Im Inneren der Pyramide – Anmerkungen zum Erfahrungsraum der ‚Spezialschulen für Musik' in der DDR
Abstract
Der Beitrag widmet sich dem Erfahrungsraum der Spezialschulen für Musik in der DDR, dargestellt am Beispiel der Dresdner Spezialschule. Auf der Grundlage biografisch-narrarativer Interviews versucht er die handlungsleitenden „Regeln" dieses Schultyps zu rekonstruieren. Insbesondere arbeitet er das implizite Verständnis der damaligen Akteur*innen (Schüler*innen und Lehrer*innen) in Bezug auf die Kategorien „Leistung" und „Begabung" heraus. In einem abschließenden Schritt werden diese Befunde sowohl in Beziehung zum Selbstverständnis der DDR-Kulturpolitik als auch zu den Praxen aktueller Spitzenförderung im Bereich Musik gesetzt.
Mit der Studie „Erfahrungsraum Spezialschule“ (Lessing 2017) wurde der Versuch unternommen, anhand eines konkreten Beispiels – der „Spezialschule für Musik Dresden“ zwischen 1965 und 1990 – die Strukturen und Arbeitsweisen der ehemaligen DDR-Spezialschulen für Musik zu beschreiben. Obschon diese Thematik mit einer intensiven geschichtlichen Spurensuche verbunden war, verband ich mit ihr kein primär historisches Interesse. Vielmehr ging es darum, den Lebensraum einer besonderen musikalischen Frühfördereinrichtung aus der Perspektive der Akteur*innen zu rekonstruieren und die Dresdner Schule als Musterbeispiel für die Spezialschulen der DDR zu präsentieren. Die problematische Alternative, konkrete Bildungsinstitutionen entweder zum Gegenstand lokalhistorischer Forschung zu machen, oder sie unter dem Gesichtspunkt standortübergreifender Strukturen zu beschreiben, sollte durch einen Ansatz überwunden werden, der davon ausging, dass das, was eine Institution ausmacht, immer durch konkrete Akteur*innen und ihre jeweiligen habituellen Rahmungen hervorgebracht und verkörpert wird. Über die Frage, welche übergeordneten Strukturen sich in diesen Verkörperungen spiegeln, sollte gerade nicht vorweg entschieden werden, denn damit wären die Beteiligten unweigerlich zu bloßen Fallbeispielen eines Strukturgeflechts mutiert, dessen konkrete Gestalt doch eigentlich erst durch eine Rekonstruktion der jeweiligen „Orientierungsrahmen“ (so der Leitbegriff der in dieser Studie verwendeten Dokumentarischen Methode [vgl. Lessing 2017:42–60} herausgearbeitet werden sollte.
Diese Zielsetzung führte zur Frage der Übertragbarkeit der Forschungsergebnisse. Für den engen Kosmos der DDR-Spezialschulen ließ sich dieses Problem insofern lösen, als sich in den herausgearbeiteten Orientierungsrahmen der Dresdner Akteur*innen gesellschaftliche bzw. zeitgeschichtliche Rahmenbedingungen und bildungspolitische Zielsetzungen aufzeigen ließen, die sich ihrerseits rekonstruieren ließen und für alle Spezialschul-Standorte Geltung beanspruchen konnten. Offen blieb die Frage, ob und inwieweit sich die handlungsleitenden Faktoren des Dresdner Mikrokosmos auf die heutige Situation im Bereich der hochschulischen studienvorbereitenden Spitzenförderung übertragen lassen. Um die Frage zu klären, ob sich hier, ungeachtet der z.T. großen Unterschiede zwischen den verschiedene Fördertypen, ein gemeinsames Set an implizit gesetzten Orientierungen und handlungsleitenden Rahmungen feststellen lässt, wären weitere Einzelstudien notwendig. Die Ergebnisse des Spezialschul-Projekts lassen aber zumindest die Vermutung zu, dass in dem wie immer auch regional und zeitgeschichtlich geprägten Handeln der Akteur*innen zugleich Denkformen und Handlungspraxen ihren Niederschlag fanden, die für den Bereich der Frühförderung insgesamt charakteristisch und heute noch wirksam sind. Das ist freilich kaum mehr als eine Vermutung, denn es mangelt noch immer an Studien, die anhand konkreter Fallbeispiele das Zusammenspiel von Akteur*innen und Institutionen im Bereich der aktuellen musikalischen Spitzenförderung eingehend thematisieren. Ich habe mich darum bemüht, die Ergebnisse der Spezialschul-Studie auf einem Abstraktionsgrad zu formulieren, der zwar keine Allgemeingültigkeit beansprucht, dessen Höhe aber einen Vergleich ermöglicht.
Rückblick: Förderung des professionellen Nachwuchses in Ost und West
Die Förderung des professionellen Nachwuchses in der Musik konnte auch nach dem Ende der DDR als eine besondere Errungenschaft gelten. In Westdeutschland gab es nichts Vergleichbares. Vielversprechende Instrumentalist*innen konnten zwar in einer „Studienvorbereitenden Abteilung“ an einer öffentlichen Musikschule auf die Aufnahmeprüfung an einer Musikhochschule vorbereitet werden oder – bei entsprechenden Leistungen – vor dem Abitur als Jungstudierende ihren Hauptfachunterricht bei hochschulischen Lehrkräften erhalten. Aber das war etwas völlig anderes als das nach sowjetischem Vorbild konzipierte Modell einer Spezialschule, das Jugendlichen die Möglichkeit gab, neben den allgemeinbildenden Fächern zugleich eine professionelle instrumentale Ausbildung unter dem Dach einer Musikhochschule zu erhalten. Zu den Charakteristika der vier Spezialschulen der DDR – die Standorte waren Berlin, Dresden, Halle und Weimar – zählte die Tatsache, dass sie organisatorischer Bestandteil einer Musikhochschule waren, gleichzeitig aber den Charakter einer selbstständigen Institution trugen – mit eigenen Gebäuden, eigenem Internatsbetrieb und eigenen Lehrplänen. Das sollte eine möglichst optimale Hinführung an das spätere Studienniveau garantieren. Heute könnte man dies „duale Ausbildung“ nennen: Die Spezialschulen boten einerseits einen Lehrbetrieb, der von umfangreicher Einzelbetreuung gekennzeichnet war – Hauptfachunterricht bei Lehrkräften der Hochschule, Korrepetition – und sich in dieser Hinsicht kaum vom Studium unterschied. Andererseits waren sie „normale“ Schulen, die sich am allgemeinen Lehrplan der Polytechnischen Oberschulen (POS) orientierten, einen Regelschulabschluss nach der 10. Klasse boten – mit der Möglichkeit eines anschließenden Musikstudiums – und durch einen Unterrichtsbetrieb geprägt waren, der sich – mit Ausnahme der kleineren Klassenstärken und einer teilweisen Nutzung der Nachmittagsstunden – nur wenig von den Abläufen anderer Schulen unterschied. Die Internatsstruktur, die sich aus dem Anspruch ableitete, alle Kinder der jeweiligen Region zu erreichen, verstärkte die institutionelle Eigenständigkeit: Spezialschul-Schüler*innen waren Teil einer eigens auf sie ausgerichteten Institution und nicht, wie die Jungstudent*innen im Westen, lediglich externe Besucher*innen, um nicht zu sagen: Fremdkörper, die die hochschulischen Strukturen zwar nutzten, ohne doch wirklich dazu zu gehören (vgl. Lessing 2017:15).
