Impliziter und expliziter Wissensaustausch in Forschung zu (alltags-)kultureller Bildung in ländlichen Räumen

Interessens- und Wissensdifferenzen von Wissenschaft und Praxis reflektieren

Artikel-Metadaten

von Claudia Kühn, Julia Franz, Annette Scheunpflug

Erscheinungsjahr: 2024

Peer Reviewed

Abstract

Mit dem Beitrag wird die Frage nach Formen des Wissenstransfers in qualitativen Forschungsprojekten zu (alltags-)kultureller Bildung in ländlichen Räumen verfolgt. Ausgehend von einem Forschungsprojekt zur Weitergabe alltagskulturellen Wissens wird reflektiert, inwiefern implizite und explizite Formen des Austauschs in qualitativer Forschung bedeutsam sind. Nachdem Grundlegendes zur qualitativ orientierten Erforschung des Untersuchungsfelds angemerkt wird, wird unser Verständnis von Transfer als gegenseitiger Prozess des Wissensaustauschs skizziert, der die Interessens- und Wissensdifferenz von Wissenschaft und Praxis im Forschungsprozess systematisch berücksichtigt. Vor diesem Hintergrund werden Formen des Austauschs beschrieben, die sich im Feldzugang und der Datenerhebung implizit ereignen und als Steuerungsleistungen relevant sind. Im Anschluss werden explizite Formen des Wissensaustauschs am Beispiel von Bürgerkonferenzen reflektiert. Damit rücken didaktische Formate in den Blick, die auf einen partizipativen Austausch über wissenschaftliche Befunde mit der Praxis abzielen. Abschließend werden die Überlegungen zum impliziten und expliziten Wissensaustausch im Forschungsprozess resümiert.

Einleitung: Kulturelle Bildung in ländlichen Räumen erforschen

Ausgehend von gesellschaftlichen Entwicklungsprozessen – wie dem demografischen und sozialen Wandel – gewinnt die Auseinandersetzung mit ländlichen Räumen in Praxis- und Forschungsdiskursen an Bedeutung (z.B. Beetz 2007). In diesem Zusammenhang wächst das Interesse daran, mehr über die kultur- und bildungsspezifischen Eigenlogiken ländlicher Räume zu erfahren, was sich in wissenschaftlichen Auseinandersetzungen (z.B. Kenneth Anders: Es geht um Freiheit. Über die ländliche Kultur als Gegenstand öffentlicher Förderung und eine Kulturelle Bildung als Landschaftliche Bildung) und Förderlinien niederschlägt (z.B. BMBF 2019; BMEL 2021).

In diesem Kontext war das Forschungsprojekt „Tradierung – Vergewisserung – Doing Identity“ (TraVI) situiert, das sich mit der Sicht von Menschen auf Kultur, die in ländlichen Räumen leben, beschäftigte. Ausgangspunkt bildet ein alltagskulturelles Verständnis von kultureller Bildung und die Frage nach der informellen Weitergabe alltagskulturellen Wissens. Uns als Forschende und Wissenschaftler*innen der Erziehungswissenschaft, Kulturgeographie und Ethnologie hat insbesondere interessiert, wie das (alltags-)kulturelle Zusammenleben in ländlich gelegenen Gemeinden wahrgenommen und gestaltet wird. Dazu wollten wir die alltagskulturellen Wissensbestände und Bildungspraxen erfassen, die für die Menschen und ihr Gemeindeleben bedeutsam sind. Damit rückten – fernab eines auf Hochkultur beschränkten Verständnisses – die lokalen Kulturtraditionen in den Blick, die sich im Dorfalltag selbstorganisiert vollziehen und informell zwischen Generationen weitergegeben werden (z.B. in Vereinen, Familie oder Nachbarschaft). Vor diesem Hintergrund sind wir folgenden Fragen näher nachgegangen: Welche alltagskulturellen Wissensbestände und Bildungspraxen sind für das Zusammenleben in ländlichen Räumen relevant? Wie werden sie informell weitergegeben und inwiefern tragen sie zur lokalen Identität bei? Diese Fragen haben wir in zwei Teilprojekten untersucht, bei denen wir zwei Gemeinden in Bayern empirisch in den Blick genommen haben, die als ländliche und sehr periphere Regionen klassifiziert sind (vgl. BBSR 2018).

Im ersten Teilprojekt „Lokale reflexive Identität“ (LoKrI) wurden Leitfadeninterviews mit kulturschaffenden und kulturpolitischen Akteur*innen (z.B. Verwaltung, Engagierte) geführt und inhaltsanalytisch ausgewertet (vgl. Mayring 2015): Hier wurden relevante Örtlichkeiten und Inhalte des kulturbezogenen Gemeindelebens erfasst, um Rückschlüsse zu ziehen, wie Kultur zur Herausbildung einer reflexiven lokalen Identität beitragen kann. Deutlich wurde, dass – trotz struktureller Veränderungen – viele kulturelle Besonderheiten des Gemeindelebens bewahrt werden konnten, wie Gemeinschaft durch Vereinsleben, Infrastrukturen, Dialekt und Verbundenheit zur Region. Es zeigt sich aber auch, dass die befragten Gemeindemitglieder strukturellen Entwicklungen (z.B. Rückgang der Einwohner*innenzahl, Nachwuchsmangel) oft skeptisch gegenüberstanden und ein ausgeprägtes Traditionsbewusstsein dazu führen kann, dass Gestaltungschancen einer ortsbezogenen Entwicklung nicht wahrgenommen werden.

Im zweiten Teilprojekt „Intergenerationelle Tradierungsprozesse von Formen kultureller Bildung“ (ITkuBi) wurde untersucht, wie alltagskulturelles Wissen im Alltag zwischen Generationen weitergegeben wird (z.B. lokalhistorisches Handwerk, Dialekt und Ess- und Feiertraditionen). Dazu wurden Gruppendiskussionen (vgl. Loos/Schäffer 2001) mit Personen unterschiedlichen Alters geführt, die sich aus dem Gemeindeleben kennen (z.B. Vereinsvorstände, Vereinsaktive, Familie, Nachbarschaft, Zugezogene). In der dokumentarischen Interpretation der Gruppendiskussionen (vgl. Bohnsack et al. 2007) konnten drei idealtypische Muster herausgearbeitet werden, die zeigen, dass alltagskulturelles Wissen in der Generationenfolge unidirektional (z.B. Weitergabe von Vereinsengagement in der Familie), im beiläufigen Austausch auf Festen (z.B. Beobachten und Mitmachen) und als gemeinsame Praxis (z.B. gemeinsames Musizieren oder Theaterspielen) weitergegeben wird. Darüber hinaus zeigt sich, dass die Befragten Veränderungen des intergenerationellen Zusammenlebens beobachten und diese von älteren Generationen oft herausfordernd erlebt werden (z.B. Wegzug und wenig Bereitschaft zum Engagement junger Menschen). Implizit wünschen sie sich, dass sich Jüngere an ihren Bedürfnissen orientieren. Zugleich werden die Bedürfnisse der Jüngeren von den Älteren kaum wahrgenommen, was auf intergenerationelle Spannungen hindeutet (zu den Ergebnissen vgl. Kühn/Franz/Scheunpflug 2022).

