Handlungsmacht und Handlungsverantwortung. Kulturelle Bildung in ländlichen Räumen

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von Saskia Bender, Nils Rennebach

Erscheinungsjahr: 2022

Peer Reviewed

Abstract

Mit Handlungsverantwortung im Feld der Kulturellen Bildung ist neuerdings auch die Verantwortung gegenüber ländlichen Räumen gemeint, welche v.a. von der Ausdünnung der Kultur- und Bildungsangebote und damit von Ungleichheit betroffen zu sein scheinen. Diesbezüglich verspricht die Kulturelle Bildung(-spraxis) einerseits, zu einer Annahme und Inwertsetzung diverser ländlicher Kulturen und Bildungsstrategien beizutragen und damit gesellschaftliche Teilhabe zu unterstützen. Allerdings steht Kulturelle Bildung andererseits auch unter dem Verdacht, bestehende Differenzen zu stabilisieren und über die Bewegung (vom Zentrum) in das Land hinein koloniale Perspektivierungen aufzurufen. Der Beitrag präsentiert Ergebnisse aus einem Forschungsprojekt zu „Passungsverhältnissen Kultureller Bildung zu Kultur(en) in ländlichen Räumen“, gefördert mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung im Förderschwerpunkt „Forschung zur Kulturellen Bildung in ländlichen Räumen“. Die Analysen verweisen darauf, dass eine Kulturelle Bildung(-spraxis) – nicht nur in ländlichen Räumen – in nicht zu vermeidenden konflikthaften und machtvollen Handlungspraktiken situiert ist. Andererseits scheint sie genau darüber jener Integration durch Vielfalt zuzuarbeiten, die das ureigene Projekt des demokratischen Zeitalters ist. 

Mit Handlungsverantwortung ist neuerdings auch die Verantwortung gegenüber ländlichen Räumen gemeint. Für viele der als ländlich, peripher und sehr peripher gekennzeichneten Regionen scheint sich „[mit] dem Größenwachstum der Betriebe, der Kapitalintensivierung und der raumplanerischen Verlagerung in den Außenbereich der Gemarkung“ (Hahne 2019:12) die Frage nach ihrer ökonomischen Basis zu stellen. Eine weitere Folge ist die bislang nur leicht rückläufige Abwanderung insbesondere der jungen Bevölkerung. Daraus resultieren u.a. der Rückbau des öffentlichen Nahverkehrs, Schließungen von lokalen Einkaufsmöglichkeiten, der Rückgang von Angeboten in Einzelhandel und Gastronomie sowie allem voran die Ausdünnung von Kultur- und Bildungsangeboten. Die ländlichen Räume erscheinen in vielen anschließenden Deutungen also buchstäblich als verbindungslos zu dem, was die fortschreitende Moderne offeriert. Der Gedanke liegt nahe, dass die Bevölkerung dies als fehlende Sichtbarkeit und Anerkennung dechiffrieren würde (vgl. Deppisch 2019). Nicht zuletzt entstünde, so Deppisch, daraus eine Distanz und auch ein Misstrauen gegenüber denjenigen, die mehr von den Möglichkeiten des demokratischen Zeitalters (Flügel-Martinsen 2020) profitieren bzw. dieses gar repräsentieren. Folgerichtig reagiert diese demokratische Gesellschaft mit der Intention, einen Ausgleich zu schaffen.

Einen wichtigen Teil dieser Strategie bildet gegenwärtig die Unterstützung und Förderung von Angeboten Kultureller Bildung. Dabei ist in der Problemdeutung wie auch in der Verantwortungsübernahme die Spannung zwischen Zentrum und Peripherie enthalten. Darauf verweisen bereits bei oberflächlichem Blick viele Bezeichnungen entsprechender Programme und Initiativen. So gibt es z.B. „Pioniere“ – junge Kreative aus den Großstädten, die in schrumpfende Regionen geholt werden (Wolter et al. 2018) , Versuche, die „Kulturperlen“ im Land zu finden und zu stärken (Wolf 2018 kubi-online https://www.kubi-online.de/artikel/vier-flaechenlaender-blick-strategien-programme-kultur-bildung), und ein diese Initiativen abbildender Themenschwerpunkt der Wissensplattform Kulturelle Bildung Online betitelt den entsprechenden Einführungstext „Land in Sicht!?“ (https://www.kubi-online.de/themenfeld/laendliche-raeume). Die Beteiligung der Bewohner*innen und Akteur*innen vor Ort wird in allen diesen Programmen und Ansätzen angestrebt, dennoch scheint die gute Absicht der Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse kulturtheoretisch auch mit einem Spannungsverhältnis von Kultur haben und (noch) nicht haben, mit einer Konstitution von Gebenden und Nehmenden verbunden zu sein. Insofern liegt es nahe, in der Handlungsverantwortung für ländliche Räume mehr zu sehen als eine Erweiterung von Teilhabemöglichkeiten: Offenbar steht – für beide Seiten – mehr auf dem Spiel.