Methodische Vorgehensweise
Im Mittelpunkt der Spezialschul-Studie stand die „Rekonstruktion“ eines „Erfahrungsraums“: Mit dem Begriff werden in der interpretativen Wissenssoziologie jene Räume bezeichnet, die durch ein gemeinsam geteiltes Wissen der handelnden Akteur*innen entstehen bzw. die – als institutionell bereits vorgeprägte Räume – dieses Wissen entstehen lassen. Ein derartiges Wissen wird auch als „konjunktives“ (= d.h. verbindendes) Wissen bezeichnet und ist zunächst einmal impliziter Natur. Den Akteur*innen ist also nicht zwangsläufig bewusst, dass sie darüber überhaupt verfügen. Ralf Bohnsack, dem die Ausarbeitung des dokumentarischen Verfahrens zu einem elaborierten Forschungsinstrument, der so genannten „Dokumentarischen Methode“, zu verdanken ist, verdeutlicht das unter Berufung auf Karl Mannheim, den Ahnherrn der Wissenssoziologie, am Beispiel eines Dorfes: Was genau ein Dorf ist, scheint einerseits in seiner „verwaltungsmäßigen, juristischen, verkehrstechnischen oder auch wissenschaftlichen Bedeutung mehr oder weniger verfügbar [zu sein]. Eine zusätzliche, aber völlig andere Bedeutung gewinnt [dieser Begriff aber] für diejenigen, die, im Dorf wohnend, Erfahrungen der dörflichen Alltagsexistenz damit verbinden.“ (Bohnsack 2010:61). Für seine Bewohner besitzt das Dorf eine Bedeutung, die sich aus der Praxis des alltäglichen Lebens ergibt. Diese Praxis ist nicht direkt kommunizierbar. Nicht über sie, sondern aus ihr heraus wird gesprochen und gehandelt. In eben diesem Sinne habe ich die Dresdner Spezialschule als einen Erfahrungsraum zu begreifen versucht, dem eine implizite und konjunktive Handlungspraxis entsprang, die zu rekonstruieren die Aufgabe der Forschungsarbeit war.
Die konjunktiven Wissensbestände liegen nicht manifest zutage, sondern müssen – und dies ist die Aufgabe, der sich die Dokumentarische Methode stellt – in einem mehrstufigen Analyseprozess aus den Äußerungen der Akteur*innen herausgearbeitet werden. War die Dokumentarische Methode zunächst als interpretatives Verfahren im Rahmen von Gruppendiskussionen entwickelt worden, wo das die Akteur*innen verbindende geteilte Wissen ganz direkt und offensichtlich hervortritt, so ist sie bereits mehrfach im Rahmen von biografisch-narrativen Interviews zum Einsatz gelangt (vgl. Nohl 2017). In der Spezialschul-Studie wurde auf diesen Interviewtyp zurückgegriffen. Es war das Ziel, aus den Lebenserzählungen der Befragten konjunktive Wissensbestände zu rekonstruieren, anhand derer sich die Orientierungsrahmen bestimmen ließen, die für den Erfahrungsraum der Dresdner Spezialschule insgesamt charakteristisch waren (vgl. Lessing 2017:42 – 60 bzw. 298–307). Zugleich sollte der Frage nachgegangen werden, inwieweit sich die Orientierungsrahmen der Spezialschulzeit auch auf die weitere musikalische Biografie der Befragten auswirkten.
In diesem Beitrag werden einige zentrale Aspekte dieses Erfahrungsraums vorgestellt und erörtert, wobei ich neben Interviewaussagen auch zeitgeschichtliche Dokumente wie Lehrpläne oder Prüfungsprotokolle hinzuziehe. Sehr bewusst verzichte ich bei den ausgewählten Textausschnitten auf Passagen, in denen teilweise drakonische Disziplinierungs- und Maßregelungspraktiken thematisiert werden und die damit heutigen Leser*Innen eine Distanzierung leicht machen. Derartige Praktiken gab es unleugbar, wenn auch bei weitem nicht in einem Ausmaß, das ihre einseitige und skandalisierende Hervorhebung rechtfertigen könnte. Viel bedeutsamer erscheinen mir hingegen jene auf den ersten Blick unscheinbar wirkenden Interview-Passagen, in denen das implizite Verständnis der Befragten zu Aspekten wie Leistung, Begabung und Entwicklungsfähigkeit zum Ausdruck kommt, denn sie bieten einen Vergleichshorizont zur Praxis heutiger Frühförderinstitute. Im Schlussteil werden diese Horizonte dann – mit gebotener Vorsicht – abgeschritten.
Die Pyramide in der Pyramide
„Und mit meinem Lehrer bin ich so eigentlich dann ganz gut klargekommen. Mal mehr, mal weniger, wie das halt so ist, wie gesagt, ich bin also nie so der Durchstarter gewesen […].“ Claudia Thalheim
„Prof. Bentheim kann man rückblickend nur vorwerfen, dass er eigentlich kein guter Lehrer war. […] Er hat auch viele Leute aufm Gewissen und ich hatte nur das Gefühl, ich komme mit seiner Art und mit seiner verbalen Art ganz gut zu Recht, und das konnten manche überhaupt nicht. Die wollten wissen: Wie setz ich den Finger und wie halte ich meinen Arm und blablabla. Wir hingegen konnten uns sogar unterhalten, so über eine blumige Sprache und Metaphern, ja? Also, er hat mir auch im Prinzip manchmal halbe Stunden irgendwelche Geschichten erzählt, wo man dann als junger Mensch, wie als Quintessenz, rausfiltern musste: Was will er denn hier eigentlich damit sagen? – ‚Sie spielen wie ein schöner Tisch und wenn ich nah heran gehe, sehe ich, dass der ganze Tisch Striemen hat.‘ Ok? Also: Es wirkt ganz toll, aber wenn ich genau hinhöre, ist es noch so. Und ich habe das verstanden, aber andere Leute nicht.“ Sebastian Dürer
Die stellvertretend zitierten Äußerungen zweier ehemaliger Dresdner Spezialschüler*innen sind trotz ihrer offenkundigen Unterschiedlichkeit insofern miteinander verbunden, als sie erkennen lassen, dass die hier zum Ausdruck gelangenden Orientierungsrahmen in beiden Fällen von einer tiefgreifenden Distinktion geprägt waren. Beide Gesprächspartner*innen errichten aus jeweils unterschiedlicher Perspektive eine Scheidelinie, die zwischen den „Durchstartern“ und dem Rest der Schüler*innen trennt. Diese Grenze scheint in ihren Köpfen fest verankert gewesen zu sein. Sie zeigt nicht nur an, wer in der gefühlten, augenscheinlich stark über die Hauptfachleistung definierten, Hierarchie der Spezialschüler*innen „oben“ und „unten“ war. Vielmehr lässt sich an ihr auch ablesen, mit welchem Schülertyp die Spezialschulausbildung implizit rechnete: Frau Thalheim formuliert mit ihrer auf den ersten Blick sehr unscheinbar wirkenden Äußerung eine Konditionalkonstruktion, die davon auszugehen scheint, dass der Hauptfachunterricht eines „Nicht-Durchstarters“ gleichsam selbstverständlich („wie das halt so ist“) dadurch geprägt war, dass es in ihm „mal mehr, mal weniger