Um die empirisch herausgearbeiteten Ergebnisse zu reflektieren, haben wir einen expliziten Austausch mit den befragten Gemeinden gesucht: Dazu wurden Bürgerkonferenzen organisiert, bei denen unsere Beobachtungen vorgestellt und in einem partizipationsorientierten didaktischen Setting diskutiert wurden.

Ausgehend von unseren Erfahrungen in der Durchführung der beiden Teilprojekte unserer Forschung und der Bürgerkonferenzen wird im Beitrag die Frage bearbeitet, welche Formen des Austauschs und Transfers zwischen „Wissenschaft und Praxis“ in entsprechenden Forschungsprojekten bedeutsam sind (vgl. Kühn et al. 2023). Dazu setzen wir uns im ersten Schritt mit qualitativ orientierter Feldforschung in informellen Settings kultureller Bildung auseinander. In einem zweiten Schritt beschreiben wir unser theoretisches Verständnis eines Transfers bzw. Austauschs zwischen Wissenschaft und Praxis. Auf diesem Verständnis aufbauend stellen wir im dritten Schritt implizite und beiläufige Formen des Wissensaustauschs in der Feldforschung und im vierten Schritt explizite Formen des Wissensaustauschs am Beispiel der durchgeführten Bürgerkonferenzen vor. Abschließend fassen wir die Kernaussagen unserer Überlegungen zum Wissensaustausch zusammen.

Grundsätzliche Anmerkungen zur qualitativen Forschung in informellen Settings kultureller Bildung

Die Beforschung ländlicher Räume und die qualitative Befragung ihrer Bewohner*innen setzt – wie viele Formen der qualitativen Forschung – an einem schutzbedürftigen Lebensbereich an.

Wir haben in unserem Projekt darauf abgezielt, mehr über die alltagskulturellen Lebenswelten ländlicher Räume zu erfahren. Dazu haben wir Prozesse des Zusammenlebens in zwei ländlichen Gemeinden untersucht, bei denen kulturelles Wissen im Alltag weitergegeben und so zur lokalen Identität beigetragen wird. Unser Interesse galt der Alltagskultur, die durch die Tätigkeiten der Menschen im Dorfalltag hergestellt wird (vgl. Reckwitz 2011) und sich nicht auf hochkulturelle Aktivitäten beschränkt (vgl. Nünning 2001:355). Gemeinsame Aktivitäten in der Familie, in Vereinen, in der Nachbarschaft oder auf Festen scheinen besonders wichtige informelle Kontexte zu sein, in denen Kultur im Dorfalltag ausgehandelt und beiläufig mit-, von- und übereinander gelernt wird (vgl. Franz et al. 2022). Beispielsweise macht das Musizieren in einer Blasmusikapelle oder das Feiern von Dorfjubiläen die kulturellen Besonderheiten des Ortes für die Menschen konkret erfahrbar (z.B. ortstypische Lieder, Trachten, Speisen, Handwerkspraktiken, Legenden). Es geht dabei jeweils um informelle Formen der kulturellen Bildung, bei der regionale und lokale Kulturgüter und Kulturpraxen beiläufig und selbstorganisiert ausgehandelt und weiterentwickelt werden.

Wenn die kultur- und bildungsspezifischen Logiken der ländlich geprägten Lebenswelten beforscht werden, dann gilt diesen informellen Settings und informellen Lernformen besondere Aufmerksamkeit. Bei der Beforschung dringt man sensibel in diesen informellen Bereich ein; beispielsweise, wenn Interviews mit Menschen geführt werden, um an ihrer lebensweltlichen Expertise teilzuhaben. Das kann für Befragte irritierend sein, weil das wissenschaftliche Interesse ihrem informellen Wissen zum alltäglichen Handeln gilt und sie herausgefordert sind, dieses implizite Wissen zu explizieren und ihre Handlungspraxen gegenüber den Forschenden verständlich zu machen. Es kann zu Unsicherheiten führen, wenn nach diesen Selbstverständlichkeiten des Handelns gefragt wird. In unserem Projekt haben wir Beteiligte einer Gruppendiskussion gebeten, uns mehr darüber zu erzählen, wie sie im Dorfalltag und in den Vereinen Wissen weitergeben: Die Befragten hatten Schwierigkeiten, ihr alltägliches Handeln in den Vereinskontexten ad hoc zu beschreiben und haben nur kurz auf ihre Website mit historischen Hintergrundinformationen verwiesen oder die Selbstverständlichkeit ihres Handelns fokussiert: „im Schützenverein schießt man. Sportverein macht man Sport. bei der Feuerwehr. löscht man Feuer“ (GD 1: OT 10, Z. 14-17). Für rekonstruktiv orientierte Forschungen ergibt sich daraus eine doppelte Herausforderung: Die Wissenschaft arbeitet methodisch kontrolliert implizites Wissen heraus und damit Wissensbestände, die den Befragten selbst möglicherweise nicht in Gänze klar sind. Die Rückmeldung wissenschaftlicher Befunde erfordert dann eine besondere Sensibilität (vgl. Miethe 2003). In unserem Projekt hat das zum Beispiel Konflikte oder Widersprüche des eigenen Handelns betroffen, die durch die dokumentarische Interpretation der Interviews rekonstruiert und auf den Bürgerkonferenzen zum Thema wurden (z.B. Sehnsucht Älterer nach dem früheren Kulturleben kumuliert in einem passiven Umgang mit strukturellen Veränderungen und der Erwartung, dass sich jüngere Generationen in die alten Strukturen des Gemeindelebens einfügen).

Vor dem Hintergrund dieser Voraussetzung erscheint die Reflexion des Austauschs von wissenschaftlichem und alltagsweltlichem Wissen per se von besonderer Relevanz in qualitativer Forschung.

