Heterotopien des Alters? Mediale Räume kultureller Altersbildung in Zeiten von Corona

Artikel-Metadaten

von Miriam Haller

Erscheinungsjahr: 2021

Peer Reviewed

Abstract

Die Topografie des Alters wird durch die Pandemie einschneidend verändert: Die Schutzmaßnahmen gegen eine Ansteckung mit Covid 19 bewirken eine vorher nie dagewesene räumliche Distanz zwischen den Generationen. Schließlich treffen die Regulierungen des sogenannten „Social Distancing“ die als besonders vulnerabel eingeschätzte Gruppe der Über50-Jährigen besonders stark. Auf diese Situation haben Kulturgeragoginnen und Kulturschaffende schnell mit der Entwicklung alternativer Angebote der kulturellen Altersbildung reagiert, die dem Gebot räumlich-körperlicher Distanz Rechnung tragen. Es wurden vielfältige mediale Räume, Brücken und Kanäle konstruiert, um die Mauern und Altersgrenzen zu überwinden, die die Pandemie neu errichtet hat. In meinem Beitrag analysiere ich aus kulturtopologischer Perspektive (spatial turn) im Anschluss an Michel Foucaults Begriff der Heterotopie anhand von drei Fallbeispielen die medialen Kanäle und die durch sie formierten Subjektpositionen sowie das Potential dieser kulturgeragogischen Projekte, in Zeiten von Corona Resonanzräume und heterotopische Reflektionsräume zu bilden.

Topografie des Alters

Wie stark Räume und topografische Umwelten das Erleben, Bewerten und Gestalten des Alter(n)s beeinflussen, zeigt die Kulturgerontologie. Vera Gallistl und Viktoria Parisot betonen in ihrer Studie über die „Verschränkung von Alter(n) und Raum in kulturellen Bildungsangeboten“, wie sich auch in der kulturellen Altersbildung das Alter(n) „erst im Zusammenspiel zwischen (älterem) Mensch und relevanten Umwelten“ verwirklicht (Gallistl/Parisot 2020, S. 382).

Der französische Philosoph Michel Foucault beschreibt bereits in den 1960er Jahren, wie in westlichen Gesellschaften das hohe Alter von anderen Lebensaltern nicht nur diskursiv, sondern auch durch materiale topografische Grenzziehungen differenziert wurde: In der diskursiven Bestimmung des Alters erkennt er eine wirkmächtige rhetorische Topik, durch die das höhere Alter anderen Normen unterworfen werde als andere Lebensalter. Außerdem werde das hohe Alter aber auch durch materiale topografische Grenzziehungen im öffentlichen Raum bestimmt, indem beispielsweise Altersheime als vom öffentlichen Raum ab- und ausgegrenzte Orte platziert werden. Altersheime seien – so Foucault – in der soziokulturellen Topografie als „andere Orte“ markiert (Foucault 1967/1990). Um solche „anderen Orte“ sowohl in der diskursiven Topik und Rhetorik als auch im topografischen Raum beschreiben zu können, führt er das Konzept der Heterotopoi ein (Foucault 1966/2005). Als Heterotopoi beschreibt er dabei keineswegs nur Altersheime, sondern unter anderem auch psychiatrische Kliniken, Gefängnisse, Bordelle, Friedhöfe sowie Kinos, Theater, Museen und Bibliotheken. Nach Foucault ist es Aufgabe einer Heterotopologie, die ausgegrenzten „anderen Orte“ in der „Gemengelage von Beziehungen, die Platzierungen definieren“ zu analysieren: Anders als Utopien, die Foucault (1967/1990:38f.) als „Platzierungen ohne wirklichen Ort“ beschreibt, versteht er unter Heterotopien „wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind“, aber dort als ab- und ausgegrenzte Orte eben auch „Gegenplatzierungen oder Widerlager“ (ebd.:39) bilden können. Gerade weil diese Orte gesellschaftlich als „andere Orte“ markiert und dadurch anderen Normen unterworfen seien als die sie umgebende soziokulturelle Landschaft, schreibt Foucault diesen Räumen auch ein kritisches, die Reflektion anregendes Potential zu: Sie können Reflektions- und Resonanzräume bilden, die der Gesellschaft einen Spiegel vorhalten und den Stimmen älterer Menschen Resonanz verschaffen (vgl. hierzu mit Bezug auf Altersbildung Haller 2011/2020; Haller i.D.).    

Generationentopografie und Heterotopien des Alters in Zeiten von Corona

Durch die pandemiebedingten Schutzmaßnahmen gegen Covid 19 gelangt – so meine These – Foucaults Konzept vom Alter als Heterotopie zu neuer Aktualität: Die altersbezogenen Maßnahmen im Zuge der Pandemie haben wie durch ein Brennglas verdeutlicht, welche enorme Wirkungsmacht sowohl diskursive als auch materiale, topografische Grenzziehungen bezogen auf ältere Menschen entfalten konnten. Durch Corona hat sich die Topografie der Generationen einschneidend verändert: Das Gebot, räumliche Distanz zu den Mitmenschen zu halten, richtet sich besonders eindringlich an ältere Menschen. Jüngere sind allgemein dazu aufgerufen, physischen Abstand zu älteren Menschen zu halten.

Im Besonderen trifft das Gebot des sogenannten „social distancing“ Senioreneinrichtungen und Pflegeheime. Ab März 2020 wurden die Seniorenhäuser an Besuchsbeschränkungen gebunden. Während der Kontaktsperre wurden ab dem 22. März 2020 für stationäre Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen beispielsweise in Nordrhein-Westfalen verfügt, dass alle „Besuche untersagt [sind], die nicht der medizinischen oder pflegerischen Versorgung dienen oder aus Rechtsgründen erforderlich sind“ (Land NRW 2020a, § 2). Außerdem wurden in den Einrichtungen „[s]ämtliche öffentlich[e] Veranstaltungen wie beispielsweise Vorträge, Lesungen, Informationsveranstaltungen untersagt“ (ebd.). Erst am 11. Mai 2020 wurde dieses Kontaktverbot dahingehend gelockert, dass – wenn auch zunächst sehr eingeschränkt – Einzel-Besuche wieder ermöglicht wurden, aber Gruppenveranstaltungen – wie es die meisten kulturgeragogischen Angebote in Pflegeheimen sind – blieben weiterhin untersagt (Land NRW 2020b).