gut“ lief. Gerade in dieser Selbstverständlichkeit, die zugleich auch eine Allgemeingültigkeit impliziert, äußert sich das konjunktive Moment ihrer Feststellung. Für Frau Thalheim ist es – anscheinend bis in die aktuelle Interviewsituation hinein – derart offensichtlich, dass für Nicht-Durchstarter*innen das Verhältnis zum Hauptfachlehrer*innen von Höhen und Tiefen gekennzeichnet ist, so dass dies keiner weiteren Erklärung bedarf. Ihre verallgemeinernde Sicht auf den Hauptfachunterricht tritt mit dem Index von Natürlichkeit bzw. Selbstverständlichkeit auf und weist gerade darin auf einen Erfahrungsraum zurück, dem es anscheinend gelang, den Eindruck einer derartigen Natürlichkeit fest im kollektiven Bewusstsein der Akteur*innen zu verankern. Frau Thalheims Äußerung lässt erkennen, dass der Hauptfachunterricht an der Spezialschule mit einem bestimmten Niveau gerechnet hat, dessen nur partielle Einlösung dazu führte, dass die auf diese Weise in die zweite Reihe verbannten Schüler*innen zu spüren bekamen, dass sie nur partiell den Erwartungen entsprachen. Herr Dürer bestätigt diese Haltung aus einer anderen Perspektive heraus. Bei der zitierten Passage geht es keineswegs nur um die Schilderung eines guten persönlichen Drahtes zwischen ihm und seinem Lehrer, Prof. Bentheim. Vielmehr will er zeigen, dass dieser Draht an eine bestimmte Voraussetzung gebunden war: Wer nach konkreten technischen Umsetzungen fragte und die metaphorische Sprache Prof. Bentheims nicht begreifen konnte, scheint, so die latente Gedankenkonstruktion, zu jenen gehört zu haben, die dieser „aufm Gewissen“ hatte. Ganz wie Frau Thalheim sanktioniert auch Herr Dürer diese Grenzlinie. Lässt die Formulierung vom „auf dem Gewissen haben“ auch auf eine leichte Distanz zu den Praktiken von Prof. Bentheim schließen, so weist das performative Nachäffen der weniger begünstigten Mitschüler*innen („die wollten wissen: Wie setz ich den Finger und wie halte ich meinen Arm und blablabla“) darauf hin, dass er Prof. Bentheims Sicht- und Handlungsweise im Grunde teilt.
Die von beiden Gesprächspartner*innen thematisierte Grenze war natürlich nur eine inoffizielle, die nirgendwo explizit formuliert wurde. De jure handelte es sich auch bei den „Nicht-Durchstarter*innen“ um reguläre Spezialschüler*innen – ja mehr noch: das Spezialschulsystem und mit ihm die Kulturpolitik der DDR rechnete fest mit ihnen, mussten doch die 87 Profiorchester des Landes regelmäßig mit Nachwuchs versorgt werden. So ergab sich die Situation, dass die Spezialschulen einerseits innerhalb eines pyramidal gedachten instrumentalpädagogischen Ausbildungssystems die Spitze darstellten, diese Spitze aber ihrerseits eine implizite Pyramidenstruktur aufwies, in der es einen breiten Durchschnitt und eine schmale Leistungselite gab, wobei sich die Anforderungen tendenziell am Niveau dieser Elite orientierten. Alles, was diesen Anforderungen nicht oder nur teilweise entsprach, wurde mit dem negativen Stempel des „Normalen“ versehen.
Im Vergleich zu Schüler*innen einer „normalen" Musikschule waren die Spezialschüler*innen also „besonders“, auch wenn sie im Rahmen der Spezialschule lediglich als „normal“ beurteilt wurden. Diese Normalität fand Eingang in die Selbstbilder und wirkt, wie die Interviews mit den ehemaligen Schüler*innen eindrucksvoll zeigen, auch vierzig Jahre später noch nach. Insgesamt dominiert der Eindruck, dass der Hauptfachunterricht einem Großteil der Schüler*innen das Gefühl des Deplatziertseins vermittelte – ein Gefühl, das bei vielen Interviewpartner*innen interessanterweise nicht zur nachträglichen Ablehnung des Spezialschulsystems führte, sondern häufig durch die Mobilisierung von Sekundärqualitäten wie Durchhaltevermögen oder Stolz kompensiert wurde.
Handwerk und Kunst
Die Orientierung an „besonderen“ Leistungen ist zunächst kein besonders erstaunlicher Befund, sondern ein Merkmal, das vermutlich jeder musikalischen Spitzenförderung innewohnt. Gleichwohl ist darauf hinzuweisen, dass sie in einem wesentlichen Punkt in einem Widerspruch zum expliziten Selbstverständnis der Spezialschulausbildung stand: Folgt man den Äußerungen maßgeblicher Akteur*innen, so verstanden sich die Spezialschulen keineswegs primär als Orte ambitionierter künstlerischer Leistungen, die nur von wenigen realisiert werden konnten, sondern eher als eine propädeutische und auf das „Handwerk“ fokussierte Ausbildungsstätte, die auf ein im späteren Studium auszuprägendes künstlerisches Handeln hinführen sollte. Um es in den Worten eines interviewten Bläserdozenten auszudrücken:
„Wenn ich einen Spezialschüler nehme, muss der während der Spezialschulzeit sein Instrument so bedienen lernen, dass es keine Probleme mehr gibt. Wenn er dann zum Studium kommt, dann wird richtig musikalisch gearbeitet.“ (Lessing 2017:127)
In einem vergleichbaren Sinne äußerte sich auch eine Violinpädagogin:
„Sie müssen davon ausgehen, dass unser Beruf erst einmal ein Handwerk ist. Und was zum Handwerk gehört, war in den Lehrplänen [der Spezialschulen] genau vorgegeben. Es gab also einen methodisch gesicherten Aufbau, der dazu führte, dass an allen vier Standorten dasselbe gelehrt wurde.“ (ebd.)
Wenn es an den Spezialschulen primär um einen „methodisch gesicherten Aufbau“ – und damit um einen in letzter Konsequenz lehr- und lernbaren Ausbildungsweg – gehen sollte, dann stellt sich die Frage, wieso die schroffe Polarität zwischen „besonderen“ Spitzenleistungen und dem breiten Feld des „Normalen“ in den Köpfen der Akteur*innen eine derart dominante Rolle spielen konnte. Denn diese Polarität zielt – wie die eingangs zitierten Schüler*innenäußerungen zeigen – gerade nicht auf ein Kontinuum zwischen sehr guten, eher besseren, eher schlechteren und schlechten Leistungen ab, sondern bezeichnet eine grundsätzliche und durch Lernen kaum aufzuholende Verschiedenheit der Personen. Wie konnte es möglich sein, auf der einen Seite den Handwerksbegriff (der in der hier verwendeten Form die Vorstellung einer gestuften Lehr-/Lernbarkeit impliziert) ins Zentrum der Ausbildung zu stellen und zugleich ein System auszuprägen, das zentral von einer schroffen Scheidung zwischen „Besonderen“ und „Normalen“ beherrscht war?
