpergewicht in die Sitzoberfläche sinken lassen?
Nach dem nächsten Ausatmen kannst du deine Aufmerksamkeit Richtung Kopf lenken. Beobachte, in welcher Haltung Du Deinen Kopf hältst. Kannst Du Deinen Kiefer etwas entspannen und hängenlassen?
Nicke, mit einer minimalen Bewegung „Nein“. Pausiere für einen Moment. Und nicke nun, mit einer minimalen Bewegung „Ja“. Pausiere wieder. Wie fühlt sich Deine Kopfhaltung an?
Dann lenke Deine Aufmerksamkeit weiter in Richtung Augenhöhlen. Wie fühlt sich die Gesichtsmuskulatur an? Wie schnell oder langsam bewegen sich Deine Augen beim Lesen?
Atme nun noch einmal tief ein und aus.
Tanz und Körper als Potenzial gegen klassistische Einschreibungen
Biographisch und beruflich im Thema Klassismus verwurzelt, beforscht die Tänzerin und Choreographin Josephine Findeisen in ihren Arbeiten klassenbedingte Ausgrenzung, Isolation und körperliche Anspannung ebenso wie die Umwandlung dessen in Freude und Begehren. Sie initiiert Selbstbildungsprozesse, eröffnet auf und abseits der Bühne Räume, um Ausdrucksmöglichkeiten zu stärken und Strukturen zu schaffen, die Selbst_Ermächtigungsprozesse unterstützen. Dazu gräbt sie u.a. in Tanzarchiven und sucht praxeologisch nach Anleitungen und Wissen, wo und wie sich Körper mit welchen Bewegungen und Gesten erkennen und wehren können.
Dazu gehört auch das Projekt „Working Class Dance Group“, das hier im Mittelpunkt steht. Gemeinsam mit Andrej Mirčev (Dramaturg und Theaterwissenschaftler) schreibt sie dazu auf ihrer Homepage:
„Working Class Dance Group zeigt den aktuellen Arbeitsstand einer anhaltenden Auseinandersetzung mit Klassenverhältnissen. Die Tänzer*innen mobilisieren historische, feministisch-proletarische Perspektiven und untersuchen so die Verschränkungen von Klasse, Geschlecht und Körper. Gemeinsam suchen sie nach solidarischen Praktiken und Selbstermächtigung, indem sie die Bemühungen von (politischen) Gruppen wie den Prololesben, den Arbeiter*innentöchtern und vielen weiteren anerkennen. Im Austausch von Erinnerungen, Erzählungen und verschiedenen Tanztechniken formulieren sie ihr Begehren nach einer Gesellschaft ohne Klassenverhältnisse.“
Um dieses Begehren, affektive Regime und körperliche genauso wie solidarische Praktiken geht es im Gespräch, das Josephine Findeisen im März 2023 mit Angela Dreßler, büro eta boeklund, für das Dossier „Klassismus und Kulturelle Bildung" geführt hat.
Das Interview
Auf Deiner Homepage findet sich u.a. ein Trailer, in dem eine Liste an Schlagworten zum Thema Klasse vorkommt, der Einblick in die Herangehensweise zu Working Class Dance Group gibt: ... underdog, welfare queens, Krawall-Barbie, status symbols, Genossin aber auch physical tension, poverty porn, the bourgois gaze, collective anger, Geld, Isolation oder Komplizinnenschaft und: hardcore dances.
... das ist eine Assoziationskette, ein Assoziationsspiel. Da könnte man jeweils noch ein einzelnes Kapitel aufmachen!
In dem Video schließt die Reihung mit dem Slogan: Dance is a weapon in class struggle.
Ja, der Spruch ist in den frühen 1930er Jahren im Rahmen der Worker‘s Dance League entstanden. Damals gab es in den USA Verbindungen von Tanzschaffenden und Gewerkschaften und Arbeiter*innen. Ich habe versucht, daran anzuknüpfen und mich gefragt, was das heute bedeuten könnte.