Das ist ein gravierender Einschnitt in die topografische Landkarte der Generationen und damit in die soziokulturelle Konstruktion des Altersdispositivs. Der Sozialwissenschaftler Frank Schulz-Nieswandt hat als Vorsitzender des Kuratoriums Deutsche Altershilfe diese Besuchseinschränkungen in Alters- und Pflegeheimen – ebenfalls mit Bezügen zur Heterotopologie Michel Foucaults – bereits zu Beginn der pandemiebedingten Schutzmaßnahmen in Deutschland scharf kritisiert: In „Kollektivkasernierung“ (Schulz-Nieswandt 2020a:8) seien ältere Menschen in den Heimen zur „Verschlusssache“ (ebd.:15) geworden. Pflege- und Altersheime seien zu „panoptischen Anti-Corona-Festungsburgen“ (ebd.:24) regrediert, so dass große Rückschritte in dem ohnehin zögerlichen Prozess der Öffnung und Integration der Heime in den Sozialraum zu beklagen seien (vgl. auch Schulz-Nieswandt 2020b).

Mediatisiertes „Distant Sozializing“ und die digitale Kluft zwischen den Generationen

Wenn während der Corona-Krise „mit einigem Staunen“ mediensoziologisch beobachtet wurde, „dass Kommunikation – und damit Gesellschaft – weiterläuft, ohne dass dafür eine Interaktion körperlich Anwesender stets nötig ist“, indem „wir“ uns „technisch gestützte Routinen“ eines „Distant Socializing“ angeeignet haben, „die es uns erlauben, trotz räumlicher Entfernung in Verbindung zu bleiben“ (Dickel 2020:81), muss die kritische Rückfrage gestellt werden, welche Menschen in diesem „wir“ eigentlich inkludiert sind und welche nicht.

Grenzziehungen in der Topografie der Generationen beziehen sich nicht nur auf die analoge Welt, sondern auch auf die mediale Welt (vgl. allgemein zur Mediennutzung älterer Menschen Doh 2020). Insbesondere die digitale Welt ist durch eine deutliche „digitale Kluft“ („digital gap“ oder auch „digital divide“) zwischen den Generationen gekennzeichnet – so die Terminologie der medienwissenschaftlichen Gerontologie sowie der Organisation for Economic Co-Operation and Development (OECD) für die nach Lebensalter unterschiedliche Nutzung digitaler Medien (BMFSFJ 2020:41). Insgesamt ist zu konstatieren: „Ältere Menschen haben seltener Zugang zum Internet und nutzen das Internet auch seltener als Jüngere“ (BMFSFJ 2020:61). Huxhold und Otte (2019) zeigen auf Grundlage der Daten des Deutschen Alterssurveys, dass in den jüngeren Altersgruppen von 43 bis 54 Jahren im Jahr 2017 mit rund 97 Prozent beinahe alle einen Internetanschluss hatten und dass auch in der Phase rund um den Ruhestand (60 bis 72 Jahre) dieser Anteil noch über 80 Prozent liegt. Allerdings verfügten von den ältesten Befragten im Alter von 79 bis 84 Jahren nur etwa 39,5 Prozent über einen Internetanschluss!

Dabei sind zusätzlich deutliche Unterschiede innerhalb der Gruppe der älteren Menschen zu beachten: Ältere Menschen mit niedrigem und mittlerem Bildungsstand nutzen digitale Technik sehr viel seltener als ältere Menschen mit hohem Bildungsstand. Diese Unterschiede nehmen in höheren Altersgruppen nochmals zu. Die digitale Kluft vergrößert sich also mit Blick auf das steigende Lebensalter und den jeweiligen Bildungsstand: „In der Altersgruppe ab 60 Jahren gehörten 2018 von den Personen mit formal hoher Bildung bereits 87 Prozent zu den Onlinern, doch nur 37 Prozent der Personen mit formal niedriger Bildung“ (BMFSFJ 2020:42). Diese Entwicklung hat sich in den letzten zehn Jahren weiter verschärft, wobei sich zusätzlich deutliche Geschlechterunterschiede zeigen: Derzeit sind nur 39 Prozent der über 80-jährigen, die das Internet nutzen, Frauen, die aber in dieser Altersgruppe zwei Drittel der älteren Bevölkerung insgesamt ausmachen (vgl. Doh 2020). Studien, auf welche Routinen des mediatisierten „Distant Sozializing“ welche älteren Menschen in Zeiten der Pandemie tatsächlich zurückgreifen konnten, welche sie neu erlernen konnten und mit welchen Lehr-Lernformen dies gut gelingt, sind ein dringendes Desiderat mediengerontologischer und mediengeragogischer Forschung. 

Bridging the gap? Fragestellung und Methode

Meine Ausführungen beziehen sich auf drei von insgesamt 14 der im Jahr 2020 durch den Förderfonds Kultur & Alter vom Kulturministerium Nordrhein-Westfalen geförderten künstlerisch-kulturgeragogischen Projekte, die während des ersten pandemiebedingten Lockdown die räumliche Distanz zwischen den Generationen überbrückt haben.