Eine indirekte Antwort lässt sich aus den von der zitierten Violinpädagogin erwähnten Lehrplänen der Spezialschulen ablesen. Diese Pläne beschrieben in ihrem Kern so etwas wie eine idealtypische Spezialschul-Biografie. Auf das Genaueste fand sich hier aufgelistet, welche Etüden und Werke am Ende einer jeden Klassenstufe von den Schüler*innen erfolgreich durchgearbeitet sein mussten. Dabei stand der Aspekt der Entstehung und Ausbildung künstlerischer Persönlichkeit zumindest auf der expliziten Ebene in keiner Weise im Fokus; man schien davon auszugehen, dass sich diese Persönlichkeit quasi automatisch einstellte (oder eben nicht), wenn der handwerkliche Lehrgang zufriedenstellend durchlaufen war. Eine erfolgreiche Spezialschul-Karriere war an das Durcharbeiten dieses zeitlich genau gegliederten Stoffplanes gebunden. Als Beispiel diene ein Ausschnitt aus dem „Lehrplan Violine“ der Klasse 7, an dem führende Violinpädagog*innen aller vier Spezialschul-Standorte mitgewirkt hatten und denen – im Gegensatz zu manchen Lehrplänen unserer Tage – durchaus alltagspraktische Relevanz zukam.
„Rechte Hand:
- Die Stricharten sind weiter zu fördern in Bezug auf genaues Einhalten der vorgeschriebenen Tempi und der Tonqualität (z.B. Sevcik op. 2 Heft I Nr. 6, 7, 11 oder an Etüden Kayser Nr. 13, 18, 24; Dancla op. 68 Nr. 12; Spindler Heft II S. 25 und 26)
- Pflege des Bogenwechsels an allen Stellen des Bogens vor allem am Frosch. Bogenwechsel mit Legatoformen und Saitenübergängen (Auswahl aus Sevcik op. 2 Nr. 11 und 29)
- Bei den Saitenwechselstudien sollten auch springende Saitenwechsel über drei und 4 Saiten an entsprechendem Material einbezogen werden (z.B. Sevcik op. 2 Nr. 11, 29, 31, 33, 34; Etüden: Wohlfahrt op. 54 Nr. 27, 55; Mazas Heft I Nr. 11 u.a.)
- Tonbildungsstudien sind fortzuführen (z.B. an gehaltenen Einzel- und Doppelgrifftönen unter Berücksichtigung der Kontaktstellen, z.B. Kayser 17, Mazas Heft Nr. 7, 27 u.a.)
- Beginn der Strich-Akkord-Studien (z.B. Sevcik op. 2 Nr. 37; Dancla op. 68 Nr. 3)“ (Brinkmann et al. 1967:13 f.).
Zwar wurde ausdrücklich zugestanden, dass „im ganzen gesehen […] das Studienmaterial die individuellen Eigenheiten des Studierenden, den Stand seiner allgemeinen technischen und musikalischen Entwicklung berücksichtigen [sollte]“, ein „Vor- oder Zurückgreifen im Schwierigkeitsgrad“ sei „erlaubt“, doch es folgt der Satz: „Dieses sollte jedoch begründet werden.“ (ebd.:3) Das Verhältnis zwischen vorausgesetzter Regel und geduldeter Ausnahme war damit ziemlich genau definiert.
Die Kopplung der musikalischen Persönlichkeitsentwicklung an einen zeitlich eng strukturierten technischen Stoffplan folgte der in der Einleitung des „Lehrplans Violine“ (und für alle Instrumente gültigen) formulierten Maxime, wonach als „Grundlage der Musikerziehung […] das Prinzip einer einheitlichen technischen und künstlerischen Entwicklung“ zu dienen habe (ebd.:4). Dieser Grundsatz führte in der Praxis dazu, dass bei „langsamen“ Schüler*innen der künstlerische Aspekt unter die Räder zu geraten drohte. Die Formel der „einheitlichen Entwicklung“ scheint eine Praxis befördert zu haben, die davon ausging, dass sich eine künstlerische „Persönlichkeit“ im Schlepptau eines vorgegebenen handwerklichen Stoffplanes entwickelte. Im Umkehrschluss hieß das: Stellte sich das gewünschte Ergebnis nicht ein, dann lag die „Schuld“ bei den einzelnen Schüler*innen, die eben nicht über genügend „Persönlichkeit“ verfügten. Gerade die Detailliertheit und Differenziertheit der Vorgaben sowie die dahinter zu spürende Genugtuung, vielfältigste methodisch-technische Aspekte bedacht zu haben, begünstigten somit eine Haltung, die im Vorhandensein oder in der Abwesenheit künstlerischer Eigenständigkeit einen Hinweis auf die „Begabung“ der Schülerin, des Schülers sah. Wenn auf handwerklich-methodischer Seite alles Gebotene getan wurde, dann konnte es eigentlich nur noch an der*m Schüler*in liegen!
Vor diesem Hintergrund ist es plausibel und nachvollziehbar, wenn ein Kriterium wie „Entwicklung der musikalischen Persönlichkeit“, das nach Ansicht des zitierten Bläserkollegen erst im Hochschulstudium eine zentrale Rolle spielen sollte, in der konkreten Bewertungspraxis an den Spezialschulen nicht nur eine fraglose Rolle spielte, sondern sogar die Funktion eines zentralen Selektionskriteriums innehatte: Die Orientierung am Ideal eines methodisch gesicherten und ausschließlich handwerklich orientierten Lehrgangs produzierte eine offene Stelle – die künstlerische Persönlichkeit – die sich, sofern sie von manchen Schüler*innen positiv gefüllt wurde, als Gütebeleg für den Wert der handwerklichen Ausbildung in Anspruch nehmen ließ, die aber umgekehrt, wenn sie sich eben nicht zeigte, als Indiz für mangelnde Begabung gewertet wurde. Dass gerade die Fokussierung auf ein kleinschrittiges Lehrgangsprinzip etwas mit diesem Nicht-Zeigen zu tun haben könnte, scheint als Denkmöglichkeit ausgeschlossen gewesen zu sein.
Dieser Befund bestätigt sich indirekt bei der Analyse von zwei im Rahmen des „Zentralen Leistungsvergleichs der Klassen 7–9“ im Fach Violine getroffenen Einschätzungen aus dem Jahre 1985:
„Holger verfügt […] über eine gute Geläufigkeit. Der künstlerische Gesamteindruck blieb jedoch noch einförmig und blass.“ (Arbeitsgruppe Violine/Viola 1985:4)
„Das Programm war sehr gut gearbeitet und wurde solide und korrekt dargeboten. […] Im ganzen fehlt Christianes Spiel noch die Eigenständigkeit und persönliche Ausstrahlung.“ (ebd.)
Holgers Leistung wurde mit 16, Christianes mit 16,6 von insgesamt 25 möglichen Punkten bewertet. In beiden Fällen handelte es sich um eher „durchschnittliche“ Leistungen. Keineswegs kann man also sagen, dass an den Spezialschulen ein solides, korrektes und gut gearbeitetes: ein handwerklich sauberes Spiel, einseitig zum Maß aller Dinge erhoben wurde. Aber woran lag es, dass Holgers Spiel blass blieb und Christiane über keine Ausstrahlung verfügte? Die Frage, ob nicht in beiden Fällen möglicherweise das zentrale Augenmerk der Schüler*innen dem Beherrschen des in den Lehrplänen festgeschriebenen Stoffes galt, der sie bis an ihre Grenzen forderte und daher kaum Raum für anderes ließ, scheint nicht gestellt worden zu sein. Die außer jeder Frage stehende, gleichsam sakrosankte Stellung der handwerklich-technischen Aspekte führte dazu, dass die Art und Weise, wie diese Aspekte künstlerisch realisiert wurden, als ein „Surplus“ in Erscheinung trat, das die Schüler*innen hatten – oder eben nicht hatten. Da der Bereich des Künstlerischen untrennbar mit dem technisch-handwerklichen Fortschreiten verbunden war, gerieten Schüler*innen, die, wie Holger und Christiane, womöglich einiges an musikalischer Ausdruckskraft mitbrachten, aber in ihrer Aufmerksamkeit anscheinend vollständig mit technisch-manuellen Aspekten beschäftigt waren, schnell ins Hintertreffen. Es ist aufschlussreich, dass es in allen untersuchten Leistungsvergleich-Protokollen kein Beispiel dafür gibt, dass einer Leistung musikalische Persönlichkeit bei gleichzeitig vorliegenden technischen Mängeln zugeschrieben wurde. Der Grundsatz der einheitlichen technischen und künstlerischen Entwicklung ließ nicht zu, das letztere als erfüllt zu werten, wenn das erste nicht vorhanden war.