Wissensaustausch unter Berücksichtigung der Eigenlogiken von Wissenschaft und Praxis

Wissenstransfer verstehen wir als gegenseitigen Prozess des Wissensaustauschs und fokussieren dabei jene Austauschprozesse, die durch die Wissenschaft initiiert werden und in die Praxis hineinwirken. Nach diesem Verständnis werden die unterschiedlichen Eigenlogiken von Wissenschaft und Praxis anerkannt und im Forschungsprozess systematisch reflektiert. Dieser Überlegung liegt ein Differenzmodell von Wissenschaft und Praxis zugrunde (vgl. Ludwig 2015), nach dem sich das Wissen und die Sprache von Wissenschaft und Praxis unterscheiden. Wissenschaftliches Wissen wird durch eine systematische und methodisch kontrollierte Datenbearbeitung gewonnen. Es zeichnet sich dadurch aus, dass es nachvollziehbar ist und Aussagen über mehrere Fälle zulässt (Generalisierbarkeit). Es bezieht sich auf abstrakte und formale Aussagen (Theorien), die zwangsläufig vage sind (bis sie falsifiziert werden). Alltagswissen wird hingegen aus der Lebenserfahrung des Einzelnen abgeleitet und gründet im subjektiven Erleben (Subjektivität). Es bezieht sich auf den konkreten Alltag und auf handlungspraktisches Wissen, das für das situative Bewältigen alltäglicher Aufgaben und Herausforderungen bedeutsam ist. Es ermöglicht Handlungen und Entscheidungen, die die Frage betreffen können, wie mit demografischen und sozialen Veränderungen des Zusammenlebens umgegangen wird.

Ausgehend von der Annahme, dass Wissenschaft und Praxis unterschiedliche Interessen und Wissensformen in die Forschung einbringen, stützen sich unsere Überlegungen auf die Anerkennung dieser Eigenlogiken im Forschungsprozess. Die Anerkennung der Interessens- und Wissensdifferenz von Wissenschaft und Praxis hat Konsequenzen für die Organisation eines Wissensaustauschs: „Die sogenannten Praktiker, d.h. die in außerwissenschaftlichen Bereichen handelnden Menschen, verstehen Wissenschaftler oft als lebensfremde sogenannte Theoretiker, die in ihrem Elfenbeinturm sitzen und Fragen beantworten, die in der Praxis niemand stellt, d.h. für die gesellschaftliche Praxis irrelevant sind. Wissenschaftliche Theorien halten aus Sicht vieler Praktiker das Handeln nur auf und haben keinen wirklichen Ertrag für die „eigentliche konkrete“ (Bildungs-)Praxis. Ihre Erkenntnisse wären zweitens sprachlich nur schwer vermittelbar und besäßen drittens ein Defizit an Handlungswissen und Lösungsstrategien“ (Ludwig 2015:16; unter Verweis auf Bosch et al. 2001:203). Hier wird das Transferproblem von wissenschaftlichem Wissen in die Praxis thematisiert. Mit dem Differenzmodell wird das Verhältnis von Wissenschaft und Praxis dabei als ein Theorie-Theorie-Verhältnis verstanden, „das von unterschiedlichen Rationalitäten in wissenschaftlichen und praktischen Theorien ausgeht“ (Ludwig 2015:19). Der Wissensaustausch von Wissenschaft und Praxis setzt vor diesem Hintergrund einen erhöhten Kommunikationsaufwand voraus, um die Interessens- und Wissensdifferenz zu überbrücken: Die Eigenlogiken des Anderen müssen anerkannt, antizipiert und reflektiert werden. Das bedeutet auch, dass wissenschaftliches Wissen – im Gegensatz zu dem der Praxis – nicht als ein höherwertiges Wissen, sondern ein anderes Wissen begriffen wird, das durch wechselseitige Verständigungsprozesse ausgehandelt werden kann (vgl. Ludwig 2015:22; vgl. Nuissl 2010:286). In diesem Zusammenhang ist ein reflexiver Umgang mit einer potentiell erlebten Hierarchisierung von Wissensbeständen seitens der Praxis im Forschungsprozess zu berücksichtigen. Diese Herausforderung stellt sich nicht nur bei einem gezielten Austausch mit der Praxis über wissenschaftliche Befunde, sondern bereits in verschiedenen Phasen der Feldforschung. 

Vor dem Hintergrund dieser differenztheoretischen Überlegungen werden im Folgenden zwei Formen des Austauschs von Wissenschaft und Praxis in qualitativer Forschung zu kultureller Bildung in ländlichen Räumen vorgestellt und reflektiert.

Impliziter Wissensaustausch in der Feldforschung

In verschiedenen Phasen der Feldforschung treten Wissenschaft und Praxis in Dialog und tauschen sich über Interessen und Wissen aus. Daher lohnt es sich, Formen des Wissensaustauschs zu reflektieren, die sich im Feldzugang und der Erhebung der Daten implizit ereignen.

Annäherung im Feldzugang: Austausch über Interessen im Kommunikationsaufbau

Beim Feldzugang nähert sich Wissenschaft dem Forschungsfeld an, um Personen ausfindig zu machen, die für die Beantwortung der Forschungsfrage relevant sein könnten. Mit der ersten Kontaktaufnahme werden dabei Dynamiken im Forschungsfeld angeregt (vgl. Wolff 2013:334ff.), die darauf hindeuten, dass sich Wissenschaft und Praxis über ihre Interessen verständigen: In dieser Phase finden Prozesse einer interessensgeleiteten Annäherung statt.