Ist es für dich einfacher, mit dem Körper als mit Worten zu arbeiten?
Ich würde sagen, nein. Die Erfahrung von Klasse im Alltag ist eine sehr unmittelbare und auch körperliche. Egal, ob es um Ausbeutung, eine Arbeitssituation, Wohnen oder körperliche Auswirkungen von Armut geht. Ein Vokabular dafür zu finden, war eine riesen Erleichterung für mich. Klar nutze ich die körperliche und tänzerische Auseinandersetzung, aber in Bezug auf das Thema brauchte ich Worte auf der Bühne.
Wie ist es zu Working Class Dance Group gekommen?
Als ich im Kontext meines Tanzstudiums versucht habe, Klasse und Klassismus zu thematisieren, ist das mega gescheitert... Einerseits hat mir das Vokabular dafür gefehlt und andererseits wurde das Thema auch immer wieder als veraltet abgetan. Ich habe mich dann erstmal alleine damit beschäftigt. Und weil ich es schwierig fand, im (zeitgenössischen) Tanzkontext darüber zu sprechen, habe ich mich dann Klassen-Theorien und den Sozialwissenschaften zugewandt.
Daraus ist zunächst das Stück „A work that doesn’t work or we might as well be on crystal“ geworden, ein Audiostück und Solo. Wobei es im Prinzip kein Solo ist, weil Texte von Freunden, von meiner Schwester, meiner Mutter darin vorkommen und auch der E-Mailaustausch mit Maria Scaroni, den Sonja Hornung eingesprochen hat – das war der Anfang davon. Der Wunsch, das Thema kollektiv oder in einer Gruppe zu bearbeiten, blieb aber. Ich habe versucht dranzubleiben und jahrelang versucht, eine Förderung zu bekommen – weil einfach Ressourcen notwendig sind, um gemeinsam zu arbeiten. Das hat ganz lang nicht geklappt (lacht), bis ich dann, 2021, eine Förderung bekommen habe.
Das war dann für Working Class Dance Group?
Genau. „Working Class Dance Group“ (WCDG) ist erstmal nur ein Titel für ein Projekt und keine feste Gruppe oder Kompanie. In die Recherche flossen verschiedenste Referenzen und Quellen ein, bspw. ein Text von Tanja Abou über Proll-Lesben Gruppen und Arbeiter*innentöchter, die an Hochschulen aktiv waren. Ein weiterer Einfluss war die Arbeit der Worker’s Dance League, die als Dachorganisation in den frühen 1930er Jahren zunächst in New York für verschiedene sogenannte Worker’s Dance Groups (Arbeiter*innen Tanzgruppen) marxistische Ideen und Tanz zusammenbrachte, soziale Fragen und politische Forderungen stellte. Da gab es Gruppen namens Red Dancer’s, Needle Trades Industrial Worker’s Union Dance Group oder die Nature Friend‘s Dance Groups.
Das Team von WCDG sowie das Stück sind seit 2021 nach und nach gewachsen. Der Arbeitsprozess im Frühling 2022 war ein Austausch und eine Kollaboration mit Andrej Mirčev (Dramaturgie), Sanja Gergorić (Licht), Melissa Ferrari (Performance und Co-Choreographie), Johanna Findeisen (Künstlerische Assistenz) und für die Show in Hannover im September 2022 kam auch Saki Jacqueline Aslan (Performance und musikalischer Beitrag) und ein Track von Egon Elliutt dazu.
Wie funktioniert der Arbeitsprozess dabei?
Mein Arbeitsprozess ist eine Recherche am Thema, mit dem Versuch der Selbstbildung. Es ist immer eine Mischung aus Körperarbeit, Vernetzung und gemeinsamen Lesen. Im Studio entstehen dann (künstlerische) Forschungsfragen wie: Wie wirkt sich beispielsweise Armut auf Körperhaltungen und -bewegungen aus? Welche Körpererinnerungen bringen manche Situationen hervor? Gleichzeitig ist der Arbeitsprozess auch immer durch materielle und immaterielle Ressourcen geprägt. Es gibt zum Glück inzwischen einige Förderinstitutionen, die versuchen, niedrigschwelliger zu arbeiten.