Überprüft wird die Hypothese, dass die künstlerisch-kulturgeragogischen Interventionen Brücken und Kanäle kreativer Kommunikation und digitale ebenso wie analoge Resonanzräume geschaffen haben, die älteren Menschen auch während des Lockdown kulturelle Teilhabe ermöglicht haben. Sie haben erste Wege gefunden, um die gebotene physische Distanz zu wahren und gleichzeitig durch kulturelle Bildungsangebote zu überbrücken. Darüber hinaus haben sie heterotopische Räume kritischer Reflektion des herrschenden Altersdispositivs geschaffen.

Folgende Fragestellungen leiten die Analyse:

  1. Mit welchen medialen Kanälen überbrückten künstlerisch-kulturgeragogische Angebote die Distanz zwischen den Generationen? Dabei wird auf die medienbegriffliche Klassifizierung von Werner Faulstich (2004:13f.) zurückgegriffen, der Medien je nach Grad des Technikeinsatzes in „Primärmedien“ („Menschmedien“, face-to-face-Kommunikation mit geringer technischer Vermittlung wie z.B. in der freie Rede oder dem Theater), „Sekundärmedien“ (z.B. „Druckmedien“; Technikeinsatz auf Produktionsseite), „Tertiärmedien“ („Elektronische Medien“; auf Produktions- und Rezeptionsseite sind technische Geräte nötig) und „Quartärmedien“ („Digitale Medien“) unterscheidet.
  2. Haben sie das Potential zu kulturgeragogischen Resonanzräumen, die älteren Menschen Kommunikation, Artikulation und Resonanzerfahrungen im Sinne Hartmut Rosas (2019) ermöglichen?
  3. Welche Subjektivationen wurden durch die Wahl der Medien evoziert bzw. welche Subjektpositionen wurden den älteren Menschen durch die jeweils gewählten medialen Kanäle zur Verfügung gestellt? Wie Christian Swertz zu bedenken gibt, kanalisieren die jeweiligen Medien auch den „Selbstbezug“ und geben je nach Medium unterschiedliche Subjektpositionen vor: „das Medium Buch macht den einzelnen zum Leser, das Medium Fernsehen zum Voyeur, das Medium YouTube zum Selbstdarsteller oder zum (genüsslichen) Rezipienten von Selbstdarstellungen, das Medium YouPorn zum Pornoselbstdarsteller oder zum (genüsslichen) Rezipienten von Pornoselbstdarstellungen. Die jeweiligen Medien lassen nichts anderes zu und zwingen den einzelnen, sich im Rahmen dessen, was sie zulassen, zu positionieren“ (Swertz 2009:41).
  4. Aus heterotopologischer Perspektive stellt sich last but not least die Frage, ob und inwieweit die künstlerisch-kulturgeragogische Interventionen ein Potential als heterotopische kritische Reflektionsräume entfalten, die der Gesellschaft in ihrem Umgang mit älteren Menschen einen Spiegel vorhalten und bestenfalls im Sinne von „Ageing trouble“ (Haller 2005/2020) die kritische Neueinschreibung von Altersbildern fördern. Unter „Ageing trouble“ verstehe ich in Anlehnung an Judith Butlers Konzept von „Gender trouble“ (Butler 1990) das performativ resignifizierende Aufgreifen des jeweils dominierenden Altersdispositivs und die Möglichkeit, „kulturelle Einschreibungen des Alters zu wiederholen und gleichzeitig zu verschieben, indem ihr inszenatorischer Charakter zur Schau gestellt wird“ (Haller 2005/2020).

Forschungsmethodisch stützen sich die folgenden Ausführungen auf eine explorative Studie über die drei Projekte, die eine qualitative Analyse der Projektdatenblätter der Förderanträge, Beobachtungsprotokolle der Aufführungen sowie leitfragengestützte Experten- und Expertinneninterviews mit den Angebotsleitenden der drei Projekte umfasst.

Mediale Räume kultureller Altersbildung in Zeiten von Corona - drei Fallbeispiele

1. Wald- und Wiesenkonzerte: Musikalischer Brückenbau

Am Beispiel der „Wald- und Wiesenkonzerte“, die der Musiker und Musiklehrer Sebastian Netta im Münsterland realisiert hat, lässt sich das beliebte und während der Corona-Krise vielfach erprobte neue Format der Balkonkonzerte vor Altersheimen konzeptionell nachvollziehen.

  • Mediale Kanäle

Die „Wald- und Wiesenkonzerte“ fanden in Parks und Gärten von Altersheimen im Münsterland statt. Sie wurden auf einer „Bonsai Bühne“ aus Holz realisiert, „die mobil ‚outdoor‘ an nahezu jedem Ort ohne großen Aufwand aufgebaut werden kann“ – so heißt es im Projektdatenblatt des Förderantrags, der lange vor Beginn der Pandemie eingereicht wurde. In medientheoretischer Hinsicht lässt sich diese technisch ausgestattete mobile Bühne den Primär- und Sekundärmedien zuordnen, da sie eine face-to-face-Kommunikation auf Abstand ermöglicht und sich der Technikeinsatz elektronischer Verstärker auf die Produktionsseite beschränkt.

Mit der „Bonsai-Bühne“ war geplant, ein zugehendes musikalisches Bildungsangebot für Bewohnerinnen und Bewohner von Alters- und Pflegeheimen zu realisieren. Auf dem Land – so Projektleiter Sebastian Netta – hätten die meisten Altersheime einen Park, wo die kleine Bühne schnell und leicht zugänglich aufzubauen sei: „Die Bühne ist ein Knusperhäuschen, da will jeder mal hin, jeder mal gucken und anfassen“. Netta geht es – wie er im Interview ausführt – in seinem Konzept explizit darum, „musikalische Brücken“ zu bauen, um anspruchsvolle Formen kultureller Teilhabe in Altersheimen auf dem Land zu ermöglichen. Dazu waren kulturelle Teilhabe- und Bildungsangebote für Bewohnerinnen und Bewohner ebenso wie für die Belegschaften der Heime geplant. Doch dann kamen Corona und die Schutzmaßnahmen, die das Konzept des musikalischen Brückenbaus in Form von durch Bildungsangebote flankierten Konzerten auf der „Bonsai-Bühne“ enorm erschwerten. Schließlich seien durch Corona nun „Mauern zwischen den Menschen, auch zwischen den Zuschauern sind Mauern“, wie Netta die räumliche Situation im Interview beschreibt.