Der Zugang zum Feld wird durch das wissenschaftliche Interesse am (Alltags-)Wissen der Praxis bestimmt (hier: Interviews zur Weitergabe von Wissen im Alltag). In unserem Projekt sind wir an Menschen des Gemeindelebens mit der Bitte herangetreten, an unserer Forschung mitzuwirken. Beim Aufbau der Kommunikation (z.B. Anfragen und Absprachen via Mail oder Telefonat) haben wir uns über unser Anliegen und damit verbundene Erwartungen ausgetauscht (z.B. Mitwirkung am Interview). Wir wurden in Vorgesprächen dabei mehrfach gefragt, wie wir auf die konkrete Gemeinde gekommen sind und was genau wir wissen wollen: „ja wie gesagt? Wie sind Sie überhaupt auf uns gekommen generell“ (GD 3, 04:37min). Die Menschen haben damit zunächst ihre Neugier an unserem wissenschaftlichen Interesse bekundet. Diese Neugier war aus Forschungsperspektive durchaus herausfordernd, weil wir die Menschen einerseits über unser Anliegen authentisch informieren wollten, andererseits nicht zu viele Informationen preisgeben durften, da dies die Datenerhebung beeinflusst hätte (z.B. zur Thematisierung Land vgl. Kühn/Franz/Scheunpflug 2023). Interessant war in dieser Phase, dass den Menschen mit der Auswahl ihrer Gemeinde mehr oder weniger bewusst war, dass wir in unserer Forschung den ländlichen Raum fokussieren („ach weil wir am Arsch der Welt wohnen“). Das führte dazu, dass in Vorgesprächen sozialräumliche Merkmale des Ländlichen selbst thematisiert wurden. Außerdem haben die Menschen für sich ausgelotet, ob unsere Forschung an ihre Interessen und die der Gemeinde anschlussfähig ist. Sie waren zwar an unserer Forschung und den wissenschaftlichen Erkenntnissen interessiert: „Und wenn du die Arbeit fertig hast, kann man da dann was sehen?“ (I_102, Pos. 241f.). Durch unsere Interviewanfrage wurden aber auch Vorerfahrungen des Austauschs mit Wissenschaft aktiviert (z.B. Zukunftswerkstatt Regionalentwicklung), die mit skeptischen Haltungen verbunden waren. Die Befragten zeigten sich an einem Mehrwert des Austauschs mit Wissenschaft interessiert: „und wer hat dann was davon? Weil wir hatten ja schon interessante Sachen die angestoßen worden aber dann letzlich wieder im Sande verlaufen sind“ (GD 2, 3:59min). Vor diesem Hintergrund können bereits im Aufbau der Kommunikation implizite Formen des Austauschs beobachtet werden, die sich auf die gegenseitige Verständigung über Interessen, Vorbehalte und Erwartungen an Forschung beziehen. Daneben werden auch interne Verständigungsprozesse im Feldzugang angeregt.

Interne Verständigungen im Feldzugang: Selbstläufige Organisation des Feldes

Durch unsere Kontaktaufnahme wurde in den Gemeinden ein interner Austausch über unser Projekt angeregt, den wir in Vorgesprächen der Interviews beobachten konnten. Es wurde sich über die wissenschaftliche Kontaktaufnahme und das wissenschaftliche Interesse miteinander verständigt. 

So deutet die selbstläufige Zusammenstellung der Gruppendiskussion beispielsweise auf Verständigungsprozesse der Praxis hin: Wir haben Personen des Gemeinde- und Vereinslebens gebeten, an einer Gruppendiskussion teilzunehmen und weitere Personen einzuladen. In der selbstläufigen, beliebigen Zusammenstellung durch die angefragten Personen deutet sich an, wie sich die Menschen als Teilgemeinschaft des Gemeindelebens in der Interviewsituation präsentieren möchten und wer mit wem „gut“ kann (z.B. Hinweise auf die personenbezogene Vernetzung innerhalb der Dorfgemeinschaft). Dass sich Menschen im Vorfeld darüber verständigen, wie sie sich in der Interviewsituation präsentieren möchten, findet exemplarisch darin Ausdruck, dass die geladenen Personen ihre  Funktionen bzw. Rollen vor dem Interviewbeginn thematisierten (z.B. Sprecher eines Vereins, Lokalpolitik, Zugezogene) oder dass primär Menschen an den Gruppendiskussionen beteiligt waren, die sich dauerhaft im Vereinsleben engagieren; während junge und zugezogene Menschen mit anderen Interessen kaum vertreten waren.

Ferner lassen sich in qualitativer Forschung Verständigungsprozesse der Wissenschaft im Feldzugang beobachten. Diese Phase wurde in unserem Projekt durch die interdisziplinäre Forschungsgruppe kontinuierlich reflektiert. Besondere Bedeutung kam der Reflexion unserer Standortgebundenheit zu: So haben wir als Forschende auch unsere biografisch geprägten Positionen, Vorverständnisse und Perspektiven des „typisch“ Ländlichen in den Forschungsprozess eingebracht. So wurde beispielsweise in unseren Ortsbegehungen, die wir in Protokollen im Modus dichter Beschreibungen (vgl. Geertz 1983) festgehalten haben, deutlich, dass bei unseren ersten Besuchen eigene (Kindheits-)Erinnerungen aktiviert wurden (z.B. Spielen in Scheunen) und sich unserer (Erwartungs-)Bilder des Ländlichen in den Protokollen dokumentieren (z.B. Beschreibung von Irritationen, dass die Untersuchungsgemeinden infrastrukturell besser als gedacht erschlossen waren oder sich kein einheitliches architektonisches Straßenbild zeigte). Die methodisch kontrollierte Reflexion der Protokolle in der Forschungsgruppe hat uns für unsere Standortgebundenheit sensibilisiert und mittels Perspektivwechsel die Auseinandersetzung mit disziplinären, theoretischen und methodischen Standorten der Forscher*innen unseres interdisziplinären Teams ermöglicht. Zusammengefasst lassen sich im Feldzugang Prozesse der Annäherung und internen Verständigung beobachten, die als Steuerungsleistungen bedeutsam sind. Sie machen beispielsweise darauf aufmerksam, dass sich die Praxis entlang eigener Interessen organisiert und präsentiert oder dass sich Wissenschaft dem Forschungsfeld methodisch kontrolliert nähert. Die Reflexion dieser Annäherungs- und Verständigungsprozesse ermöglicht dem wissenschaftlichen Zugang bereits spannende Einblicke in die Handlungsstrukturen der Praxis, die in der Datenerhebung vertieft werden können.  

Angeregte Reflexionsprozesse im Interview: Austausch über das Alltagswissen der Praxis

Einen weiteren Aspekt des impliziten Austauschs konnten wir in der Datenerhebung beobachten: In der Interviewdurchführung werden Reflexionsprozesse der Praxis angeregt.