Das sind zwei Seiten einer Medaille der Ausgrenzung, die beide erstmal unsichtbar sind und die man lange nicht erkennen und fassen kann?
Ja. Erstmal muss man überhaupt Fördergelder erhalten… Durch die Förderung hatte ich endlich Geld, aber noch kein Netzwerk. Zum Produzieren von Projekten im Kulturbetrieb braucht es Netzwerke und Kontakte – auch für praktische Fragen wie: Wer kann mir die Spielstätten Bescheinigung geben, die ich für den Antrag brauche? Wie setze ich Verträge mit Beteiligten auf? Also Wissen und Know-How über Produktionsweisen, aber auch soziales Kapital…
Produktionsbedingungen als Ausschlussmechanismus für Menschen, die keine Antragsprosa, diese spezielle Sprache in den Förderanträgen, beherrschen?
Es hängt einfach von vielen unsichtbaren Ressourcen und Mechanismen ab. Die Kommunikation mit manchen Förderinstitutionen kann ultra einschüchternd sein. Was mich an andere Situationen mit verschiedenen Ämtern, z.B. dem Jobcenter erinnert hat, auch wenn ich das so direkt nicht vergleichen möchte. Und klar: Mit mehr Erfahrung in dem Arbeitsfeld, einer Produktionsleitung und einem sozialen Netzwerk ist man in solchen Situationen einfach anders aufgestellt. Und da bin ich in dem Prozess einfach draufgeknallt…
Es gibt viele hilfreiche Workshopangebote und Ansprechpartner*innen in der freien Tanzszene (z.B. Tanzbüro Berlin, LAFT), aber um diese Angebote wahrnehmen zu können, ist eben auch die Ressource Zeit notwendig.
Im Trailer zu WCDG zelebriert ihr sehr deutlich Stereotype. Ihr fahrt mit einem Golf-Cabrio vor, Musik donnert aus den Lautsprechern, ihr brennt Shots ab oder auch mal dicke Eisenketten.
Hm… das Cabrio ist ja auch ein Statussymbol, auf das wir Bock hatten. Also, es ging nicht darum Stereotype zu romantisieren, sondern damit umzugehen: Was waren die Stereotype und Beleidigungen, die mir immer wieder begegnet sind? Und wie kann ich die körperlich umwandeln? Wie kann ich auch Freude daran finden, meinen Körper als widerständiges Werkzeug zu benutzen? In der Außenszene haben wir versucht, damit zu spielen.
Nach dieser Szene folgt uns das Publikum nach innen, wo sich die Szenerie komplett verändert, wir nicht weiter auf Stereotype eingehen und eine feingliedrigere Auseinandersetzung starten. Mit Texten und mit dem Körper. Und irgendwann fangen wir dann auch an, diese Champagner-Pyramide aufzubauen, die eigentlich auch dem Publikum serviert werden soll.
Hast du eigentlich keine Angst, dass du in die Poverty Porn Falle reintappst mit deiner Arbeit? Also etwas bloß stellst oder Emotionen wie Mitleid etc. schürst, statt Räume aufzumachen?
Melissa Ferrari und ich haben im Probenprozess von WCDG viel darüber gesprochen, wie wir mit der Thematik arbeiten, ohne uns auszustellen. Klar ist es ein schmaler Grat und ich muss mir überlegen, wie ich mit dem Thema umgehe, um Stereotype nicht einfach zu reproduzieren. Ich nutze z.B. Stereotype, die ich selbst immer wieder erfahren habe. Es geht eher darum, sie zu brechen und zu gucken: Was kann ich diesen Zuschreibungen entgegensetzen? Wie kann ich da körperlich durcharbeiten?
Wer schaut sich das Stück an?