Sein ursprüngliches Konzept ging über das Format eines „eindimensionalen Frontal-Konzerts“ hinaus: „Ursprünglich wollten wir ein längerfristiges Verhältnis eingehen, […] sowohl mit Bewohnern als auch mit Pflegekräften, um herauszubekommen, wie wir ein Musikprojekt realisieren können, dass sowohl den künstlerischen Ansprüchen als auch dem Anspruch der Bewohner gerecht wird“. Dabei sollten insbesondere auch musikalische Gesprächs- und Bildungsangebote für die Pflegekräfte eine zentrale Rolle spielen, damit diese zu „musikalischen Brückenbauern“ geschult werden: Sie „entscheiden ja auch über ihren Geschmack ganz klar mit, welche Musik in der Einrichtung […] gespielt wird“, betont Netta. Solche kulturellen Bildungsangebote für die Zielgruppe der Pflegenden waren während des Lockdown und durch das Besuchsverbot in den Heimen ebenso wenig möglich wie für die Zielgruppe der Bewohnerinnen und Bewohner von Pflegeheimen. Immerhin konnten dank der „Bonsai-Bühne“ überhaupt Corona-konforme Konzerte stattfinden.

Haller Abb. 1 - Wald- und Wiesenkonzert auf der Bonsai-Bühne
Abbildung 1: Wald- und Wiesenkonzert auf der Bonsai-Bühne im Seniorenzentrum Drueke. Foto: Sebastian Netta
  • Kulturgeragogischer Resonanzraum

Netta arbeitet mit professionellen Musikerinnen und Musikern aus dem Klassik- und Jazzbereich. Sie „bringen mit ihren Instrumenten, mit ihrem Können die Emotionen in die Fenster ran“ – wie es Netta im Interview beschreibt. Auch wenn das pandemiebedingte Gebot der räumlichen Distanz es erschwert habe, die „Resonanz“ zu spüren, konstatiert Netta im Rückblick auf die elf Konzerte im Mai 2020, dass „selbst durch die Wände hindurch […] die emotionalen Momente“ empfunden werden konnten. Wie wichtig es für sie sei, angeregt durch die Musik auch den Tränen freien Lauf zu lassen, beschreibt eine Pflegerin – „das muss ja alles auch mal raus“ -- nach dem beobachteten Konzert. Auch vor dem Hintergrund solcher Rückmeldungen hält es Netta für wichtig, bei den Konzerten nicht nur Gassenhauer zu spielen, sondern auch anspruchsvollere, emotional herausfordernde Stücke. Auch Gefühle der Trauer und der Ohnmacht gegenüber der gegenwärtigen Situation könnten so einen Ausdruck bekommen: „Dieses Nichtverwortenkönnende“ – davon ist Netta überzeugt – „das schafft Musik!“

  • Mediale Subjektpositionen

Die Bewohnerinnen und Bewohner nehmen die Subjektposition von Konzertbesucherinnen und -besuchern ein. Sie nehmen Platz auf den Balkonen und an Fensterplätzen, die durch die mediale Konzertsituation an Balkone, Ränge und Logen von Philharmonien und Konzerthallen erinnern. Einige schauen regunglos, andere nehmen die angebotene Subjektposition an, indem sie anfangen zu klatschen. Die „Bonsai-Bühne“ steht vor dem Heim und auf ihr die Musikerinnen und Musiker, die mit ihrer Musik hier allerdings einen größeren Abstand als den des gewohnten Orchestergrabens zu überwinden haben.   

Durch die Erfahrung der Frontal-Konzerte sah Netta seine Hypothese bestätigt, wie zentral in der face-to-face-Kommunikation die Rolle der Pflegenden beim Bau „musikalischer Brücken“ ist. Beim Beobachten des Konzerts zeigt sich, dass sie diverse Subjektpositionen übernehmen: Sie bringen wie Platzanweiserinnen und -anweiser die Bewohnerinnen und Bewohner vor den Konzerten zu ihren Sitzplätzen, verteilen Corona-Regenbogen-Fähnchen, die von den Seniorinnen und Senioren während des Konzerts im Takt der Musik geschwungen werden. Auf einem Balkon tanzt ein Pfleger mit einer Bewohnerin einen langsamen Walzer. Eine Pflegerin wiegt sich sitzend gemeinsam mit einer Bewohnerin im Rhythmus der Musik. Die Pflegekräfte unterstützen auf diese Weise die leibliche Resonanz der Bewohnerinnen und Bewohner auf die Musik, dienen gleichzeitig als Verstärker und Über-Setzer des Konzerts auf der mobilen Bühne und überbrücken so die große räumliche Distanz zwischen Musikerinnen und Musikern und den Seniorinnen und Senioren.

  • Heterotopisch-Kritischer Reflektionsraum: „Ageing trouble“

Netta selbst sieht das Projekt – so wie es in dieser Zeit stattfinden konnte – skeptisch: Konzeptionell ging es ihm ursprünglich darum, nicht einfach nur hinzufahren, ein Konzert zu geben und wieder abzufahren. Solche Konzertangebote in Pflegeheimen bezeichnet er im Interview als Form von „kulturellem Imperialismus“. Ihm sei es eigentlich um ein mehrdimensionales, nachhaltiges musikgeragogisches Bildungsangebot gegangen. Kommunikation und konstruktiv-kritische Reflektion mit den beteiligten Gruppen seien bedingt durch die Schutzmaßnahmen zu kurz gekommen.