Der Beitrag präsentiert Ergebnisse aus dem vom BMBF geförderten Projekt „Passungsverhältnis Kultureller Bildung zu Kultur(en) in ländlichen Räumen“. Dieses ist ein Teilprojekt des Verbundvorhabens „Passungskonstellationen Kultureller Bildung zu Kultur(en) in ländlichen Räumen im Kontext sozialer Teilhabe“ (PaKKT), das an den Universitäten Bielefeld und Leipzig durchgeführt wird. Zu Beginn der Ausführungen richtet sich der Blick auf die Ausgangsüberlegungen des Vorhabens. Es folgen Informationen zur empirischen Anlage und schließlich eine Kurzdarstellung der Ergebnisse aus bislang drei Erhebungsregionen. Der Abschluss besteht in einer Ergebniszusammenfassung aus zwei Perspektiven. Über strukturtheoretische und hegemonietheoretische Rahmungen wird versucht, auf die Frage „Was tun?“ zuzugehen: Wie ist das Verhältnis von ländlichen Regionen zu einer kulturellen Bildungspraxis tiefenstrukturell ausgeformt? Welche unterschiedlichen Passungsverhältnisse lassen sich darüber hinaus womöglich für differente regionale Einflussstrukturen (Stile) beschreiben? Was bedeutet dies für die Anschluss- und Handlungsmöglichkeiten einer kulturellen Bildungspraxis?

Ausgangspunkt: Kulturelle Bildung als Teil etablierter Kultur?

Bereits vor einiger Zeit hat Gabriele Weiß darauf hingewiesen, dass es sich bei Kultureller Bildung um einen Containerbegriff zu handeln scheint. Die konstatierte Unbestimmtheit trifft schon im Einzelnen auf die Elemente Kultur und Bildung zu und steigert sich in Unbestimmtheit und Diffusität in deren Verknüpfung (vgl. Bender/Lambrecht 2020): Containerbegriffe „bestimmen ein Phänomen, bleiben aber mit der Bestimmung unklar, breit, abstrakt und somit wiederum unbestimmt“ (Weiß 2007:13). Was bleibt, ist ein loser Verweis auf eine moderne Imagination des Guten (vgl. Bender/Lambrecht 2020), die aber spätestens dann, wenn mit bester Absicht Aussagen getroffen werden wie: „Auch Sportvereine sind Akteur*innen Kultureller Bildung“, nicht mehr konkretisiert werden kann.

Dennoch ist diese Unbestimmtheit zunächst nur ein Aspekt der Dynamiken im Feld Kultureller Bildung. Ergänzend haben z.B. die Arbeiten zu den Beharrungskräften sozialer Milieus anschaulich gezeigt, dass Kultur und Bildung – im Gegensatz zu der häufig erhofften Herstellung von Distanz zur Lebenswirklichkeit, die Freiheitsmöglichkeiten eröffnen soll – v.a. auch zentrale Elemente distinktiver Praktiken sind, die gerade Ungleichheiten und Differenz stabilisieren. Diese Arbeiten beschreiben soziale Milieus als Ausdruck sedimentierter Präferenzstrukturen und Handlungsroutinen (Bauer/Bittlingmeyer 2006:214). Zwischen diesen milieuspezifischen Praktiken bestehen an sich keine qualitativen Unterschiede – so die These im Anschluss an die Studie von Michael Vester et al. (2001). Diese sind zwar different, aber die Praktiken „von benachteiligten Gruppen“ sind „sozial sinnhaft“ und weisen dasselbe „Maß an Handlungskomplexität“ aus, „wie dies für die mittlerweile gängigeren schulbildungsaspirativen“ Strategien gilt (ebd.:218): Differente Freizeitgestaltungen wie „Bergsteigen, die Teilnahme an Motorradrennen, das Lesen von Arztromanen, der Konsum von Dauerwerbesendungen im Fernsehen, ein Familienausflug mit dem Fahrrad, der Besuch von Theaterveranstaltungen usw.“ können dementsprechend „gleiche Dignität beanspruchen“ (ebd.:223). Die Betonung von besonderen kulturellen Praxisformen rückt damit in erster Linie als „Inwertsetzung von Herrschaft in den Blick“ (ebd.). Durchaus kann gefragt werden, ob die Ausweitung Kultureller Bildung auf ganz diverse Praktiken nicht einer solchen Inwertsetzung differenter kultureller und bildungsbezogener Praktiken nachkommt und welchen Angeboten Kultureller Bildung es in der Folge besser gelingt, in dem konkreten Bezug auf ländliche Räume und die dortigen Akteur*innen die entsprechenden Erfahrungen von Annahme, Akzeptanz und Investition hervorzurufen.