Ob die Verbannung in den „Durchschnitt“ für die von der Pyramidenspitze ausgeschlossenen Schüler*innen nun aber der geeignete Ansatz war, die vermissten Persönlichkeitseigenschaften zu „fördern“, lässt sich bezweifeln – zumal die Entfaltung einer künstlerischen Persönlichkeit mit der Erfüllung der im Lehrplan festgelegten Norm durchaus auch in einer Konkurrenzsituation stehen konnte. In den Protokollen desselben Leistungsvergleichs findet sich auch folgende Beurteilung:
„Veronikas Spiel ist noch ganz kindlich und lässt ein künstlerisches Konzept vermissen. […] Das Bériot-Konzert ist für Kl. 9 zu leicht.“ (ebd.:5)
Obgleich die Dimension der künstlerischen Persönlichkeit (oder wie es hier hieß: eines „künstlerischen Konzepts“) eine Kategorie darstellt, die in dieser Beurteilung explizit eingefordert wird, scheint sie dennoch nichts gewesen zu sein, was den Ruf nach einer speziell auf die jeweiligen Schüler*innen zugeschnittenen Unterrichtsweise hätte laut werden lassen. Wie anders ließe sich erklären, dass in ein und demselben Atemzug sowohl das Fehlen eines künstlerischen Konzepts als auch der zu geringe Schwierigkeitsgrad bei der Stückauswahl kritisiert wird? Wäre es wirklich darum gegangen, Veronika zu einem „künstlerischen Konzept“ zu verhelfen, hätte der Schwierigkeitsgrad kaum eine Rolle spielen dürfen. Indem die Jury auf einem normativ festgeschriebenen Schwierigkeitsstandard beharrte, gab sie zu erkennen, dass sie die Entwicklung eines künstlerischen Konzepts für etwas hielt, für das die Spezialschul-Lehrkräfte allerhöchstens mittelbar verantwortlich waren. Dass die Entfaltung dieser Kategorie mitunter eine Abkehr von der geforderten Entwicklungsnorm hätte verlangen können, scheint im Bewusstsein dieser Kommission, der immerhin führende Vertreter*innen aller vier Spezialschulen angehörten, nicht vorhanden gewesen zu sein.
Obwohl es eine Norm gegeben hat, die den Erfolg der Spezialschulausbildung am Erreichen der in den Lehrplänen vorgeschriebenen handwerklichen Ziele maß, scheint der konjunktive Erfahrungsraum der Spezialschulen von dem Bewusstsein geprägt gewesen zu sein, dass die Entsprechung dieser Norm keineswegs genügte, um sich als vollgültige*r Musiker*in fühlen zu können. Ungeachtet der immer wieder anzutreffenden Charakterisierung der Spezialschulen als Orte einer soliden handwerklichen Grundausbildung, war die Benotungspraxis eindeutig auf die Erzeugung einer Gruppe „besonderer“ Schüler*innen zugeschnitten, in deren Angesicht dem ganzen Rest ein Platz in der zweiten oder gar dritten Reihe zugewiesen wurde. Die pyramidale Struktur des Erfahrungsraumes war keine naturgegebene Tatsache, sondern wurde in einem hohen Maße durch die Handlungspraxis der Akteur*innen produziert.
Anlage und/oder Begabung
Die Beispiele zeigen, dass die Ausbildung nicht bei der Persönlichkeit der Individuen ansetzte, sondern als ein komplexes und zweifellos sehr durchdachtes Lehrgangsprogramm in Erscheinung trat, in das sich die individuellen Orientierungsrahmen zu fügen hatten. Wer diesen Weg erfolgreich durchlief – und das waren nicht wenige – konnte als „lebendiger“ Beweis für die Funktionstüchtigkeit der Ausbildung gelten. Tat man sich mit den vorgegebenen Rahmungen hingegen schwer, so wurde dies nicht als Problem des Ausbildungssystems gesehen, sondern den Betroffenen selbst angelastet.
Diese unterschiedlichen Zuschreibungen hatten ihre Ursache nicht allein im Selbstverständnis eines zentralistischen und von oben herab organisierten Bildungssystems, das erfolgreiche Schüler*innen auch als Beweis für seine eigene Leistungsfähigkeit sah, sondern erhielt eine wichtige Rückendeckung durch die Art und Weise, wie in der DDR generell über Begabung gesprochen und nachgedacht wurde.
Die Analyse einschlägiger erziehungswissenschaftlicher Begabungsdefinitionen bringt vier Aspekte zum Vorschein, die nicht nur für den wissenschaftlichen Diskurs, sondern auch für das Selbstverständnis der praktischen Begabungsförderung von Bedeutung waren (vgl. Hilgendorf 1984, Anlage 7:100 f.):
- Begabung war in der DDR eng mit dem Leistungsbegriff verbunden und durch ihn definiert; sie erschien nicht so sehr als ein Potenzial, sondern manifestierte sich in einer guten Leistung.
- Prädispositionen – etwa genetischer Art – wurden nicht geleugnet, aber insgesamt eher zurückhaltend beurteilt.
- In das Konstrukt „Begabung“ flossen auch Sekundärtugenden wie Fleiß, Ausdauer etc. ein, ohne die sich Leistungen nicht realisieren lassen.
- Die hauptsächliche Aufmerksamkeit galt der Entwickelbarkeit der Anlagen – in Gestalt möglichst optimaler Förderbedingungen, die als entscheidende Voraussetzungen für das Zustandekommen von Leistung gewertet wurde. Begabt war, wessen Leistung sich im Sinne der Förderbedingungen entwickelte.
Diese Bestimmungen weisen mit der Betonung der Entwickelbarkeit von Anlagen durchaus Übereinstimmungen mit zeitgleich im Westen entstandenen Konzeptionen – etwa der musikalischen Begabungstheorie von Edwin E. Gordon (1986) – auf. In ihrer Konzentration auf das Resultat – die Leistung – und der Einbeziehung auch flankierender Fähigkeiten unterscheiden sie sich allerdings deutlich von Gordons Konzeption, die strikt zwischen Begabung und Leistung differenziert und die Möglichkeit einer Ermittlung von Begabung auf der Grundlage einer dargebotenen Leistung vehement bestreitet.
