Hören und Sprechen lernen
Hören und Sprechen, Zuhören und Sprechen lernen gehören unauflöslich zusammen. So unauflöslich und so selbstverständlich, dass wir im Allgemeinen nicht darüber nachdenken, dass man nicht nur das Sprechen, sondern auch das Zuhören lernen muss.
Wenn ein Kind nicht hören oder nur schwer hören kann, tut es sich unendlich schwer, sprechen zu lernen. Früher bedeutete Taubheit häufig auch, stumm bleiben zu müssen. Noch kennen wir den Begriff taubstumm, auch wenn heutzutage – zum Glück – durch viele Hilfsmittel wie Cochlea-Implantate und verschiedene Therapien, Kindern, deren Gehör beeinträchtigt ist, der Weg zur Sprache, zum Sprechen offen steht.
Neurowissenschaftliche Befunde
Gerade in den letzten Jahren haben NeurowissenschaftlerInnen (siehe Annette Scheunpflug „Kulturelle Bildung im Kontext biowissenschaftlicher Forschung und Reflexion“) viele Hinweise auf hirnphysiologische Zusammenhänge zwischen Hören, d.h. dem Empfangen akustischer Signale, und dem Sprechen gefunden. Unter der Überschrift „Töne üben, Wörter finden“, wurde in der Süddeutschen Zeitung vom 07.10.2011 über eine Studie des kanadischen Neurowissenschaftlers Sylvain Moreno berichtet, der nachgewiesen hat, dass 4- bis 6-Jährige, die sich mehrere Wochen mit einer Lernsoftware beschäftigten, die Rhythmik, Melodik, Stimmung und andere musische Fähigkeiten trainierte, deutlich bessere sprachliche Fähigkeiten zeigten als eine gleichaltrige Kontrollgruppe, die kreativ bildnerische Programme zur Verfügung hatte. Musik und Sprache verlangen in gleicher Weise analytisches Hören – so die Erklärung der ForscherInnen.
In die gleiche Richtung weisen Forschungen des Neurowissenschaftlers Henning Scheich. Henning Scheich, Professor für Neurobiologie und wissenschaftlicher Direktor des Leibniz-Institutes für Neurobiologie in Magdeburg, hat in einem Vortrag eindringlich darauf hingewiesen, dass nichts unsere Vorstellungskraft und Fantasie so befördere wie das Hören. Anhand komplexer Versuchsanordnungen aus der neurowissenschaftlichen Forschung demonstrierte er, dass Hören zutiefst in die kognitiven Fähigkeiten eingreift und Lernprozesse erheblich fördert. Akustische Impulse – so die vorsichtige Beschreibung Scheichs – aktivieren Hirnareale und Synapsen, die als grundlegend für die menschliche Abstraktionsfähigkeit angesehen werden, und diese wiederum sind eine Voraussetzung für Sprache. Hören ist laut Scheich von Beginn an ein kreativer Prozess, denn wenn der Mensch die Ohren öffnet, sucht er auch sofort nach Sinn. Allerdings: Noch hat auch die Hirnforschung keine exakte Antwort darauf, wo und wann aus Schall Bedeutung wird. Das sei – so Scheich – als ob man fragen würde, wo die Seele im Gehirn sitze.
Klänge, Muster von Tönen wecken immer auch Assoziationen. Die meisten von uns kennen diese Erfahrung, wenn sie Musik hören. Fast immer wird man sich dabei ertappen, dass alle möglichen Gedanken und Assoziationen durch den Kopf gehen. Das Akustische regt ungeheuer an, frei über Zusammenhänge zu assoziieren. „Und das ist auch das, was die Akustik braucht, um Bedeutung zu konstituieren“ (Scheich 2004/05:12ff.).
Ursprünge des Hörens
Das kindliche Gehirn lernt, die akustischen Muster zu verarbeiten, und das schon im Mutterleib, denn das Ungeborene hat bereits im sechsten Schwangerschaftsmonat ein vollständig ausgebildetes Gehör. So ist der prägende akustische Impuls für den Säugling die Stimme der Mutter. Er erkennt ihre Sprachmelodie und ihren Sprachrhythmus und kann sowohl diese individuelle Stimme als auch die „Muttersprache“ von Beginn an von anderen SprecherInnen und Sprachen unterscheiden. Sprechen beginnt also mit dem Hören oder anders gesagt, lange vor dem Sprechen kommt das Hören.
Deshalb gilt es festzuhalten: Im ersten Lebenshalbjahr sind Kinder in ihrer Lautwahrnehmung offen für alle Sprachen, aber bereits im zweiten Lebenshalbjahr fokussieren sie auf die sprachlichen Kontraste ihrer Muttersprache. Auch für den Aufbau des Wortschatzes, des individuellen Lexikons ist das Hören unerlässlich. Im ersten Lebensjahr hilft den Kindern dabei die Prosodie. Sie können anhand der Betonung Wörter im Lautstrom der gesprochenen Sprache herausfiltern und so die Wörter erkennen. Und dieses Erkennen ist die Voraussetzung dafür, dass sie die Wörter selbst produzieren. Sprache und Sprechen entwickelt sich in dialogischen Situationen, in denen das genaue Hinhören, Nachahmen und achtsame AufeinanderReagieren unerlässlich sind. Kinder eignen sich Sprache vor allem in Beziehungen an, also dann, wenn sie Menschen um sich haben, die achtsam auf sie hören und die ihnen viele Gelegenheiten zum Hören geben.