Ein diesbezüglich skeptischer Aspekt fädelt sich hier allerdings über die Arbeiten im Umfeld der Hegemonie- und der radikalen Demokratietheorien ein. Diese stellen eine harmonische Versöhnung der Gesellschaft über gemeinsam geteilte Werte und Ideale oder anzuerkennende Grundstrukturen grundsätzlich infrage (Comtesse/Flügel-Martinsen/Martinsen/Nonhoff 2020). Stattdessen sei jede gesellschaftliche Ordnung von bestimmten Dominanzen geprägt. Sozialität kann sich aus diesem Grund nicht jenseits von Machtförmigkeit konstituieren. Damit äußert sich insgesamt eine Relativierung der kulturellen Dominanz bestimmter sozialer Ordnungen. Der Bezug auf Bildung, die Idee der individualisierten Subjektivierung, der kreative Ausdruck sowie der Wert von Freiheit und Autonomie erscheinen so als Teil eben einer ganz spezifischen sozialen Ordnung: Beispielsweise ist die „Autonomisierung gewisser Sphären […] nicht der notwendige strukturelle Effekt von irgendetwas, sondern vielmehr das Resultat präziser artikulatorischer Praxen, die diese Autonomie konstruieren. Autonomie, weit davon entfernt, unvereinbar mit Hegemonie zu sein, ist eine Form hegemonialer Konstruktion“ (Laclau/Mouffe 2020:179).

Hegemoniale Ordnungen sind jedoch nicht beliebig, sondern entstehen auf dem Boden bestehender Machtgefüge, in welchen „bestimmte soziale Kräfte ihre Forderungen kraftvoller artikulieren können als andere“ (Nonhoff 2019:549). Entsprechende Dominanzen verlaufen als Kampf um Hegemonie über hegemoniale Operationen – v.a. als Entstehung und kulturelle Positionierung bestimmter Artikulationsketten. Diese bestehen aus bestimmten Argumentationsmustern und Begründungsfiguren und verknüpfen sich mit spezifischen Imaginationen, Metaphern, Bildern etc. zu diskursiven Formationen. Artikulatorische Knotenpunkte sind dementsprechend privilegierte Elemente, die eine Bedeutungskette partiell fixieren (vgl. Amri-Henkel 2021:51): „In jedem Fall geht mit der Konstruktion von Äquivalenzketten eine antagonistische Zweiteilung des diskursiv-sozialen Raums einher: dort das Andere, welches das Gemeinwohl verhindert; hier die Forderungen, die gemeinsam auf die Herstellung einer besseren Ordnung abzielen.“ (Nonhoff 2019:548) Für diese Äquivalenzketten konstituieren sich schließlich spezifische Repräsentanten. Dies sind z.B. Namen oder bestimmte Begriffe, die für die Erfüllung der mit dem dominanten Diskurs verknüpften Hoffnungen, Ziele und Versprechen stehen. Diese Knotenpunkte müssen in einem heterogenen gesellschaftlichen Bedingungsgefüge jedoch in der Lage sein, konstitutive Antagonismen zu überbrücken. Aus diesem Grund sind eben diese Signifikanten, die dies leisten, ihrer konkreten „partikularen Verweisungsfunktion (großteils) entleert“ (ebd.:549). Ernesto Laclau (1996) spricht hier von tendenziell leeren Signifikanten. Aus hegemonietheoretischer Perspektive hat Kulturelle Bildung also durchaus Nähen zu dem, was Laclau als leere Signifikante bezeichnet (vgl. Bender/Lambrecht 2020).

Diese theoretischen Vorüberlegungen betten die empirischen Analysen der Studie weiter ein. In einem Kampf um bereits etablierte Artikulationsketten und um die Aufrechterhaltung von Ordnung stünde demnach Kulturelle Bildung unter dem Verdacht, bestehende Differenzen zu stabilisieren und über die Bewegung in das Land hinein – wie es sich in den eingangs zitierten Programmen und Initiativen zum Teil andeutet – koloniale Perspektivierungen aufzurufen. Auf der anderen Seite steht aber auch das Versprechen der Annahme und Inwertsetzung ländlich diverser Kulturen und Bildungsstrategien.