Mit der Fokussierung auf Leistung als „Beweis“ für Begabung war in der Pädagogik der DDR zugleich die Vorstellung einer weitgehend objektiven Messbarkeit von Leistung verbunden: Wenn die Leistung der genaue Indikator für Begabung ist, dann – so der naheliegende Gedanke – muss sie sich auch in irgendeiner Form quantifizieren lassen, denn sonst könnte sie über den Grad der sie ermöglichenden Begabung keine gültige Auskunft erteilen. Daraus folgten sowohl die Forderung nach einer unablässigen Benotung von Leistungen als auch das Vertrauen in die Objektivität dieses Verfahrens. In diesem Sinne formulierte der Rektor der Berliner Hochschule für Musik „Hanns Eisler“, Erhard Ragwitz, im Jahre 1975:
„Sind die Fragen der Beurteilung der Talente bereits bei der Durchführung der Eignungs- und Aufnahmeprüfung von großer Bedeutung, so spielen sie im Prozeß der Ausbildung und Erziehung an der Spezialschule für Musik im Verlauf von maximal 6 Ausbildungsjahren eine noch größere Rolle. […] Seit Juni 1974 ist es uns gelungen, diese Fragen anhand der Jahres- bzw. Halbjahreszensuren in der Schulleitung, in den Fachrichtungsleitungen sowie im Pädagogischen Rat regelmäßig und mit größerer Gründlichkeit zu stellen […].“ (Ragwitz 1975:37)
Das Vertrauen in die Messbarkeit und Objektivierbarkeit der Leistungsbeurteilung korrespondierte mit dem Glauben an die Planbarkeit von Leistungen. Die hier herangezogenen Begabungsdefinitionen betonen nahezu durchgängig die Entwickelbarkeit der angeborenen Anlagen. Obwohl dieser Aspekt auch von der heutigen Forschung – sofern sie noch mit dem Begabungsbegriff arbeitet – geteilt wird, gibt es jedoch einen bezeichnenden Unterschied: Aus dem Blickwinkel heutiger Entwicklungs- bzw. Begabungspsychologie stellen die äußeren Faktoren, die die Entwicklung von Begabung beeinflussen, eine ungemein komplexe Größe dar, in die die vielfältigsten Bereiche hineinspielen. Familiäre Milieus, Mutter-Kind-Bindung, pränatale Einflüsse und früheste musikalische Erfahrungen werden bei der Entwicklung angehender Musiker*innen ebenso berücksichtigt wie der Einfluss von Peergroups, die Beziehung zu Lehrer*innen, der Verlauf der instrumentalen Übebiografie, das Interesse für andere Fachgebiete oder schlicht und einfach dem Zufall unterworfene musikalische Schlüsselerlebnisse.
Diese Vielzahl der Einflüsse lässt sich mit dem Gedanken einer direkten Steuerbarkeit oder gar Planbarkeit von Leistungen schlechterdings nicht mehr vereinbaren.
Zu den Besonderheiten der Bildungssysteme im Sozialismus, auf die sich die untersuchten erziehungswissenschaftlichen Begabungsdefinitionen – getreu des Marx’schen Grundsatzes einer Einheit von Theorie und Praxis – bezogen, gehörte die Überzeugung, dass sich die Lernbedingungen durch direktive zentralistische Eingriffe in hohem Maße modellieren lassen. Betrachtet man aus heutiger Perspektive die offiziellen Verfügungen zu den Spezialschulen, ist man immer wieder überrascht, auf welch detaillierter Ebene sich die Verlautbarungen der höchsten Instanzen mitunter begaben. So heißt es in einer Direktive des Ministeriums für Kultur aus dem Jahre 1975:
„[Besondere] Förderungsmaßnahmen können u.a. sein:
- Aufnahme in einer Meisterklasse, Gewährung eines Zusatzstudiums;
- Delegierung zum Auslandsstudium;
- Delegierung zu speziellen Kursen und Seminaren, Hospitation bei deutenden Künstlern und Pädagogen;
- Verstärkte Ausbildung im künstlerischen Hauptfach; […]“ (Ministerium für Kultur 1975).
Die Idee einer zentralistisch gesteuerten Planbarkeit von Lernumgebungen äußert sich auch in dem Tatbestand, dass der Aspekt des Elternhauses und der dortigen frühesten musikalischen Prägungen in der Musikpädagogik kaum thematisiert wurde. Denn hier hätte man höchst unterschiedliche und der Planbarkeit entzogene familiäre Kontexte berücksichtigen müssen. Man wäre gezwungen gewesen, eine Vielfalt von Milieus zu akzeptieren, die es offiziell gerade nicht geben sollte. Das musikalische Bildungssystem strebte zwar eine möglichst frühe und flächendeckende Förderung der Gesamtbevölkerung an. Dass diese Förderung aber von manchen Familien, die über das entsprechende kulturelle Kapital verfügten, besser genutzt werden konnte als von anderen, wurde nicht offen thematisiert – und wenn, dann nur in der gebetsmühlenartig wiederholten Aufforderung, dass sich die Spezialschulen bitte stärker um Proletarierkinder bemühen sollten, was in der Praxis dann durch trickreiche Verbrämungen häufig ausgehebelt wurde. Die Nichtbeachtung der vielfältigen Herkunftsdifferenzen reduzierte die Komplexität der auf die Begabung einwirkenden Einflussfaktoren. Da die Umwelt eines angehenden Musikers als weitgehend planbar angesehen wurde, waren die Institutionen, die aus diesen Plänen hervorgingen, in gewisser Weise dazu „verurteilt“, ihr eigenes Tun als erfolgreich begreifen zu müssen. Eine selbstkritische Evaluation der eigenen Praxis hätte nicht nur die bestehenden Planungen, sondern die Idee von Planbarkeit selbst in Frage stellen müssen. Die Selbstreflexion folgte, wenn sie denn stattfand, eher dem Motto: Es ist schon alles gut, muss aber noch besser werden.
Wenn die Institutionen aus staatlicher Sicht – und, wie viele der Lehrer*inneninterviews zeigen, auch aus der Perspektive der dort lehrenden Personen – aber eine weitgehend ideale und nur im Detail verbesserungsfähige „Umwelt“ darstellten, erhebt sich die Frage, welchen Aspekten es dann zuzuschreiben ist, wenn Schüler*innen möglicherweise die geforderten und erwarteten Leistungen nicht erbrachten. Da es an der Umwelt nicht liegen konnte – sie wurde gewissermaßen per definitionem als die beste aller denkbaren Welten begriffen –, dann blieb eigentlich nur noch der Anlagefaktor übrig.
Damit wurde paradoxerweise eben das der staatlichen Lenk- und Planbarkeit entzogene stabile und überdauernde Persönlichkeitsmerkmal „begabt“ oder eben „unbegabt“ zu einem entscheidenden Selektionskriterium. Eine verschlungene Situation: Die für die DDR-Pädagogik charakteristische Fokussierung auf den Umweltaspekt – und gerade nicht auf die genetische Anlage – begünstigte zunächst die Vorstellung einer weitgehenden Modellierbarkeit der jeweiligen Lernumgebung und damit die Idee einer zumindest tendenziellen Veränderbarkeit der individuellen Dispositionen. Das setzte die staatliche Bildungspolitik und die aus ihr hervorgehenden Institutionen jedoch unter einen beträchtlichen Erfolgsdruck: Es wäre ein Eingeständnis in das Versagen des Systems, wenn die Idee einer zentralistisch gesteuerten Modellierbarkeit von Lernumgebungen nicht in optimalen Strukturen – und, daraus folgend, in herausragenden Leistungen – ihren Niederschlag gefunden hätte. Der daraus resultierende Zwang, die eigenen Strukturen als weitgehend erfolgreich begreifen zu müssen, bürdete die „Schuld“ für Versagen oder Erfolg damit durchaus folgerichtig den einzelnen Schüler*innen – oder besser: ihren Anlagen – auf. Der Anlagefaktor erhielt damit unfreiwillig eine Bedeutung, die ihm ideologisch eigentlich gar nicht zukommen sollte.