Ich kann dir jetzt nicht genau sagen, wer da war. Aber ich vermute mal, eher ein Tanz-/Theaterpublikum. Es wurde in verschiedenen Versionen/Editionen in den Berliner Uferstudios, den Sophiensaelen und beim MULTITUDE Festival in Hannover gezeigt. Ich frage mich schon, ob Theater überhaupt die richtigen Orte dafür sind und ob ich Hochkultur-Orte mit dem Thema bespielen möchte. Viele Theaterorte/Spielstätten produzieren zwar selbst frei und haben Finanzierungslogiken bzw. -lücken, aber ich kenne wenige (konsequent) solidarische Ticketsysteme.
In einem Interview mit dem DLF redest du darüber, dass viele der Tanzorte sich alte Industrieorte wieder aneignen und dass dies auch etwas schief ist, weil die Orte inzwischen zur Hochkultur gehören.
Ich weiß nicht, ob es um Aneignung geht. Die Nutzung dieser Orte zeigt ja auch einen Strukturwandel. Da hat früher Ausbeutung stattgefunden und heute finden vermutlich andere Arbeits- und auch Ausbeutungsformen statt. Ich will das nicht romantisieren. Aber für wen sind diese Orte heute zugänglich? Wer wohnt in den umliegenden Wohnvierteln? Welche Rolle nehmen Kunst- und Kulturorte stadtpolitisch ein?
Tanz hat seinen Platz im Hochkulturbetrieb. Das ist der bourgeois gaze, das Gelesen werden von Oben herab...
Es gibt viele Tanzformen, die nicht wirklich mit Hochkultur in Verbindung stehen oder da auch keine Bühne haben. Klar frage ich mich, für welchen Blick ich produzieren möchte und ob meine Arbeit überhaupt im Kunstbetrieb stattfinden muss. Ich möchte klassistisch abgewertete Tanz- und Ausdrucksformen anerkennen, ohne sie bürgerlichen Theaterformaten anzupassen… Das versuchen wir zumindest mit dem Projekt „AUTOSCOOTER“, an dem Andrej Mirčev und ich ab Sommer 2023 im Berliner Stadtraum arbeiten.
Muss man eigentlich aus der Working Class kommen, um das Thema tanzen zu können? Geht das auch, wenn man aus dem Ballett kommt?
Es ging in WCDG schon erstmal darum, Leute mit Armuts- und/oder Arbeiter*innenhintergrund zusammenzubringen, auch um beispielsweise geteilte (Körper-)Erfahrungen herauszuarbeiten. Im Stück gibt es aber auch die Erzählung einer Künstlerin, die in den 70er Jahren kostenlos Ballettstunden besucht hat, da der Reifenhersteller Michelin damals noch Kurse für die Kinder der Arbeiter*innen anbot. Also, Ballett und Working Class schließen sich nicht unbedingt gegenseitig aus.
Bekommst Du in diesem Prozess Fragen, die dich irritieren oder weiterbringen?
Neulich wurde ich von Romuald Krężel (Choreograph und Performer) gefragt, was ich durch die „soziale Mobilität“, wenn wir es so nennen wollen (lacht), gelernt habe… Durch die tänzerische Auseinandersetzung bzw. das Tanzstudium hat sich meine Körperwahrnehmung verändert. Ich will das nicht in einer Selbstoptimierungsschiene lesen. Aber ich verstehe (meine) Körperhaltungen und Anspannungen, Körper- und Gelenkschäden usw. besser. Durch die Körperarbeit habe ich gelernt, einen Zugriff darauf zu bekommen.
Auch ein Code-Switching zwischen verschiedenen sozialen Codes habe ich gelernt. Manchmal habe ich das Gefühl, mein Gehirn platzt, weil ich einfach dauernd wechsle zwischen den verschiedenen Szenen, durch die ich mich bewege. Aber die Begriffe soziale Mobilität oder sozialer Aufstieg sind für mich irreführend. Am Ende geht es hoffentlich nicht darum, dass wir alle aufsteigen, um noch besser in Konkurrenz gegeneinander zu treten, sondern darum, die Verhältnisse und Strukturen zu ändern.
