Internationale Entwicklungen für Kulturelle Bildung
Rahmenbedingungen Kultureller Bildung sind unsichtbar, aber wesentlich. Sie erfüllen die Funktion einer Software. Hier treffen, reiben und verbinden sich Bildungs- und Kulturpolitik, Kinder-, Jugend- und Familienpolitik. Internationale Zusammenarbeit, Handelsvereinbarungen und Entwicklungskooperation beeinflussen Ressourcen, Ideen, Wissen und Austausch. Somit beeinflusst internationale Politik auch, wer wo auf dieser Welt welche Lernmöglichkeiten hat, einschließlich qualitativ hochwertiger Kultureller Bildung. Die Auswirkung internationaler Politik auf Kulturelle Bildung kann aus globaler und regionaler Perspektive erfasst werden.
Internationale Politik entfaltet Wirkung und Einfluss mindestens auf fünffache Art und Weise:
>> Entwicklung von Leitideen und Konzeptionen (z.B. [Kulturelle] Bildung für alle, Lebenslanges Lernen‚ Bildung für Nachhaltige Entwicklung u.a.);
>> Normativ: Empfehlungen wie Völkerrechtliche Vereinbarungen oder Menschenrechtsbasis;
>> Politikziele (Aktionspläne, Entwicklungsziele, Arbeitsprogramme);
>> Herstellen einer international vergleichbaren Wissensbasis (quantitative und qualitative Daten, Fallstudien, Statistiken, Kompendien, Begleitforschung) sowie
>> fallweise Förderprogramme (z.B. EU, international tätige Stiftungen).
Häufig genutzte Instrumente im Umfeld Internationaler Politik sind (Fach-)Konferenzen, (Umsetzungs-)Agenturen, Wissensnetzwerke sowie thematische Observatorys.
Die historische Dimension
Bereits unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Notwendigkeit zu dauerhafter internationaler Bildungszusammenarbeit erkannt. 1925 wurde als Privatinitiative das Internationale Bildungsbüro (IBE) in Genf gegründet. Schwerpunkte waren Bildungsforschung und -dokumentation. 1929 öffnete sich das IBE für die Mitgliedschaft von Regierungen und internationalen Organisationen. Jean Piaget, Psychologieprofessor an der Universität Genf, leitete diese erste zwischenstaatliche Bildungsorganisation fast 40 Jahre lang.
Als Antwort auf die Katastrophe des Zweiten Weltkrieges entstand dann 1946 die UNESCO in Paris als UN-Sonderorganisation für Bildung, Kultur und Wissenschaft, mit der das IBE fortan kooperierte. Bereits im November 1948 beschloss die Dritte UNESCO-Generalkonferenz in Beirut unter dem Stichwort „The Arts in General Education“, die UNESCO als Clearinghouse für Informationen zu Kultureller Bildung, Austausch von Materialien und Personal zwischen den damals 20 Mitgliedsstaaten zu nutzen (vgl. UNESCO 1948).
Am 10. Dezember 1948 wurde die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR) beschlossen (siehe Max Fuchs „Kulturelle Bildung als Menschenrecht?“). „Jeder hat das Recht auf Bildung“, heißt es in Artikel 26. Dieser Artikel enthält Erziehungsziele wie die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit, Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, Verständnis, Duldsamkeit und Freundschaft zwischen allen Nationen und ethnischen oder religiösen Gruppen sowie die Aufrechterhaltung des Friedens; und Elternrechte, welche die Ausbildung der Kinder bestimmen. Unterricht muss zumindest in den Grundschulen unentgeltlich sein, Elementarunterricht wird als verpflichtende Aufgabe des Staates festgeschrieben.
Der unmittelbar folgende Artikel 27 der AEMR, „Freiheit des Kulturlebens“, proklamiert für „jede(n) Mensch(en) [...] das Recht, am kulturellen Leben der Gemeinschaft frei teilzunehmen, sich der Künste zu erfreuen und am wissenschaftlichen Fortschritt und dessen Wohltaten teilzuhaben“, sowie das „Recht auf Schutz der moralischen und materiellen Interessen, die sich aus jeder wissenschaftlichen, literarischen oder künstlerischen Produktion ergeben, deren Urheber er ist“. Hiermit rückt erstmalig Kulturelle Bildung im Bereich der Internationalen Politik normativ und praktisch in den Blick. Teilnahme am kulturellen Leben bedeutet aktiven Zugang und das Recht, kulturelle Ausdrucksformen kennenzulernen und zu (er-)leben, einschließlich des Zugangs zum kulturellen Erbe anderer.