Trotzdem stellt sich in heterotopologischer Hinsicht die Frage, ob die große mediale Resonanz, die im Allgemeinen derartige Balkonkonzerte in Gärten und Parks von Seniorenheimen zu Beginn der Corona-Pandemie in Deutschland hatten, nicht doch zumindest potenziell einen kritischen Reflektionsraum des zu dieser Zeit die Massenmedien beherrschenden Altersbildes eröffnet hat. Schließlich wäre es erstens vorher undenkbar gewesen, dass Balkonkonzerte vor Altersheimen überhaupt in den Rang einer Fernsehnachricht zur Primetime gekommen wären. Sie wurden – wenn auch nur kurzfristig – in den Printmedien und im Fernsehen als Signale der Hoffnung und Ausdruck der Solidarität gegenüber älteren und pflegebedürftigen Menschen gefeiert. Die Deutsche Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie hat bereits im April 2020 kritisiert, dass ältere Menschen im Kontext der Pandemie in den Medien „vornehmlich als zu Beschützende und Schwache in der Gesellschaft repräsentiert werden“ und zu befürchten sei, dass sich „einseitig-negative Einstellungen gegenüber älteren Menschen verstärken und sich diskriminierende Praktiken einstellen“ (Kessler/Gellert 2020:1). Durch die mediale Berichterstattung über die Balkonkonzerte wurden Menschen, die in Alters- und Pflegeeinrichtungen leben, einmal nicht in Situationen pflegerischer oder medizinischer Behandlung gezeigt, sondern als an Kunst und Kultur teilhabendes Konzertpublikum.   

2. Damengedeck 2.0: Theater-Performance im digitalen Raum

Auch das im Rahmen des inklusiven Kulturfestivals Sommerblut in Kooperation mit einer Kölner Seniorenresidenz realisierte Theater-Performance-Projekt „Damengedeck 2.0“ wurde nach einem gemeinsamen Präsenztreffen von den pandemiebedingten Besuchsverboten und der Kontaktsperre in Altersheimen überrascht. Das Künstlerinnenkollektiv Ruby Behrmann (Regie und Szenenkomposition), Liliane Koch (Regie und Textkomposition) und Theresa Mielich (Szenografie) musste Konzept, Format und Methoden in Windeseile umstellen.

Das ursprüngliche Konzept des Künstlerinnenkollektivs sah vor, dass sich das Publikum gemeinsam mit den Bewohnerinnen in der Seniorenresidenz auf einen performativen „Rundgang in die Zukunft“ begeben sollte. Statt des theatralen Rundgangs vor Ort wurden die Proben und die Aufführungen nun in den digitalen Raum verlagert. Für jeweils 40 Zuschauende öffneten sich an fünf Abenden im Mai 2020 die Tore der Seniorenresidenz per Videokonferenzschaltung im digitalen Raum. Ein Science-Fiction-Plot rahmte die autobiografischen Erzählungen der beteiligten Seniorinnen. Im Zentrum der dramatischen Rahmenhandlung stehen Pirana und Elektri, zwei wundersam kostümierte Wesen aus der Zukunft, die dank einiger Sicherheitslücken in Onlinekonferenzplattformen ein Schlupfloch, um zeitreisend Eingang in die Konferenz finden. Gurrend und surrend erbitten sie die autobiografischen Emanzipations-Erzählungen der fünf beteiligten älteren Damen für ihr „HerStory-Archiv“, das in der Zukunft von großer Relevanz sei. Im Rahmen dieser Science-Fiction-Dramaturgie wird auch das Publikum zum Bestandteil der Inszenierung und ‚zoomt‘ sich im buchstäblichen Sinne in die Lebensgeschichten der Seniorinnen ein. Gegen Ende des Stücks fragen die Kunstfiguren Elektri und Pirana nach den Zukunftsutopien des Publikums, die von den Zuschauenden rege via Chat kundgetan werden.

  • Mediale Kanäle

Spezialisiert auf ortsbezogene, partizipative Formate geht es dem Künstlerinnenkollektiv in seinen Inszenierungen darum, „Nicht-Theater-Orte“ wie ein Altersheim für theatrale Inszenierungen zu öffnen, um in der face-to-face-Interaktion ein „Gemeinschaftsgefühl zwischen dem Publikum und den Darsteller*innen“ herzustellen. Beim durch die Corona-Schutzmaßnahmen forcierten Medienwechsel in den digitalen Raum (Quartärmedium), ging es den Künstlerinnen darum, dieses Gemeinschaftsgefühl trotzdem erlebbar zu machen. Deshalb wurden zusammen mit der Eintrittskarte Pakete an die Zuschauenden verschickt, die u. a. ein „Damengedeck“ mit Sekt und Praline sowie eine von Hand gehäkelte Vulva zum Anstecken enthielten. Das „dreidimensionale Paket“ soll – so die im Programmheft formulierte Hoffnung – dem „zweidimensionalen Zoom-Format eine haptische Ebene“ hinzufügen.

Um den Übergang von der Fläche des Bildschirms in den dreidimensionalen Raum zu überbrücken, wurde das Publikum eingeladen, sich – wie für einen Theaterabend – schick zu kleiden, um auf diese Weise den im Homeoffice für viele Menschen zu dieser Zeit bereits alltäglichen Eintritt in den digitalen Konferenzraum als ritualhafte und theatrale Inszenierung zu zelebrieren.