Du hast Anfang 2023 das Seminar Class trouble / Klassenkörper an der Berliner Universität der Künste (UdK) gegeben.
Das war eine superschöne Erfahrung. Da konnte ich nochmal alles machen, was ich sonst künstlerisch im Studio mache, nur diesmal ohne die Antragsarbeit, dafür in den Tanzstudios der Uni (HZT/ UdK), die auch Technik bereitgestellt hat.
Ich habe im Seminar eine bestimmte Auswahl an Texten vorgeschlagen, beispielsweise von bell hooks (1991) oder von Marc Fisher. Sein Text „Good for Nothing“ (2014) war einer der ersten Texte, der mir wahnsinnig geholfen hat. Darin setzt Mark Fisher psychische Erkrankungen ins Verhältnis zum Neoliberalismus und Individualisierung bzw. Klassenverhältnissen.
Wir haben uns dann abwechselnd mit den Texten und mit Körperarbeit beschäftigt. Angeleitet habe ich verschiedene Übungen, die ich im Tanzstudium, z.B. durch Maria Scaroni kennengelernt habe. Es geht dann um Fragen wie: Wo genau ist die Wirbelsäule im Körper? Welche Stellen sind am häufigsten von Abnutzung betroffen? Wie können wir uns auf eine Art und Weise bewegen, die den Körper auch schützen oder entspannen kann? Das hat erstmal nichts mit Theorie zu tun, es geht dann sehr detailliert um Körperwahrnehmung und -ausrichtung.
Das ist dann eine Art Care-Work?
Genau, es geht schon um Care, Sorgearbeit und Selbstsorge vielleicht. Es gibt eine Szene in WCDG, die das übersetzt und fragt: Wie arbeiten unsere Arme und Hände eigentlich? Wie können sie Sorge tragen für jemanden anders, aber auch für uns selbst? Wie kann ich meinen Körper als unterstützende Struktur verstehen, als ein System, das mich stützt, aber auch andere stützen kann?
Das ist eine Form von Skill-Sharing, eine Art Each one, teach one aus dem aktivistischen Kontext? Du spielst in deinen eigenen Texten und Beschreibungen ja oft mit der Doppelbedeutung von Bewegung…
Wahrscheinlich schon. Meine Intention ist nicht unbedingt ein künstlerisches Ergebnis, sondern die gemeinsame inhaltliche Arbeit. Das Seminar betrachte ich eher als eine Art Werkstatt, in der wir gemeinsam lesen, diskutieren und einen niedrigschwelligeren Zugang zu theoretischen Texten suchen, Verständnisfragen klären usw.
Dabei hat sich im Seminar eine super Dynamik ergeben und wir haben z.B. Gewerkschaften oder gewerkschaftsähnliche Organisationen im Kunstbereich aufgelistet. Was mich aber am meisten gefreut hat ist, dass eine Art Vernetzung entstanden ist, die erstmal ohne Ziel ist, aber lose verbindet.
Da ist er wieder der kollektive Körper.
Ja, ein kollektiver Körper und Leute, mit denen ich bspw. über Ausbeutungserfahrungen im Kunstbetrieb sprechen kann. Das eine ist die Vereinzelung, das andere ist die konkrete Arbeitsrealität. Also, Vernetzung, ja.
Bildet Banden?
Ja, bildet Banden!
Dabei geht es dir auch um Sichtbarkeit jenseits der Bühne.
Ich denke oft darüber nach. Ich weiß nicht, wie sichtbar ich überhaupt sein will. Im besten Falle können bestärkende Erfahrungen und Zugänge für die Beteiligten entstehen. Das ist mir lieber, als ein Bühnenstück zu produzieren.
Du hast nicht nur ein Interesse an der Bühne, sondern auch an den Realitäten dahinter. Was ist das Netzwerk „Arbeiter*innentöchter Vereinigt Euch!”?