Aus dieser Perspektive überrascht es nicht, wenn die Schüler*innen, die sich nach ihrem eigenen Selbstverständnis eher im unteren Teil der Leistungspyramide verorteten, die von ihnen selbst akzeptierte Zuschreibung als „Durchschnitt“ nicht als inneren Impuls zu einem autonom erfolgenden Wandlungsprozess begriffen, der sie in die Richtung einer integriert-intrinsischen Motivation hätte führen sollen, sondern als eine Forderung wahrnahmen, die implizit die Diagnose eines statischen, nicht veränderbaren Defizits enthielt. Anstatt eines Vertrauensvorschusses – „Auch Du kannst das erreichen!“ – scheint mit der Forderung nach Veränderung zumeist die Überzeugung einer Unveränderbarkeit des aktuellen Orientierungsrahmens mitgeliefert worden zu sein – „Weil Du nur durchschnittlich begabt bist, musst Du besonders viel arbeiten!“
Spezialschule und Berufsfeld
Der in der Spezialschul-Studie herausgearbeitete Befund, wonach die rekonstruierten Orientierungsrahmen der befragten Interviewpartner*innen nur in wenigen Fällen im späteren Leben eine grundlegende Wandlung oder gar Transformation erfuhren (vgl. von Rosenberg 2011:76ff.), bestätigt eindrücklich die erziehungswissenschaftliche Erkenntnis, wonach schulische Erfahrungen in hohem Maße prägend für die weitere Biografie sind (vgl. Nittel 1992). Allerdings kommt im Falle der Spezialschulen ein weiteres Moment hinzu: Stabil konnten die während der Schulzeit gebildeten Orientierungsrahmen nur deshalb bleiben, weil das Berufsleben, auf das die Spezialschulen vorbereiteten, die dort gebildeten Orientierungsrahmen weitgehend fortschrieb. Man kann es auch umgekehrt formulieren und sagen, dass die Schulkultur der Spezialschule in hohem Maße kompatibel zu den Bedürfnissen der beruflichen Wirklichkeit war. Wo diese Bedürfnisse unverändert blieben – und das war nach der Wende vor allem in den Orchestern und an den Musikhochschulen der Fall – gab es für die Befragten kaum Gründe, den bestehenden Orientierungsrahmen zu transformieren. Wo allerdings das Berufsleben von Spielregeln beherrscht war, die von den Regeln des konjunktiven Erfahrungsraums abwichen, funktionierten die bestehenden Orientierungen nicht mehr, sondern verlangten nach einer Neujustierung, die sich als schwierig erwies, weil sie eine Überwindung jener statischen Selbstbilder verlangt hätte, deren Hervorbringung die Schulkultur der Spezialschule kennzeichnete und die gerade in ihrer Statik ein Hemmschuh für tiefgreifende Transformationsprozesse darstellten.
Die Kompatibilität zwischen schulischem Erfahrungsraum und beruflicher Realität schlug sich auch in der Tatsache nieder, dass an der Dresdner Spezialschule die Ausbildungsarbeit zu einem großen Teil von Musiker*innen aus den Dresdner Orchestern geleistet wurde. Anders als im Leistungssport der DDR, der bis in seine letzten Winkel straff zentralistisch organisiert war (vgl. Adam/Hövemann et al. 2015), waren die Orchester, obgleich sie nominell ebenfalls staatliche Institutionen waren, immer auch Räume, in denen eine eigene implizite Hierarchie galt – die Hierarchie der Musiker*innen, die abseits politischer Rangfolgen streng regelte, wer in ihr oben und wer unten war. Die maßgeblichen Akteur*innen in dieser Hierarchie besaßen, sobald es ums Fachliche ging, ein beträchtliches Selbstbewusstsein, das von staatlicher Seite aus nicht in Frage gestellt wurde. Ein (meist männlicher) Musiker der Staatskapelle „galt“ in Dresden etwas und besaß innerhalb seines eigenen fachlichen Bereichs auch eine gewisse Macht. Da der Staat in Hinblick auf die Musik – im Sport wäre das wohl undenkbar gewesen (vgl. Lessing 2017:231 ff.) – den Typ des unpolitischen Fachmanns nicht nur duldete, sondern ihn zuweilen sogar auch mit Leitungsaufgaben betraute, konnte dieser Typ in der Ausbildung an Spezialschulen und Hochschulen eine beträchtliche Wirkungskraft entfalten. Dass es hier kaum Rollenkonflikte gab – in dem Sinne, dass es für systemkritisch eingestellten Orchestermusiker*innen vielleicht ein Problem gewesen wäre, an einer staatlichen Ausbildungsinstitution zu arbeiten – hängt nicht nur damit zusammen, dass diese Ausbildungsarbeit als im Kern nicht politisch begriffen wurde, sondern auch damit, dass die Grundregeln des Erfahrungsraumes Spezialschule hochgradig kompatibel zu den Orientierungsrahmen der Orchestermusiker*innen waren. Das vom oberen Pyramidenteil verkörperte Passungsideal, das eine hohe instrumentale Leistungsfähigkeit und eine intrinsisch-integrierte Motivation zum Üben mit einer gleichzeitigen Indifferenz gegenüber allem, was nicht Musik war, verband, war nicht nur dem Erfahrungsraum Spezialschule eingeschrieben, sondern deckte sich auch mit den Erwartungen, die die Orchestermusiker*innen an „ihresgleichen“ stellten. Und dass die nicht passenden Orientierungsrahmen an der Spezialschule zur Veränderung angehalten wurden, ohne sie als differente Rahmen wirklich anzuerkennen, ist eine Praxis, die nicht nur für die „offizielle“ DDR-Pädagogik kennzeichnend ist, sondern mit dem Selbstverständnis vieler Orchestermusiker*innen übereinstimmte. Diese Parallelität weist darauf hin, dass entscheidende Komponenten des pädagogischen Selbstverständnisses sich zwar einerseits auf systemimmanente theoretische Grundüberzeugungen, wie etwa den Gedanken einer Planbarkeit von Leistungen und Entwicklungen, zurückführen ließen, andererseits auch von Personenkreisen (wie etwa den Orchestermusiker*innen) geteilt wurden, die ihr eigenes Tun häufig dezidiert als nicht politisch begriffen.
Allem Anschein nach gab es in der DDR ein spezifisches pädagogisches Selbstverständnis, das über den Bereich des Politischen weit hinausging und auch von Menschen geteilt wurde, die sich selbst als systemkritisch einstuften. Umgekehrt ließe sich – vielleicht im Sinne des Bourdieu’schen Staats- und Institutionenbegriffes (vgl. Bourdieu 2014:293) – auch sagen, dass gerade die stillschweigende Übernahme pädagogischer Maximen ein Hinweis dafür ist, dass das scheinbar unpolitische Agieren im Bereich musikalischer Nachwuchsförderung im Kern eben doch politisch war. Dieser Zusammenhang wurde von einigen der befragten ehemaligen Schüler*innen selbst thematisiert. Interessanterweise handelte es sich ausschließlich um Schüler*innen, die sich selbst einen Außenseiterstatus an der Spezialschule zuschrieben, der sie aber anscheinend hellhörig für die politischen Implikationen machte, die mit diesen Maximen verbunden waren (vgl. Lessing 2017:220ff.). Diese Unabhängigkeit von im engeren Sinne politischen Maßgaben ist auch der Grund, warum sich entscheidende Punkte im Umgang mit Leistung und Begabung nach der Wende fortschrieben und warum auch Personen, die sich in den Interviews der DDR im Ganzen gegenüber als sehr kritisch zu erkennen gaben, das Ausbildungssystem dennoch rückhaltlos bejahten.