Die Theaterproben wurden sowohl als telefonische Einzelcoachings (Tertiärmedium) als auch als Online-Gruppenmeetings (Quartärmedium) abgehalten. Keine der beteiligten Seniorinnen hatte vorher Erfahrungen mit Onlinekonferenzen. Auch die Seniorenresidenz hatte vorher noch keine Erfahrungen mit Online-Bildungsprojekten gesammelt. Aufgabe von Hanna Behr, der Projektleiterin vor Ort, war es deshalb nicht nur, den beteiligten Seniorinnen Handreichungen zur Verfügung zu stellen und digitale Schwellenängste abzubauen, sondern auch die technische Ausstattung in Zusammenarbeit mit der Seniorenresidenz für das Projekt zu koordinieren. Das Projekt musste eine große digitale Kluft überbrücken: Nur drei der beteiligten Damen hatten einen Laptop. Die Projektleiterinnen hätten sie regelrecht „bezirzen“ müssen. Auch die Seniorenresidenz sei „technisch nicht gut ausgestattet und […] technisch nicht bewandert [gewesen], aber das hat alles trotz allem gut geklappt, und die Damen haben zum Schluss gesagt: Ich brauch keine Hilfe mehr von der Bewohnerbetreuung. Ich logge mich jetzt hier selber ein für die letzten 2-3 Veranstaltungen“. In der Seniorenresidenz wurden im Anschluss an das Projekt erstmals Kurse für den Umgang mit Online-Konferenz-Programmen gegeben. Das Projekt hat dafür die Tür geöffnet.

  • Kulturgeragogischer Resonanzraum

Trotz aller Unterschiede, die der Switch in den digitalen Raum mit sich brachte, blieb das Ziel – wie Ruby Behrmann im Interview erläutert – einen Austausch zwischen dem „Mikrokosmos“ Seniorenresidenz und „dem Außen, dem Außerhalb, der Stadt“ zu ermöglichen. Selbst wenn die Seniorenresidenz sehr bemüht sei, sich in die Stadtgesellschaft hinein zu öffnen, geht Behrmann davon aus, dass der Ort für das Publikum im Allgemeinen „schon noch sehr fremd“ ist.

Während der Dauer des Projekts wurde dem künstlerischen Team deutlich, wie sich „die Damen über das Projekt ein wenig herausflüchten konnten aus dieser schweren Zeit“. Als die Teilnehmerinnen den künstlerischen Leiterinnen berichteten, wie sehr ihre Gedanken seit acht Wochen nur noch um das Stück kreisten, wurde Ruby Behrmann klar: „Da haben wir was geschafft. Acht Wochen nur an ein Kunstprojekt zu denken, ist vielleicht besser, als acht Wochen nur an Krankheit zu denken“. Auch die Intention, durch das Projekt die Stimmen der älteren Damen in der Öffentlichkeit hörbarer zu machen, löste sich ein: Die Aufführung traf nicht nur auf Resonanz beim begeisterten Publikum, das das sich an die Aufführung anschließende Publikumsgespräch gern für Fragen und Austausch nutzte, sondern auch in der überregionalen Presse.

  • Mediale Subjektpositionen

Durch die Wahl des Mediums nahmen die beteiligten Seniorinnen die Rolle von Online-Performerinnen und Schauspielerinnen an. In der dramaturgischen Rahmenhandlung traten sie in der Rolle „mächtiger Kämpferinnen“ für Emanzipation auf und erschienen nicht nur durch ihre autobiografischen Erzählungen als role models emanzipatorischer Avantgarde. Sie aktualisierten ihre Vorreiterinnenrolle vielmehr auch durch die Bereitschaft, den digitalen Raum zu erobern und auch dort ihre Stimme zu erheben – ohne dass eine der beteiligten Damen vor dem Projekt bereits Erfahrungen mit einem Onlinekonferenztool oder Video-Anrufen gemacht hatte.

  • Heterotopisch-kritischer Reflektionsraum: „Ageing trouble“

Nach Einschätzung von Ruby Behrmann stand durch die Pandemie im öffentlichen Diskurs das „Zerbrechliche“ des Alters im Vordergrund der Wahrnehmung. In „Damengedeck 2.0“ war es das Ziel, diese eindimensionale Sichtweise auf das Alter zu erweitern. Die von Behrmann im Interview formulierte Intention, eindimensionale Altersbilder herauszufordern und ältere Frauen zumindest „innerhalb dieses Projekts von Klischees zu befreien“ und in einer Vorreiterinnenrolle im Kampf um Emanzipation zu zeigen, wurde eingelöst.

Auch wenn Behrmann menschliche Nähe und Präsenz als grundlegend für das Theater ansieht und deshalb nach Projektende deutlich die Grenzen von Online-Theaterprojekten kritisiert, beschreibt sie es als Vorteil eines digitalen Konferenzraums als theatrale Bühne, dass er dem Publikum während des Lockdown überhaupt einen „Blick in die Wohnungen von alten Menschen“ ermöglichte. Vice versa gab auch das Publikum einen Einblick in seine privaten Räumlichkeiten. Auf diese Weise konnte die Online-Inszenierung auch die allgemeine „Vereinsamung in der eigenen Wohnung“ (Behrmann), die Zeit von Homeoffice und „Talking Heads“ in der Videokonferenz sowie die durch die Pandemie begründeten räumlichen Beschränkungen performativ reflektieren und re-inszenieren.

3. allEinsam – ein interdisziplinäres Kunstprojekt

Das Projekt „allEinsam“ ist ein interdisziplinäres Kunstprojekt für ältere Menschen zum Thema Einsamkeit und Alleinsein, das die Kulturgeragogin und Performancekünstlerin Nora Mira Maciol gemeinsam mit der bildenden Künstlerin und Kunsttherapeutin Gudrun Wage im Werkhaus e. V. Krefeld auf die Beine gestellt hat.