Anlage des Forschungsprojekts

Konkret wurden im Teilprojekt Gruppendiskussionen in vier kontrastiven ländlichen Regionen geführt. Diese lagen im westlichen Süden, in der nördlichen Mitte und im Osten Deutschlands. Es sind jeweils Regionen, in denen Projekte Kultureller Bildung in der öffentlichen Wahrnehmung gelingend durchgeführt werden. Eingeladen waren heterogene Akteur*innen aus den Kulturvereinen und -pro­jekten, Verwaltungsmitarbeiter*innen, aber auch regionale Künstler*innen, Besucher*innen, Bürgermeister*innen, Mitglieder anderer Vereine, Mitwirkende und Mitspielende etc.

Gespräche fanden einmal während einer Ausstellungseröffnung und einmal nach einer Theateraufführung statt, in die jeweils regionale Akteur*innen aktiv eingebunden waren. Eine Gruppendiskussion wurde hingegen aufgrund der Bedingungen der Corona-Pandemie online ohne Anschluss an ein aktuelles Projekt durchgeführt. Die Gesprächsimpulse waren offen auf kulturelle Teilhabe und Kulturelle Bildung in ländlichen Regionen bezogen.

Zum Einstieg in die jeweilige Gruppendiskussion wurde ein Werk lokal verbundener Künstler*innen gezeigt sowie ein Motiv aus der Region. Die Teilnehmenden waren zunächst darum gebeten worden, sich auf dieses zu beziehen. Der vorformulierte Einstiegsimpuls lautete: „Für den Einstieg habe ich ein Kunstwerk ausgewählt und möchte Sie bitten, sich dieses anzuschauen und zu erzählen, was Ihnen spontan einfällt, wenn Sie es betrachten“. Die Gespräche dauerten jeweils ca. 1,5 Stunden. Sie wurden aufgezeichnet, transkribiert und strukturrekonstruktiv mittels der objektiven Hermeneutik (Wernet 2021) ausgewertet. Ausschnitte aus den Gruppendiskussionen aus drei Erhebungsregionen, die kontrastive Varianten und Gemeinsamkeiten innerhalb des Samples bereits gut darstellen, dienen im Folgenden dazu, die Rekonstruktionen zu den ländlichen Räumen zusammenfassend vorzustellen.

Zum Verhältnis von Region zu Angeboten Kultureller Bildung(-spraxis)

Ein zentrales Ergebnis der bisherigen Analysen wird direkt jeweils zu Beginn mit den ersten Bezugnahmen der Beteiligten auf den Stimulus deutlich: In allen drei Materialien zeigt sich in den jeweils eröffnenden Aussagen der Teilnehmer*innen eine strukturelle Abwehr des geforderten Bezugs auf jene Formen künstlerischen Ausdrucks. Dies gilt, obwohl es sich in allen Fällen um freiwillige Teilnahmen handelt und die überwiegende Zahl der Teilnehmenden über eine Nähe zu, ein Interesse an oder gar ihre Aktivität in Projekten und Angeboten Kultureller Bildung in den jeweiligen Regionen gewonnen wurden.

In Region A eröffnete ein ehemaliger Bürgermeister und ehrenamtlich engagierter Pensionär mit der Aussage „ja↓ hhh° (1.1) <<schneller> URLAUB (-) an urlaub tu ick da denken> (-) mittelmeer↓“. Er wählt damit das Setting insgesamt ab, indem er nicht nur nicht über das Bild an sich, sondern auch nicht über die Region und deren Spezifik spricht bzw. auch nichts einbringt, was zur aufgerufenen Thematik in einer Beziehung stünde. In Region C findet sich mit der folgenden Eröffnung durch ein Vereinsmitglied eines Theaterprojekts eine strukturell ähnliche Positionierung: „was war jetzt die frage↑ entschuldigung ((Lachen im Hintergrund)) <<leiser> ich habe das akustisch> ich hab das [AKUSTISCH]“. Das leicht provokative Nichtverstehen der Adressierung dient nicht dem Austausch mit den Forschenden, sondern der Gruppe zur Vergemeinschaftung. Schließlich äußert sich die erste Teilnehmerin in Region B, eine Pädagogin aus dem Bereich Kinder- und Jugendfreizeiten über eine individuelle Distanzierung „is nich mein bild ((lacht))“.