Wir haben Bewohner*innen mit offenen und alltagsnahen Erzählimpulsen angeregt, über Themen und Dinge zu sprechen, die für sie und ihr Leben in der Gemeinde wichtig sind. Dies veranschaulicht exemplarisch der Einstiegsimpuls unserer Gruppendiskussionen: „Es wäre schön, wenn Sie sich zunächst einmal darüber austauschen, was das Leben hier für Sie ausmacht. Was macht man so zusammen und was bedeutet das für Sie?“ In qualitativer Forschung werden solch offene Befragungsformate eingesetzt, um die Reflexion von Alltagserfahrungen methodisch kontrolliert zu unterstützen. Diese angeregten Reflexionen sind auch der erhebungsmethodische Ausgangspunkt unserer Studie: Wir haben die Befragten veranlasst, sich an vergangene Situationen zurück zu erinnern und über ihre Erfahrungen zur Weitergabe alltagskulturellen Wissens im Gemeindeleben zu reflektieren. Die Möglichkeit, sich in den Interviews über die eigenen Erfahrungen auszutauschen und reflektieren zu können, wird von Befragten (meist) positiv erlebt, auch wenn schmerzhafte Erinnerungen, wie persönliche Schicksalsschläge oder zwischenmenschliche Konflikte aktiviert werden (vgl. z.B. Hermanns 2013:365ff.): Unsere Befragten bedankten sich am Interviewende für das Interesse an ihren Erfahrungen und dass ihnen zugehört wurde. Den durch die Erzählimpulse initiierten Austausch über die Alltagserfahrungen der Menschen in der Interviewsituation fassen wir als von außen angeregte Reflexionsprozesse. Sie markieren das zentrale Interesse der Wissenschaft.

In den Interviews lassen sich selbstläufige Reflexionsprozesse beobachten, die sich beispielsweise in Form von Vorbereitungen der Befragten auf die Interviewsituation zeigten. So wurden bei uns Vorüberlegungen thematisiert, was die Befragten zum Zusammenleben im Interview erzählen möchten: „hab ich eben überlegt was is jetzt eigentlich dran schuld warum das Vereinsleben so einschläft warum die Menschen sich so gewandelt haben (GD 1, EE/830-834). Selbstläufige Reflexionen werden auch darin deutlich, dass sich die Befragten über das Erkenntnisinteresse der Forschung im Internet informiert haben. Solche Vorüberlegungen zeigen, dass eine Interviewanfrage dazu führt, dass sich Menschen Gedanken über das wissenschaftliche Anliegen machen und diesem (mehr oder weniger) gerecht werden wollen. Zudem deuten sich in Interviews spontane Reflexionsprozesse an: Sie zeigen sich beispielsweise als spontane Idee, Feste und Aktivitäten, die eingeschlafen sind, gemeinsam wiederbeleben zu wollen: müsste man sich eigentlich eine Scheibe abschneiden warum mach mer denn nich alle zusammen mal was“ (GD 1, OT,16/176). Oder sie werden im Bekunden sichtbar, mehr über das Wissen anderer Beteiligter der Gruppendiskussion erfahren zu wollen („was ich dich fragen wollte woher hast du des alles gewusst?“, GD 2, OT 16, Z. 22f.). Im Interview sind also Reflexionsprozesse der Praxis präsent, die sich auf den Austausch über das Alltagswissen beziehen und von der Wissenschaft mehr oder weniger gezielt angeregt werden. Sie deuten auch darauf hin, dass sich die Menschen auf das wissenschaftliche Interesse einlassen.

Vergewisserungen im Interview: Kontrolliertes Einlassen auf Eigenlogiken

Wir konnten eine vierte Form des impliziten Austauschs zwischen Wissenschaft und Praxis in der Datenerhebung beobachten. Bei dieser Form stehen kommunikative Vergewisserungen im Mittelpunkt, die sich auf das Einlassen auf die Eigenlogiken beziehen.

Diese implizite Form zeigt sich erstens, wenn zu Beginn der Interviews Vergewisserungen über die wissenschaftlichen Spielregeln des Austauschs in der Interviewsituation kommuniziert werden: Die Befragten werden vor Interviewbeginn über Rollenverhältnisse und erwartete Aktivitäten aufgeklärt und erhalten damit erstens Einblick in die konkrete wissenschaftliche Verfahrensweise (z.B. Diktiergerät, Anonymität, Ablauf, Erzählaufforderung, Zuhören). Die Befragten lassen sich auf diese Form der Verständigung ein und verwickeln sich in ein Gespräch, bei dem Erinnerungen und Erfahrungen aktiviert und reflektiert werden. Zweitens kommt in qualitativer Forschung dem Einlassen auf die Erzählungen der Praxis eine besondere Bedeutung zu. Wissenschaft orientiert sich an einem methodisch-kontrollierten Fremdverstehen. Damit verbunden ist eine spezifische Form des kommunikativen Vergewisserns: Die Interviewenden halten sich in der Interaktion eher zurück, signalisieren aber durch gezielte Frageimpulse und aktives Zuhören, dass sie an den Erzählungen der Praxis interessiert sind und deren Sicht verstehen (wollen). Grundlegend dafür ist eine empathische Annäherung in „naiver Fremdheit“: Die interviewende Person versucht sich in die erzählten Darstellungen empathisch hineinzuversetzen, um die Sicht auf die Welt nachzuvollziehen und muss sich dabei der Fremdheit der Darstellung bewusst sein, da sie die Bedeutung der Begriffe nicht kennt (vgl. Hermanns 2013:364). Solche Vergewisserungen zeigen sich, wenn die Befragten gebeten werden, angesprochene Themen detaillierter auszuführen oder zu plausibilisieren, damit das Erzählte besser nachvollzogen werden kann. Drittens können Vergewisserungsprozesse beobachtet werden, wenn sich Befragte auf die unterschiedlichen Eigenlogiken beziehen. Das zeigt sich exemplarisch in Nachfragen, ob die Befragten mit den Erzählungen auf dem richtigen Weg seien, ob Frageimpulse richtig verstanden worden oder wenn die Interessens- und Wissensdifferenz inszeniert wird: So wurden Theoretiker*innen humorvoll als „Sesselfurzer“ ohne Bezug zum Leben auf dem Land stilisiert („die Herrschaften. ham in *Stadt* blöd studiert und am Reißbrett die Fahrtzeiten festgelegt“, GD 1: Z. 167-174) oder darauf verwiesen, dass den Interviewenden viel Spaß beim Transkribieren des Dialekts gewünscht wird. Vergewisserungen werden aber auch sichtbar, wenn Wissenschaft als gemeinsame Schnittstelle angesprochen (z.B. selbst Doktorand, Wissenschaftler in der Familie) oder nachgefragt wurde, ob die Interviewerin denn keine Erfahrungen mit dem Leben auf dem Land hat. Diese Formen des kommunikativen Vergewisserns deuten darauf hin, dass sich Wissenschaft und Praxis auf das Gegenüber im Interview (kontrolliert) einlassen.