  • Mediale Kanäle

Geplant war ursprünglich, dass sich die Teilnehmenden gemeinsam mit den Künstlerinnen in regelmäßigen Präsenztreffen dem Thema Einsamkeit aus unterschiedlichen Richtungen nähern: Unterschiedliche Lebenserfahrungen zum Thema Einsamkeit und Alleinsein sollten künstlerisch verarbeitet werden, um im interdisziplinären Austausch unterschiedliche Kunstsparten sowie wissenschaftliches Wissen über Einsamkeit zusammenzuführen. In dem solchermaßen mehrgleisig geplanten Projekt sollte das Krefelder Kultur- und Bildungszentrum „Südbahnhof“ den topografischen Knotenpunkt bilden, in dem im wortwörtlichen Sinne die Gleise zusammenlaufen und wo am Ende des Projekts eine performative Ausstellung gezeigt wird. Nach zwei Präsenzsitzungen im Südbahnhof kam der Lockdown. Die Projektleiterinnen stellten die Weichen um, blieben aber beim mehrgleisigen Format und experimentierten nun mit diversen medialen Kanälen, von Primär- bis zu Quartärmedien. Zu den größten Schwierigkeiten, die im Projekt in methodischer Hinsicht zu bewältigen waren, zählt Maciol im Interview die Suche nach geeigneten Kommunikationskanälen, die trotz physischer Distanz Austausch ermöglichen. Mit dem Lockdown habe sich das Projekt in methodischer Hinsicht trotz aller Bemühungen von der Gruppenarbeit hin zur Einzelarbeit mit den Teilnehmenden verschoben. Eine digitale Pinnwand, die eine Art Online-Gruppenarbeit ermöglicht hätte, wurde nur von wenigen Teilnehmenden genutzt. Neben der Online-Kommunikation per Mail begleiteten die Projektleiterinnen die häuslichen Kunstexperimente der Teilnehmenden durch zugehende kulturelle Bildungsarbeit: Sie machten Hausbesuche und richteten eine regelmäßige Telefonsprechstunde ein. Als es in der ersten Zeit des Lockdown Lieferengpässe gab, stellten sie in Care-Paketen sogar das benötigte künstlerische Material für Collagen, Leinwände und Farbe vor die Haustüren der Teilnehmenden. Um in der Vereinzelung dennoch ein Gruppengefühl zu ermöglichen, besorgten die Projektleiterinnen eine große Leinwand, die sie von einer Person zur anderen transportierten: Als „work in progress“ wurde sie zu einem kollektiven Kunstwerk der Gruppe.

Ein Blog diente während des gesamten Zeitraums dazu, der Öffentlichkeit in Echtzeit einen „Blick durchs Schlüsselloch“ auf die entstehenden künstlerischen Arbeiten zu ermöglichen. Am Ende des Projekts war Gruppenarbeit wieder möglich, so dass die Präsentation des Projekts in der Öffentlichkeit im Rahmen einer performativen Ausstellung gemeinsam realisiert werden konnte.

  • Kulturgeragogischer Resonanzraum

Im Projektdatenblatt des Förderfonds Kultur & Alter wird als Ziel beschrieben, „der Einsamkeit in ihren verschiedenen Facetten künstlerisch zu begegnen – sie literarisch, biografisch und performativ zu erforschen, ihr ein Gesicht, eine Stimme einen Körper zu geben und sie aus ihrer dunklen Ecke auf die Bühne zu holen“. Maciol beschreibt im Interview, wie bewusst es den beiden Projektleiterinnen war, dass Einsamkeit „ja ein sehr hartes Thema ist, was Leute auch sehr tief treffen kann“. Auch wenn mit Gudrun Wage kunsttherapeutische Expertise in der Projektleitung vertreten war, war es den beiden wichtig, in den Ankündigungen zu betonen, dass es kein therapeutisches, sondern ein künstlerisch-kulturgeragogisches Projekt sei. Dass ihr Projekt aber letztlich auch „therapeutische Effekte“ gehabt hat, glaubt Nora Mira Maciol durchaus: „Wenn ein Thema künstlerisch bearbeitet wird, wenn man dem Thema ein Gesicht gibt und es nach außen trägt“, dann könne man sich „von diesem Schwierigen, was das Thema auch hat“ etwas lösen. Je mehr man mit einem Thema wie Einsamkeit künstlerisch arbeite, desto „mehr wird es zum Ding an sich“, so Maciol. Auf diese Weise könne in der künstlerisch-kreativen Praxis eine heilsame Distanz zum Thema eingenommen werden, die es ermöglicht, es aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten, es künstlerisch zu verfremden und zu variieren, jedoch ohne es zu verdrängen. Im Austausch mit den anderen Teilnehmenden können in Bezug auf die Artefakte auch schwierige Gefühle zum Ausdruck gebracht werden. Auf diese Weise kann ein Resonanzraum entstehen.

Immer wieder wurde der konkrete Raum (sei es der Workshopraum, die eigene Wohnung oder der Ausstellungsraum) und seine Wirkung explizit zum Thema gemacht: Bereits in den ersten beiden Präsenztreffen, die noch möglich waren, ging es um das Positionieren und Umpositionieren der von den Teilnehmenden zum Thema Einsamkeit kreierten Artefakte im Raum. Im Zentrum stand laut Maciol die Aufgabe, performativ zu erkunden: „Was bedeutet das, wenn ich etwas platziere?“ Bei der Aktion des Platzierens und des In-Relation-Setzen des eigenen Artefakts mit anderen im Raum konnten die Teilnehmenden erfahren, so Nora Mira Maciol, dass es dabei auch „um ein Wort und eine Bewegung“ gehen könne: „Immer, wenn ich etwas platziere, hat das etwas mit der Umgebung zu tun.“  

  • Mediale Subjektpositionen

Durch die Vielzahl der gewählten medialen Kanäle eröffneten sich den Teilnehmenden entsprechend diverse Subjektpositionen, die sie einnehmen konnten: Von der Subjektposition der Dichterin, über die der bildenden Künstlerin bis hin zur Rolle der Performenden – konnten die Teilnehmenden mit den jeweiligen Rollen experimentieren und sie schließlich auch in einer performativen Ausstellung vor Publikum aufführen.