Aktuelle Situation weltweit und regional
Seit 1990 (Internationales Alphabetisierungsjahr) und verstärkt seit 2000 (Weltforum Grundbildung, Dakar/Senegal und Verabschiedung der Milleniumsentwicklungsziele) ist Bildung eines der Hauptaktivitätsfelder der UNESCO und ihrer heute 194 Mitgliedsstaaten. UNESCO koordiniert das weltweite Aktionsprogramm „Bildung für alle“. Die seit 1990 jährlich vorgelegten Berichte zur menschlichen Entwicklung, die Weltbankentwicklungsberichte sowie die seit 2002 veröffentlichen Jahresberichte zur Lage der Grundbildung in der Welt erlauben fortlaufend eine kritische Auswertung. Trotz Fortschritten werden allerdings die für 2015 gesetzten Ziele nicht erreicht werden.
Mit dem UNESCO Delors Bericht (1996) „Lernfähigkeit: Unser verborgener Reichtum“ und dem Perez de Cuellar Weltbericht „Unsere kreative Vielfalt“ (ebenfalls 1996) werden Lebensbegleitendes Lernen und Interkulturelles Lernen zu internationalen Leitkonzeptionen. Die erste Welle der Globalisierung und die Umstrukturierung von Arbeit und Gesellschaft durch Informations- und Kommunikationstechnologien stellen neue Anforderungen. Im Sinne einer umfassenden Persönlichkeitsentwicklung fordert der Appell des UNESCO-Generaldirektors zur Förderung Kultureller Bildung und Kreativität in der Schule (1999) zu einer aktiven Auseinandersetzung mit ästhetischer Bildung auf. Angesichts weltweiter Migration und unbegrenztem Austausch von Informationen stellt die Allgemeine Erklärung zur Kulturellen Vielfalt (2001) „Menschen und Gruppen mit zugleich mehrfachen, vielfältigen und dynamischen kulturellen Identitäten“ in das Zentrum der Bildungsdebatte. Dies bereitet unter anderem den Boden für die erste UNESCO-Weltkonferenz Kulturelle Bildung in Lissabon im März 2006.
Die OECD ist heute ein weiterer globaler „Player“. 1961 als westliche Wirtschaftsorganisation gegründet, hat sie ihr Arbeitsfeld auf Fragen der Bildung, der Innovationsfähigkeit und der Kreativität ausgeweitet. Heute (2011) gehören der OECD 34 Staaten an, darunter neben den USA und Kanada auch Japan, Korea, Australien, Neuseeland, die Türkei, Chile, Mexiko und zahlreiche osteuropäische Staaten. Russland ist Beitrittskandidat. Mit den Schwellenländern Indien, China, Brasilien, Südafrika und Indonesien bestehen vertiefte Kooperationen. Neben laufenden Vergleichsstudien zu Lernergebnissen (PISA-Studien), Wettbewerbsfähigkeit und Innovationskraft thematisiert die OECD unter diesen Gesichtspunkten auch Kulturelle Bildung (vgl. OECD 2011b).
Der Europarat und die Europäische Union, letztere besonders seit der erstmaligen Verabschiedung einer Kulturagenda 2007, sind für Bildung und Kultur wichtige Regionalorganisationen. Der EU-Ratsbeschluss zur Förderung der nächsten kreativen Generation (Brüssel, 27. November 2009) setzt sechs Schwerpunkte: eine ‚Kinder-und-Jugend’-Perspektive in Kulturpolitik einbauen; das Potential des Bildungswesens zur Kreativitätsförderung optimieren; kulturelle Einrichtungen für Kinder und junge Leute öffnen; Talent und Kreativität auch im Rahmen sozialer Integrationsangebote fördern; besseren Zugang zu Kultur durch Nutzung von Informations- und Kommunikationstechnologien sowie Wissensaustausch organisieren. Die datengestützte Wissensbasis für dieses Aufgabenfeld soll weiter entwickelt werden (vgl. Eurydice 2009).
Auch andere Weltregionen haben in den letzten Jahrzehnten Regionalorganisationen entwickelt, so z.B. Asien-Pazifik (APEC, ASEAN, SARC), Lateinamerika (OAS, IO), Afrika (AU, SADC) und die arabische Region (ALECSO, Golfrat). Diese befassen sich seit 2000 verstärkt auch mit Fragen der Bildung und Kultur, auf Ministerebene und durch Fachnetze.