In Dresden ist dieser Zusammenhang möglicherweise besonders ausgeprägt gewesen. Denn hier wurde – anders als etwa in Weimar und Berlin – ein wesentlicher Teil der Ausbildungsarbeit von Personen geleistet, die sich primär nicht als Funktionäre des staatlichen Ausbildungssystems, sondern als Mitglieder alt-ehrwürdiger Orchester, insbesondere der Staatskapelle, verstanden. Dieses Selbstverständnis konnte auf der Bewunderung aufbauen, die weite Teile des Dresdner „Refugiumsbürgertums“ (vgl. Rehberg 2008) „ihren“ beiden Klangkörpern (Staatskapelle und Philharmonie) entgegenbrachten – eine Bewunderung, die – wiederum gänzlich anders als im Leistungssport – gerade nicht einem Stolz auf den Staat entsprang, der diese Orchester ermöglichte, sondern Niederschlag eines Verständnisses war, das die klassische Musikkultur und insbesondere die über 400-jährige Tradition der Staatskapelle geradezu als Gegenentwurf zur Alltagswelt des real existierenden Sozialismus begriff.
Zu Beginn dieses Beitrages habe ich die Frage aufgeworfen, ob und inwieweit sich die impliziten Regeln des konjunktiven Erfahrungsraumes der Dresdner Spezialschule auf die Situation der musikalischen Spitzenförderung unserer Tage bzw. auf andere Institutionen übertragen lassen. Die Kompatibilität zwischen dem pädagogischen Selbstverständnis der staatlichen Institution und dem Orientierungsrahmen der Lehrkräfte weist darauf hin, dass eine Argumentation, die den Erfahrungsraum der Dresdner Spezialschule umstandslos einer untergegangenen Welt zurechnet, die für die Gegenwart keinerlei Bedeutung mehr besitzt, deutlich zu kurz greift, denn diese Lehrkräfte haben zum großen Teil auch nach der Wende ihre Tätigkeit – oftmals sehr erfolgreich – weiter ausgeübt, ohne dass es Hinweise gäbe, die die Vermutung rechtfertigten, ihr ursprünglicher Orientierungsrahmen sei für sie ein schwerer Ballast gewesen. Die erstaunliche biografische Stabilität, die viele der an der Spezialschule herausgebildeten Orientierungsrahmen auszeichnen, weist eindringlich darauf hin, dass diese Orientierungsrahmen in vielen Bereichen des heutigen Berufslebens noch immer „funktionieren“ und insofern eine Gültigkeit besitzen, die über den Horizont der DDR-Geschichte deutlich hinausgeht. Und schließlich zeigt der Vergleich mit anderen Studien zum Innenleben musikalischer Ausbildungsinstitutionen, dass bestimmte Eigenarten des Dresdner Erfahrungsraums, allen voran eine Praxis, die das Vermögen zu musikalisch-künstlerischer Autonomie auf eine Weise einforderte, die von denjenigen, die über diese Autonomie nicht von sich aus verfügen, als äußerst heteronom wahrgenommen wurde (vgl. Kingsbury 1988:103–106), ein generelles Kennzeichen von Institutionen zu sein scheint, deren Selbstverständnis auf einem an eine integriert-intrinsische Motivation gekoppelten Leistungsbegriff gründet.
Wenn es hingegen ein Merkmal gibt, das für den Erfahrungsraum der DDR-Spezialschulen, nicht aber für heutige Institutionen kennzeichnend ist, dann betrifft dies vermutlich die innere Struktur eines Schüler*innentyps, der sich einerseits im instrumentalen Hauptfach einer deutlichen Fremdbestimmung ausgesetzt sieht, die andererseits aber gerade nicht zu einem inneren Bruch mit dem sie auslösenden Erfahrungsraum führt. Ein derartiger Typus, der sich im Sample der Spezialschul-Studie immer wieder auffinden ließ, ist von Faktoren abhängig, die für die im heutigen Deutschland sozialisierten Jugendlichen so nicht mehr gelten. Denn er muss, damit er sich realisieren kann,
- erstens innerlich über keine nennenswerten Alternativen zum Spezialschul-Besuch verfügen,
- er benötigt zweitens die Gewissheit, dass auch eine eingeschränkte Passung zur Spezialschule dennoch einen Eintritt ins professionelle Berufsleben ermöglicht und
- er muss drittens in der Lage sein, innerlich zu akzeptieren, dass das Anspruchsniveau des Hauptfachunterrichts nicht auf ihn zugeschnitten ist.
Für diesen Typus dürfte es heute keine Gründe geben, warum er sich intensiv mit einem Gegenstand beschäftigen soll, der ihn nicht im Sinne einer integriert-intrinsischen Motivation (vgl. Deci/Ryan 1993) erfüllt. Wenn heutige Lehrende am Landesgymnasium für Musik in Dresden, denen die Praktiken der alten Spezialschule noch vertraut sind, diagnostizieren, dass viele Schüler*innen im Vergleich zu früher deutlich weniger üben, dann hat diese vermutlich zutreffende Beobachtung nicht unbedingt etwas damit zu tun, dass sich heutige Schüler*innen schwerer „motivieren“ lassen. Eher weist sie darauf hin, dass die Alternative eines „Dranbleibens“ trotz einer nur eingeschränkten und eher fremdbestimmten Motivation nicht mehr greift. Interessanterweise, gleichsam als empirische Bestätigung dieser Vermutung, hat die den empirischen Teil der Spezialschul-Studien beschließende prozessanalytische Rekonstruktion gezeigt, dass die allermeisten Transformationen bzw. Wandlungen des an der Spezialschule entwickelten Orientierungsrahmens innerhalb dieses nur partiell passenden Schüler*innentypus zu verzeichnen gewesen sind. Ein beredter Hinweis dafür, dass eine nur eingeschränkt entwickelte Motivation während der Ausbildungszeit vielleicht respektable Leistungen hervorbringt, aber zu keiner Dauerhaftigkeit im Sinne einer integriert-intrinsischen Motivation führt. Wenn es aber die Aufgabe von Schule ist – sei sie nun „normal“ allgemeinbildend oder eine Spezialschule –, nicht nur ein passables Abschlussniveau zu garantieren, sondern den Schüler*innen die Möglichkeit zu geben, ihre weitere Biografie autonom und kompetent zu gestalten, dann müsste ihr an dieser Dauerhaftigkeit gelegen sein. Und wenn Musizieren eine Praxisform ist, zu deren zentralen Kennzeichen gehört, dass sie nicht nur in der aktuellen Situation zu Glücksmomenten führt, sondern, wie Ulrich Mahlert postuliert (vgl. Mahlert 2011:255 ff.), in der Lage ist, dauerhaft zu einem geglückten Leben beizutragen, dann muss auch die Schulkultur einer an der professionellen Nachwuchsförderung orientierten Ausbildungsinstitution an der Ermöglichung eines derartigen Lebensglücks interessiert sein.