Zusammengefasst können von der Kontaktaufnahme bis zur Datenerhebung implizite Formen des Wissensaustauschs im Forschungsprozess beobachtet werden. Diese beziehen sich einerseits auf Prozesse der Annäherung und internen Verständigung im Feldzugang: Sie sind Steuerungsleistungen, um sich über die gegenseitigen Interessen zu vergewissern. Reflexionsinstrumente der qualitativ-rekonstruktiven Forschung können genutzt werden, um sich für diese impliziten Formen des Austauschs im Feldzugang zu sensibilisieren (z.B. Memos, Ortsbegehungen, Interpretationsgruppen) und erste Einblicke in Kommunikations- und Handlungsstrukturen der Praxis zu erhalten. Andererseits werden im Interview Reflexions- und Vergewisserungsprozesse angeregt: Diese Formen des impliziten Wissensaustauschs sind Kommunikationsleistungen, die darauf hindeuten, dass sich Wissenschaft und Praxis auf die Eigenlogik des jeweils anderen einlassen. Offene Erhebungsverfahren der qualitativen Forschung wohnt dabei das Potenzial inne, sich dem Alltagswissen der Praxis methodisch kontrolliert zu nähern.

Expliziter Wissensaustausch am Beispiel Bürgerkonferenzen

Neben diesen impliziten Formen des Austauschs kann Forschung auch einen expliziten Wissensaustausch initiieren, indem wissenschaftliches Wissen didaktisch aufbereitet und sich mit der Praxis darüber ausgetauscht wird.

In unserem Projekt spielte dieser explizite Austausch von Wissenschaft und Praxis eine Rolle. Diese explizite Form des Wissensaustauschs wird auch im Diskurs zur kulturellen Bildung thematisiert, wenn zum Beispiel Möglichkeiten eines Wissenstransfers reflektiert werden (z.B. Harnisch et al. 2023; Wissensplattform Kulturelle Bildung Online).

Beim expliziten Austausch geht es aus unserer Sicht um eine didaktische Aufbereitung der im Feld gewonnenen wissenschaftlichen Erkenntnisse und darum, die Ergebnisse systematisch der Praxis vorzustellen und ausgehend davon Reflexions- und Austauschprozesse zu gestalten. Solche expliziten Formate des Wissensaustauschs zielen auf einen gemeinsamen Dialog von Wissenschaft und Praxis ab, der die Eigenlogiken systematisch berücksichtigt.

Um einen solchen expliziten Wissensaustausch in unserem Projekt zu ermöglichen, haben wir uns für das Format einer Bürgerkonferenz entschieden. Die Bewohner*innen unserer Untersuchungsgemeinden wurden dazu eingeladen, sich in aufeinander aufbauenden Phasen mit unseren Befunden näher auseinanderzusetzen und ortsbezogene Entwicklungsperspektiven zu entwerfen. Unsere Aufgabe als Forschende bestand dabei zunächst darin, die Erkenntnisse aus dem Forschungsprozess den Menschen vorzustellen, um einen Ausgangspunkt für die gemeinsame Diskussion zu initiieren: Wir als Forschende hatten in dieser Phase die Rolle der Input-Gebenden inne und haben darauf abgezielt, unsere wissenschaftliche Befunde der Praxis gegenüber offenzulegen und ihr Interesse an einem gemeinsamen Dialog über diese Befunde zu wecken. Dazu wurden im ersten Schritt die wissenschaftlichen Befunde in zwei Kurzvorträgen thesenhaft und alltagsnah den Beteiligten zurückgespiegelt. Die Teilnehmenden konnten sich daran anschließend in drei Stellübungen zu unseren wissenschaftlichen Beobachtungen positionieren, um einen ersten Austausch über Bedeutung und Herausforderungen der Weitergabe von (Alltags-)Kultur im Gemeindeleben zu ermöglichen. Im zweiten Schritt wurde mit der didaktischen Initiierung einer Zukunftswerkstatt ein mehrphasiger Austausch über Visionen des Zusammenlebens angeregt. Diese Phase bezog sich auf einen durch uns didaktisch initiierten Austausch in selbstgebildeten Gruppen der Teilnehmenden. Ausgangspunkt war die gruppenbezogene Bearbeitung von drei Themen, die sich in der Auswertung der Interviews als relevante Aspekte des Zusammenlebens herauskristallisiert hatten und zu denen sich die Bürger*innen thematisch selbst zuordnen konnten: Eine Gruppe hat sich mit dem Generationen-Dialog (Austausch von Jung und Alt im Gemeindeleben), eine andere Gruppe mit dem Bewahrenswerten (Austausch über den Erhalt lokaler Alltagskultur) und eine weitere mit neuen Formen des Engagierens (Austausch über neue Mitmach-Strukturen) auseinandergesetzt. In den Gruppen wurde zunächst der aktuelle Stand des Themas diskutiert (Ist-Stand), ehe sich dann über ihre diesbezüglichen Wünsche und Visionen ausgetauscht wurde (Soll). Darauf aufbauend wurde sich mit Möglichkeiten der Realisierung ihrer Wünsche (Realisierung) auseinandergesetzt und diskutiert, was an externer Unterstützung zur Realisierung benötigt wird (Bedarf). Um den Prozess des Austauschs nicht zu beeinflussen, haben wir uns als Forschende in dieser Gruppenarbeitsphase zurückgehalten und – insofern keine (Rück-)Fragen auftauchten oder Hilfestellungen eingefordert wurden – die Interaktion den Teilnehmenden überlassen. Im anschließenden Schritt wurden die visuell aufbereiteten Gruppenergebnisse im Plenum vorgestellt und gemeinsam diskutiert. Dabei stand auch die Planung konkreter Handlungsschritte und die Zuordnung von Verantwortlichkeiten im Fokus. Hier kam uns als Forschenden eine moderierende Rolle im Austausch zu, insbesondere dann, wenn unterschiedliche Meinungsbilder seitens der Teilnehmenden kommuniziert und gemeinsam diskutiert wurden. Im vierten Schritt wurden die Ergebnisse der Bürgerkonferenz durch Wissenschaft und Praxis zusammengefasst. Der gesamte Verlauf der Bürgerkonferenzen wurde durch die Forschenden fotografisch und durch Kurzprotokolle dokumentiert. In allen Phasen wurden Ergebnisse der Diskussionen visuell festgehalten. Auf dieser Grundlage wurden Broschüren mit den zentralen Ergebnissen aufbereitet und den Gemeindemitgliedern schließlich übergeben.