Neue Qualität internationaler Kooperation durch Weltkonferenzprozesse
2006 hat die UNESCO gemeinsam mit der portugiesischen Regierung erstmalig eine Weltkonferenz für Kulturelle Bildung ausgerichtet. In der daraus entstandenen Lissabon Road Map „Schaffung kreativer Kapazitäten für das 21. Jahrhundert“ heißt es unter anderem: „Das Bewusstsein um kulturelle Praktiken und Kunstformen und das Wissen darüber stärken persönliche und kollektive Identitäten und Werte und tragen zum Schutz und zur Förderung von Kultureller Vielfalt bei.“ (Vgl. UNESCO 2006)
Kulturelle Bildung steht zudem im Kontext der UN-Dekade „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ (2005-2014) und der damit verbundenen Anforderung an gesellschaftlichen Wandel. Sie zielt darauf ab, kulturelle Vielfalt im Horizont nachhaltiger Entwicklung zu bewerten und damit umgehen zu können. Mit der UNESCO-Konvention zur Vielfalt Kultureller Ausdrucksformen (2005, seit März 2007 in Kraft) verpflichten sich die Vertragsparteien unter anderem, das öffentliche Verständnis für Kulturelle Vielfalt auch durch (kulturelle) Bildungsprogramme zu fördern (Artikel 10).
Wesentliches Ergebnis dieser ersten Weltkonferenz für Kulturelle Bildung war die Mobilisierung der internationalen Fachverbände und NGOs. Die 2006 gebildete Weltallianz für kulturelle Bildung (WAAE), ein Zusammenschluss der Theater-, Tanz- und Musiklehrerverbände, arbeitet seither kontinuierlich. Erstmals informierte ein Kompendium (vgl. Bamford 2010:11) über den Stand Kultureller Bildung in vierzig Ländern weltweit.
Die koreanische Regierung ergriff Anfang 2006 die Initiative zu einer zweiten UNESCO-Weltkonferenz „Arts in Society – Education for Creativity“, um in der Boomregion Asien eine Neuorientierung der Bildungsdebatte anzustoßen. Mehr als 2.000 Kultur- und BildungsexpertInnen, darunter Regierungsdelegierte, VertreterInnen von Nichtregierungsorganisationen, Stiftungen und Internationalen Organisationen, verabschiedeten im Mai 2010 in Seoul zehn „Entwicklungsziele für Kulturelle Bildung“. Kernziele sind die Sicherstellung hoher Qualität Kultureller Bildung und deren Beitrag zur Bewältigung sozialer Aufgaben und kultureller Herausforderungen überall auf der Welt. „Kulturelle Bildung muss als Grundlage einer ausgewogenen kognitiven, emotionalen, ästhetischen und sozialen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen begriffen werden“, so die Seoul-Agenda (The Second World Conference on Arts Education [2010]). Die praxisorientierte Bildungsforschung hat mit dieser Konferenz einen deutlichen Schub erfahren. Als konkretes Ergebnis von Seoul hat die UNESCO Lehrstühle und Arts Education Observatorys im Sommer 2011 ein International Research Network on Arts Education, kurz IRNAE gegründet, um langfristige Wirkungen Kultureller Bildung zu erfassen.
Ausblick, Perspektiven, Herausforderungen
Die Stärkung der international vernetzten Wissensbasis Kultureller Bildung hat mittels internationaler Politik eine neue Qualität erreicht: Seit Oktober 2011 steht mit „World CP – International Database of Cultural Policies“ – eine Plattform dauerhaft zur Verfügung, die im Kapitel „Promoting creativity and participation“ „Arts and culture education“ für alle beteiligten Länder erfasst. Im November 2011 hat die UNESCO Generalkonferenz beschlossen, diese Arbeit mit den Ergebnissen beider Weltkonferenzen zu verstärken und mittelfristig auf eine Dritte Weltkonferenz hinzuarbeiten. Die Rolle Ästhetischer und Kultureller Bildung soll aktiv mit den Fragen von Bildungsreform und Entwicklungszielen verbunden werden. Kulturelle Bildung kann entscheidende Beiträge zu qualitativ hochwertiger (Grund-)Bildung leisten, zu einer Befähigung zu lebenslangem Lernen, sozialer Kohäsion, Konfliktverarbeitung und zu Bildung für nachhaltige Entwicklung. Ab 2012 kann jeweils die letzte Maiwoche als Internationale Aktionswoche für Kulturelle Bildung genutzt werden, beginnend mit dem Welttag der Kulturellen Vielfalt am 21. Mai.