  • Heterotopisch-Kritischer Reflektionsraum: „Ageing trouble“

Ein Projekt-Blog informierte in Echtzeit über den kreativen Prozess im Projektverlauf. Am Ende des Projekts stand eine performative Ausstellung, in der die Ergebnisse präsentiert, platziert und von den Teilnehmenden performt wurden. Die Performance eröffnete einen Raum, in dem neben der Problematik der Einsamkeit und des Alleinseins in der Pandemie auch Corona-Hygienemaßnahmen wie zum Beispiel einen den Publikumszutritt regulierenden Nummernspender oder das Wegeleitsystem für ein besseres Abstandhalten zum Bestandteil der Inszenierung und der Ausstellung gemacht wurde. Auf diese Weise gelang es, den großen Einfluss auszustellen, den die Schutzmaßnahmen auf das kulturgeragogische Projekt zum Thema Einsamkeit und die in seinem Rahmen entstandenen künstlerischen Artefakte hatte, sie aber auch – ganz im heterotopischen Sinne – performativ aufzugreifen, in der Inszenierung zu zitieren und auf diese Weise in das Publikum zurückzuspiegeln. 

Schlussbetrachtungen

Die künstlerisch-kulturgeragogischen Interventionen haben Brücken und Kanäle kreativer medialer Kommunikation geschaffen, die den beteiligten älteren Menschen auch während des Lockdowns kulturelle Teilhabe ermöglicht haben. Sie haben erste Wege gefunden, um die gebotene physische Distanz zu wahren und dabei mit unterschiedlichen medialen Kanälen zu experimentieren, die die Distanz überbrücken. Die Ergebnisse stützen die Hypothese, dass Projekte kultureller Altersbildung auch mit Nutzung von Tertiär- und Quartärmedien – d.h. entgegen der Skepsis Hartmut Rosas gegenüber dem Resonanzpotential eines digitalen oder „bildschirmvermittelten Weltbezugs“ (Rosa 2019:158) – Resonanzräume bilden konnten, in denen auch herausfordernde Gefühle, Beziehungen und Situationen in ästhetisch-symbolischer Vermittlung zum Ausdruck gebracht werden konnten, auf die das Publikum zumindest bei den beobachteten Aufführungen, emotional berührt antwortete (Haller i.D.). Doch um diese Hypothese tatsächlich überprüfen zu können, bedarf es weitergehender Forschung, die auch Interviews mit den Teilnehmenden und dem Publikum umfassen würde.

In den Projekten wurde den beteiligten älteren Menschen die Einnahme von Subjektpositionen ermöglicht, die das in Zeiten von Corona dominierende stereotype Altersdispositiv zumindest im Kontext der einzelnen Projekte konterkariert und unterlaufen haben.

Meine Analyse stützt auch die Hypothese, dass durch die Projekte heterotopische Räume gebildet wurden, die ganz im Sinne Foucaults als zu kritischer Reflektion anregende Spiegel dienen können, in denen man in Echtzeit verfolgen konnte, wie sie den aktuellen Prozess der Neuvermessung räumlicher Altersgrenzen und diskursiver Altersstereotype gleichzeitig aus- und aufführen. Auch wenn es verlockend wäre, so ist es dennoch verfrüht, aus den wenigen hier analysierten Projekten Ansatzpunkte für eine heterotopologische geragogische Medienkompetenzförderung (vgl. Kleiner 2006:340ff.) abzuleiten, in der es nicht nur um mediale „Bedienkompetenz“,  „Gestaltungskompetenz“ und „Orientierungskompetenz“ (BMFSFJ 2020:109) geht, sondern in der performative Strategien der Neueinschreibung von stereotypen Subjektpositionen des Alters diskutiert, vermittelt, erprobt und kreativ weiterentwickelt werden – sozusagen eine „Ageing trouble“-Kompetenz. Eine umfassendere wissenschaftliche Erschließung des methodischen Werkzeugkastens, den die Kulturgeragogik für eine solche „Ageing trouble“-Kompetenz zur Verfügung hat, ist ein Desiderat, das auch für die allgemeine Geragogik, die Medienpädagogik, die Erwachsenenbildung und die intergenerationelle Kulturelle Bildung von Interesse sein dürfte.

Dabei warne ich – nicht zuletzt mich selbst – vor der Versuchung, Projekte kultureller Altersbildung unhinterfragt zum heterotopischen Gegenraum zu stilisieren. Allzu leicht werden Kunsträume und ästhetische Räume im pädagogischen Diskurs als „immer auch (gewollt) verstörende Räume, Gebiete der Provokation, Streiträume oder eben Heterotopien“ angesehen, die „neben den dekorativen, expressiven und legitimatorischen Ansprüchen“ einen „geradezu institutionalisierte[n] Anspruch auf Irritation“ erheben (Bilstein 2018:148). Stattdessen gilt es, sowohl in der wissenschaftlichen Analyse als auch in der kulturgeragogischen Praxis eine selbstkritische Haltung zu entwickeln, das heterotopische Potential künstlerisch-kulturgeragogischer Projekte in Frage zu stellen und zu überprüfen, inwiefern in ihnen die jeweils diskursiv dominierenden Subjektpositionen für ältere Menschen doch nur einmal mehr affirmativ und unproblematisiert bestätigt werden. Im besten Sinne heterotopisch wären Räume Kultureller Bildung (nicht nur) im Alter dann, wenn es in ihnen gelingt, sich selbst den Spiegel vorzuhalten und in diesem Spiegelraum den Zusammenhang von Kultureller Bildung, Ästhetik, Digitalität und Macht immer wieder aufs Neue selbstkritisch zu reflektieren.