Bürgerkonferenz als ein partizipatives Format des expliziten Wissensaustauschs

Der explizite Austausch über wissenschaftliche Befunde kann didaktisch unterschiedlich aufbereitet werden und zum Beispiel an Methoden der Partizipativen Forschung (z.B. Unger 2013) oder Verfahren der Bürgerbeteiligung (z.B. Nanz/Fritsche 2012) ansetzen.

Mit der Bürgerkonferenz haben wir uns für ein partizipatives Format entschieden, das darauf ausgerichtet ist, „Wissenschaft und Praxis miteinander ins Gespräch zu bringen“ (ebd.:59) und einen kollektiven Meinungsbildungsprozess zu strukturieren. Im Fokus stand die Bearbeitung der Herausforderungen des Zusammenlebens. In didaktischer Hinsicht haben wir Elemente der Zukunftswerkstatt (z.B. Kuhnt/Müllert 1996) eingebunden, damit sich die Beteiligten über ihre Erfahrungen partizipativ verständigen und Entwicklungsperspektiven in einem kreativen Prozess entwerfen können. Indem sie die Möglichkeit erhalten haben, sich über Gemeinsamkeiten und Wünsche des Zusammenlebens auszutauschen und Erkenntnisse in regionalpolitische Entwicklungsprozesse einzubetten, hat das Format an der Stärkung lokaler Potenziale angesetzt. Uns kam dabei vor allem eine moderierende Rolle des Erfahrungs- und Visionsaustauschs zu. Spannend war in diesem Zusammenhang einerseits die Beobachtung, dass es den Gruppen unterschiedlich schwerfiel, gemeinsame Diskussionspunkte auf den vorbereiteten Postern visuell festzuhalten oder dass in einem Fall eine Präsentation der Gruppenergebnisse vor dem Plenum abgelehnt wurde. Hier mussten wir uns als Wissenschaftler*innen flexibel auf die Situation einlassen und auch Aufgaben übernehmen, die in der didaktischen Planung nicht vorgesehen waren (z.B. Frageimpulse zur Anregung von internen Diskussionen). Andererseits wurde eine Dominanz von „Meinungsführer*innen“ sichtbar (insb. Funktionäre des Gemeindelebens), wodurch andere Teilnehmende nicht gleichermaßen zu Wort kamen: Hier waren wir herausgefordert, die verschiedenen Ansichten der Teilnehmenden sensibel einzuholen.

Überbrücken von Wissens- und Sprachdifferenzen: Anschlussfähigkeit herstellen

Da wissenschaftliches Wissen und wissenschaftliche Sprache abstrakt sind und sich von der Alltagssprache und den Interessen der Praxis unterscheiden, setzt ein expliziter Wissensaustausch didaktische Formate voraus, die der Differenz von Wissenschaft und Praxis Rechnung tragen. Grundlegend sind die empirischen Befunde als Anregungen und Angebote eines gleichberechtigten Austauschs zu verstehen. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse sind für die Teilnehmenden anschlussfähig zu machen, insbesondere in Forschungen, die am impliziten Alltagswissen und informellen Formen kultureller Bildung interessiert sind. Es ist so aufzubereiten, dass es von der Praxis „in ihre bestehenden alltäglichen Wissenshorizonte eingebaut werden kann, dass sich in einer eigensinnigen und verantwortlichen Weise neue Handlungsbegründungen ergeben und in der Folge Handlungsfähigkeit hergestellt werden kann“ (Ludwig 2015:25). Wir haben den Beteiligten der Bürgerkonferenzen Möglichkeiten gegeben, die Kommunikation aktiv mitzugestalten und über Bezugspunkte der Reflexionen mitzuentscheiden: Einerseits wurde ihnen didaktisch möglichst viel Raum gegeben, um sich über Erfahrungen und Wünsche miteinander auszutauschen. Andererseits bedeutet dies, dass ihnen die Bewertung der wissenschaftlichen Befunde überlassen wurde, insbesondere, weil auch Widersprüche des Alltagshandeln thematisiert wurden. So kam es beispielsweise zu unterschiedlichen Meinungsbildern der Beteiligten, die auf Konfliktpotenziale innerhalb der Gemeinde hingedeutet haben und darauf, dass die Interessen junger und zugezogener Menschen kaum wahrgenommen werden.

Nachhaltiger Mehrwert eines expliziten Wissensaustauschs

Die Organisation eines expliziten Wissensaustauschs kann eine Möglichkeit sein, den Vertrauensvorschuss der Befragten, sich umfassend Zeit zu nehmen und Fremde am eigenen Leben teilhaben zu lassen, zu würdigen. Die Kommunikation von Wissenschaft und Praxis bleibt dann nicht bei der bloßen Befragung stehen, sondern die Befragten können nachvollziehen, was aus ihren Erfahrungsberichten wissenschaftlich herausgearbeitet wurde und dass dieses Wissen für ihr Zusammenleben relevant ist. Ein Austausch über die wissenschaftlichen Befunde kann ihnen daher auch einen nachhaltigen Wert ihrer Austauschbereitschaft erfahrbar machen.  

Wir haben mit den Bürgerkonferenzen darauf abgezielt, dass sich die an der Forschung Beteiligten in ihren Bedürfnissen und Erfahrungen ernstgenommen fühlen. Spannend war, dass die Diskrepanz von wissenschaftlichem Wissen und Alltagswissen zu Beginn der Bürgerkonferenzen auch explizit in Frage gestellt wurde: So wurden wir in einer Gemeinde mit dem Mehrwert des expliziten Austauschformats für die Teilnehmenden vor Ort konfrontiert. In der anderen Gemeinde wurden wir vorab darauf hingewiesen, dass die Gemeindemitglieder ähnliche Formate bereits kennen und nur wenige an der Bürgerkonferenz teilnehmen werden: Es wurde das grundsätzliche Interesse der Praxis an expliziten Austauschformaten in Frage gestellt. Diese Erfahrungen haben uns verdeutlicht, dass es besonders wichtig ist, den Mehrwert expliziter Austauschformate für die Praxis transparent zu kommunizieren, auch, um die Motivation zu erhöhen, an solchen Austauschformaten teilzuhaben. In unserem Fall haben wir darauf verwiesen, dass wir die Gemeinde bei der Stärkung ihrer kulturellen Weitergabepraxen unterstützen wollen und mit den Bürgerkonferenzen Anlässe initiieren, damit sich die Teilnehmenden über Gegenwart und Zukunft ihres Zusammenlebens austauschen und ortsbezogene Entwicklungsperspektiven entwerfen können, die wiederum in regionalpolitische Entwicklungsprozesse eingebettet werden können. Das hat insbesondere die Frage betroffen, welche lokalen Kulturschätze als besonders identitätsstiftend von den Menschen wahrgenommen werden und bewahrt werden sollen oder was dazu beitragen könnte, den Austausch zwischen jüngeren und älteren Generationen besser zu gestalten. Deutlich wurde bei der Durchführung der Bürgerkonferenzen auch, dass sich die didaktische Inszenierung expliziter Austauschformate an den Bedürfnissen der Praxis flexibel ausrichten sollte. Beispielsweise haben wir eine geplante didaktische Methode nicht zu Ende geführt, da Konfliktpotenziale unter den Beteiligten ausgelöst wurden. Oder wir haben auf Wunsch der Teilnehmenden in einer Untersuchungsregion die drei Themen der Zukunftswerkstatt nicht gruppenspezifisch, sondern parallel und gemeinsam bearbeitet. Die Erfahrungen haben verdeutlicht, dass sich Wissenschaft bei der Planung und bei der Durchführung expliziter Austauschformate sensibel und flexibel auf die Praxis einlassen und den Mehrwert des Austauschs für die Menschen konkret erfahrbar machen sollte.