Es ist jetzt nicht so, dass es ein großes Netzwerk gibt. Ich habe einfach zu Treffen eingeladen. Namensgebend sind Arbeiter*innentöchter, die in den 80er/90er Jahren in Universitätskontexten aktiv waren.
Mein Vorschlag bei den Treffen ist, dass wir gemeinsam ein close reading machen – also ein sehr genaues (Vor-)Lesen von Texten und Besprechen von Details im Text. Die Texte können persönlicher oder auch theoretischer sein und es gibt Platz für alle möglichen Fragen, zu Vokabeln, zu Konzepten oder was auch immer… Darüber kann eine persönliche, theoretische, aber auch politische Auseinandersetzung stattfinden. Mir hilft es, ein Verständnis für Klassenverhältnisse zu entwickeln, die einfach unverständlich sein können.
Das erste Treffen hat aufgrund der Pandemie am Rosa Luxemburg Denkmal in Berlin stattgefunden. Aber es ging auch um historische Kontexte und Fragen wie: Wen gab es eigentlich? An welche Kämpfe können wir anknüpfen oder deren Ideen verwerfen?
Mein Wunsch ist, irgendwann in gemischten Gruppen zu arbeiten, mit älteren Menschen, Profitänzer*innen oder Leuten, die zum Beispiel jahrelang bei Amazon gearbeitet haben. Ich weiß nicht, ob ich mit dem Thema immer auf Bühnen arbeiten möchte. Gibt es nicht auch etwas, das sich wirksamer anfühlt?
Aktivistischer?
Ja, schon. WCDG ist ja aus dem Wunsch entstanden, aus der Vereinzelung rauszukommen, sich kollektiv zu versammeln und sich nicht nur mit den Sachen zu beschäftigen, die einfach Scheiße sind, sondern auch nach Freude und Begehren zu suchen – und um Gegenstrategien zu entwickeln…
Gibt es für dich einen Unterschied zwischen künstlerischer Arbeit und sagen wir, einem Kurs, hands on, an der Volkshochschule, für Frauen, deren Körper durch Haushalt und Lohnarbeit abgenutzt sind, der nicht mit dem Renommee des Künstlerischen einhergeht?
Ich weiß jetzt nicht, ob ich damit irgendjemanden auf den Schlips trete, aber ich würde sagen: keinen. Künstlerisches Arbeiten ist ja auch in einem Volkshochschulkurs möglich und es gibt viele Tanz- und Bewegungskurse an der Volkshochschule. Es kann ja auch eine Mischung geben und künstlerische Projekte können mit Teilnehmenden entwickelt werden.
Auch der Prozess von WCDG war durch die Verschränkung von Klassismus und chronischer Erkrankung geprägt, sichtbar und unsichtbar. Auf der Bühne sind able-bodied Performerinnen zu sehen. Es ist schwierig, an der Schnittstelle von Krankheit und Klassismus zu arbeiten, weil beides auf seine Weise sehr unsichtbar sein kann. Und gleichzeitig kommt die Frage: Wie kann eine künstlerische Praxis aussehen, die Körper bestärkt und für Körper mit verschiedenen Voraussetzungen zugänglich sein kann?
Körperarbeit für den Klassenkampf?
(Lacht) Meine Sorge ist, dass es einfach so neoliberal vereinnahmt und der Spruch „Dance is a Weapon in Class Struggle“ verkürzt wird. So nach dem Motto: Wir müssen nur tanzen und dann wird alles besser. Natürlich müssen sich die Verhältnisse verändern. Aber Körperarbeit passiert auf der Mikroebene oder eben auch auf der Handlungsebene: Welche Sorge können wir füreinander tragen oder uns bewusst werden, in welcher Position wir uns befinden? Das ist etwas, was für mich im Tanzstudium passiert ist: Es hat mir phasenweise Auszeiten ermöglicht. Und für mich entstand die Frage danach, wie man diese Räume zugänglich machen oder schaffen kann. Welche körperliche Praxis, welche kollektive Tanzpraktiken gab es, gibt es oder können dazu entwickelt werden?