Aber auch dann, wenn Kinder bereits über sprachliche Grundfähigkeiten verfügen, bleibt das Hören die wichtigste Voraussetzung für die Erweiterung dieser Kompetenzen.
Und auch der nächste Schritt, der für die Teilhabe an Bildung unerlässlich ist, der Erwerb der Schrift, kann nur erfolgreich sein, wenn Kinder gelernt haben, differenziert zu hören, denn die Schrift bildet Laute ab, die erkannt und analysiert werden müssen. (Vgl. Schönicke/Speck-Hamdan 2010:15ff.).
Zuhören lernen
Mehr und mehr wissen wir über die Bedeutung des Hörens und vor allem des Zuhörens, und dennoch wächst die Erkenntnis, dass Zuhören eine elementare Fertigkeit, eine kulturelle Grundfertigkeit und vor allem Voraussetzung für viele weitere Kompetenzen ist, nur langsam. Vor allem fehlt es an der Umsetzung der Erkenntnis, dass diese Fähigkeit, trainiert und gefördert werden muss.
Kinder, die das Zuhören gelernt haben, sind aufmerksamer und können sich besser konzentrieren. Sie erfassen Arbeitsaufträge schneller und können sich in einer Gruppe besser zurechtfinden. Bereits in der Krippe und im Kindergarten kann die spielerische Zuhörförderung beginnen, mit dem Ziel, sinnerschließendes Zuhören zu vermitteln. Speziell für Kinder hat die Stiftung Zuhören daher Konzepte und Projekte entwickelt, um diese Schlüsselkompetenz des Zuhörens zu fördern.
Die Hörclubs sind das älteste und zentrale Projekt der Stiftung Zuhören. Bundesweit gibt es mittlerweile über 2.000 Hörclubs. Dort lernen Kinder und Jugendliche das bewusste Zuhören. Einmal wöchentlich treffen sich die Kinder mit ihrem Hörclub-Betreuer – z.B. einem Lehrer oder einem Erzieher – und entdecken gemeinsam, was es heißt, richtig zu und hinzuhören.
„Wie klingt ein plätschernder Bach?“, „Wie hört sich stürmischer Wind an?“ Die Kinder machen Spiele zum Hören, erfinden kleine eigene Laut- und Geräuschgeschichten und lauschen ausgewählten Hörspielen. Alle Hörclub-Materialien sowie zusätzliche Anregungen zur Zuhörförderung stellt die Stiftung als „HörSpielBox“ zur Verfügung. Die Hörclubs sensibilisieren den Gehörsinn der Kinder. Diese lernen, sich im Gespräch mit einer Sache und mit ihrem Gesprächspartner auseinander zu setzen und sich auf das gesprochene Wort einzulassen. Kinder, die an einem Hörclub teilnehmen, erfahren eine spürbare Stärkung ihrer Wahrnehmungsfähigkeit, ihrer ästhetischen Kompetenz sowie ihrer Sozial-, Sprach- und Medienkompetenz.
Das Projekt „Ohrenspitzen“ richtet sich an Kindergartenkinder. Im Mittelpunkt steht eine Hör- und Sprachschatzkiste, die in Kooperation mit ErzieherInnen aus 39 Einrichtungen entwickelt wurde und die in sechs Modulen viele Anregungen für „Hörspiele drinnen und draußen“, zum „Geschichten hören und erzählen“, oder beispielsweise zum Produzieren von eigenen Hörstücken und Hörspielen gibt. Erste Erfahrungen in Einrichtungen, die mit dieser Schatzkiste arbeiten, zeigen, dass ganz viele Kompetenzen der Kinder gefördert werden, allen voran die Sprach- und Sprechfähigkeit und damit auch die Dialogfähigkeit der Kinder.
Ein drittes Projekt für Jugendliche – „Mit Sprechen durchstarten“ – sei hier noch beispielhaft angeführt. Ein Sprech- und Zuhörtraining, das sich an HauptschülerInnen richtet und besonders zur Vorbereitung auf die Berufsausbildung eingesetzt wird. Das Projekt vermittelt einerseits Kompetenzen für die Schule, etwa die Fähigkeit, Inhalte zu erfassen, Fragen zu stellen, Sachverhalte mündlich zu präsentieren. Andererseits erwerben Jugendliche auch Kompetenzen für den Beruf, nämlich Vorstellungsgespräche zu führen, Arbeitsaufträge zu verstehen und zu erfassen, fehlende Informationen zu erfragen und Arbeitsergebnisse zu präsentieren.
Praktische Übungen in kurzen Trainingseinheiten und Projektarbeit in mehrtägigen Aktionen fördern gezielt die Zuhörfähigkeit und damit die mündliche Sprachkompetenz der Jugendlichen. Diese erwerben Memo-Strategien und stärken ihre Konzentrationsfähigkeit. Sie lernen, ihre Stimme gezielt einzusetzen, frei zu sprechen, Gespräche zu führen und Konflikte zu bewältigen.
Zuhören zu können ist nicht nur die Voraussetzung dafür, gut sprechen zu können. Zuhören ist auch und vor allem die Voraussetzung für grundsätzliches Verstehen und das Gelingen von Kommunikation, für konzentriertes Lernen und eine lebendige Gemeinschaft, und nicht zuletzt für die kulturelle und gesellschaftliche Teilhabe.