Zusammengefasst setzen Formate eines expliziten Wissensaustauschs voraus, dass dessen Mehrwert transparent kommuniziert und für die Beteiligten konkret erfahrbar wird. Sie sollten dazu Möglichkeit erhalten, den gemeinsamen Austausch entlang eigener Interessen und Bedürfnisse zu strukturieren. Die Mehrperspektivität der Teilnehmenden in Formaten wie der Bürgerkonferenz kann für die Analyse nachhaltiger Lösungen zu Handlungsproblemen und Herausforderungen gezielt genutzt werden (vgl. Vesper/Scholz 2016). Bestenfalls werden Erkenntnisse in lokal(politisch)e Entscheidungsprozesse implementiert, um „Wirksamkeiten“ des Austauschs langfristig erfahrbar zu machen. Kooperationen von Wissenschaft, regionaler Entwicklungspolitik und aufsuchender Bildungsarbeit könnten zum Beispiel dazu beitragen, dass die Realisierung angestoßener Perspektiven in den Gemeinden längerfristig unterstützt und begleitet wird.

Die vorangegangenen Ausführungen haben deutlich gemacht, dass wir in unserer Studie verschiedene Formen des Austauschs von Wissenschaft und Praxis beobachten konnten, die für Forschungen zu kultureller Bildung in ländlichen Räumen bedeutsam sind.

Fazit: Implizite und explizite Formen des Wissensaustauschs reflektieren

In diesem Beitrag wurde reflektiert, welche Formen des Wissensaustauschs in Forschung zu kultureller Bildung in ländlichen Räumen bedeutsam sind. Dazu haben wir exemplarisch auf unsere Forschungserfahrungen im Rahmen einer Studie zur Weitergabe alltagskulturellen Wissens Bezug genommen. Im Folgenden werden die Kernaussagen unserer Überlegungen zusammengefasst:

  1. Forschung zur kulturellen Bildung in ländlichen Räumen – und insbesondere qualitative Forschung zu informellen (Lern-)Kontexten – setzt am Alltag der Menschen und damit an einem sensiblen Forschungsbereich an. Der Reflexion des Austauschs von Wissenschaft und Praxis – und deren unterschiedlichen Interessen und Wissensformen – kommt deshalb besondere Bedeutung zu.
  2. Im Forschungsprozess können implizite und explizite Formen des Austauschs von Wissenschaft und Praxis beobachtet werden: Die sensible Auseinandersetzung mit den verschiedenen Formen scheint in qualitativer Forschung besonders relevant. Im Forschungsprozess sind neben den expliziten insbesondere Konsequenzen des impliziten Wissensaustauschs zu kalkulieren und zu reflektieren.
  3. In der Feldforschung finden implizite Formen des Wissensaustauschs statt und zeigen sich beispielsweise als Annäherungs- und Verständigungsprozesse im Feldzugang oder als Reflexions- und Vergewisserungsprozesse in der Interviewdurchführung. Die Reflexion dieser impliziten Formen des Wissensaustauschs setzt eine sensible und kommunikative Gestaltung der Feldforschung voraus. Reflexionsinstrumente der qualitativen Forschung können für den impliziten Austausch sensibilisieren.
  4. Forschung kann Formen eines expliziten Wissensaustauschs initiieren. Dabei handelt es sich um didaktische Formate, die auf einen gleichberechtigten Austausch über wissenschaftliche Befunde abzielen. Bei der didaktischen Inszenierung sind die Wissens- und Sprachdifferenzen zu überwinden. Partizipative Verfahren ermöglichen es der Praxis, den Wissensaustausch aktiv mitzugestalten und sich an ihren Bedürfnissen auszurichten.
  5. Didaktische Theorien und Zugänge können das Gelingen eines Austauschs nicht garantieren. Bei der Gestaltung impliziter und expliziter Austauschprozesse können aber die Eigenlogiken von Wissenschaft und Praxis systematisch berücksichtigt und reflektiert werden.
  6. Das Verhältnis impliziter und expliziter Formen des Wissensaustauschs kann im Forschungsprozess reflektiert werden. In unserer Forschung wurden Erkenntnisse des impliziten Wissensaustauschs gezielt in einen expliziten Wissenstransfer didaktisch überführt. Nach den Bürgerkonferenzen waren die Teilnehmenden verantwortlich, inwiefern angeregte Reflexionsprozesse weiterbearbeitet und in Handlungen überführt werden.
  7. Siebtens ist damit die Frage verbunden, wie Abwehrhaltungen oder Demotivationen am Mitwirken an der Forschung kommunikativ aufgefangen werden können. Wenn Wissensaustausch beim Nachdenken über Zukunftsperspektiven stehen bleibt, kann das dazu führen, dass einem künftigen Austausch skeptisch gegenübergestanden wird. Für die Praxis in der Kulturellen Bildung ist ein nachhaltiger Mehrwert des Wissensaustauschs wichtig.

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Claudia Kühn, Julia Franz, Annette Scheunpflug (2024): Impliziter und expliziter Wissensaustausch in Forschung zu (alltags-)kultureller Bildung in ländlichen Räumen. In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE: https://www.kubi-online.de/artikel/impliziter-expliziter-wissensaustausch-forschung-alltags-kultureller-bildung-laendlichen (letzter Zugriff am 20.07.2024).

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