Da sich dieses Moment also über Regionen hinweg zeigt, liegt es nahe, dass der initiale Sprechakt das regionale Hausrecht markiert. Es geht hier strukturell also in erster Linie um eine Solidarisierung nach innen hinsichtlich der Gruppe oder eben der Region, bevor mit einem Außen – hier repräsentiert über den Interviewer – kooperiert werden kann, womit tiefenstrukturell auf die Differenz intern regionaler und externer Repräsentanz verwiesen ist. Entgegen der möglichen Vermutung, in den ländlichen Regionen sei eine positive Resonanz auf entsprechende Initiativen im Feld von Kultur und Bildung zu erwarten, findet sich zunächst ein Ausdruck von Region, der sich in einer Abgrenzungsbewegung zeigt und konstituiert. Alle Regionen weisen ergänzend aber auch regionsspezifische Prägungen (Stile) auf, die wir im Anschluss an Thomas Loer (2007) als regionale Einflussstrukturen bezeichnen und die im Folgenden weiter ausdifferenziert werden sollen.

Zur Ausdifferenzierung regionaler Einflussstrukturen als Passungsverhältnisse von Kultureller Bildung zu Kultur(en) in ländlichen Räumen

Die Erhebungsregion A liegt im Osten Deutschlands und ist ca. 50 Kilometer von der nächsten Großstadt entfernt. Das Dorf, in dem der Ausgangspunkt – ein Kulturverein – angesiedelt ist, entwickelte sich ab dem 14. Jahrhundert zunächst als zu einem Gutshof gehörende Ansiedlung. Das Gut erlebte wechselnde Besitzer und gehörte nach Gründung der DDR zu einer großen Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft. Die Räume des Anwesens selbst wurden von Bildungseinrichtungen und immer schon für kulturelle Angebote genutzt. Es war schließlich Teil eines volkskundlichen Museums und beherbergt heute den neuen Kulturverein – dort fand auch die Erhebung statt. Insgesamt haben zehn regionale Akteur*innen aus dem Ort, der Kleinstadt sowie aus der weiteren Region an der Gruppendiskussion teilgenommen.

Auf den bereits gezeigten Einstieg folgen Bezugnahmen auf die Geschichte des Ortes und die Geschichte des Kulturvereins, der das alte Anwesen wiederbelebt habe. Daran schließt der Interviewer eine Frage an diejenigen an, die sich noch nicht beteiligt haben.

I:        (-) <<schneller>nehmen sie das> (-) AUCH so wahr (--) <<schneller>oder (.) hat sich da vielleicht sogar was verÄNdert>↑

MD:   ((räuspert sich)) <<schneller>also ick nehm det schon so wahr weil ick bin ja hier UFFGEWACHSEN (.) und jenau wie ick jetz sitze hab ick als kind schon hier=jeSESSEN> (-) in=ner SCHULE war=n=wir im schulraum und ähm (-) dann (.) ja (.) nach=der wende war hier (.) tot also nix mehr und als (et) denn <<schneller> so langsam wieder ÖFFNETE> (.) HANDWERKERTACH und=so <<schneller> hieß=et immer die [Dorf A1]er> kommen ja NICH (1.5) NÖ (.) WARUM↑ […]

I:        h=hm (3.2) herr fischer kann=ich sie vielleicht (.) direkt ansprechen also wenn=sie als KÜNSTLER [Funktion] des (-) [Theater A1] wenn sie=sowas hör=n wie wirkt (.) wie fühlen sie=sich (.) also (-) für wen MACHEN sie=also (.) wer ist publiKUM oder neh- nehmen=sie das dann auch WAHR mit leuten die=dann eben da partizipieren an angeboten oder (1.6) wenn=[ich das so=direkt nachFRAGEN-]

HF:    [naja ich gehör ja auch zu den NEU] ÄH [SIEDLERN]

MH:   [<<lachend>Neusiedler>] ja also ((mehrere lachen))

HF:    das is=n (1.8) TOLLER begRIFF also=das würd=ich (--) °h <<lauter>durchaus AKZEPTIEREN> ((räuspern)) (1.6) naja man=schafft verBINDUNGEN zu menschen wenn=man was TUT also (-) durch=die TÄTIGKEIT und ((durchatmen, 3.1)) die bringen dann äh vielleicht=auch ne qualität herVOR

Auf die Frage des Interviewers antwortet nun Marie Dresing (MD), eine Naturpädagogin, die inzwischen wieder in ihrer Heimatregion wohnt. Insbesondere die Aussage „wie ick jetz sitze hab ick als kind schon hier=jeSESSEN“ validiert hier eine Fallstruktur des Nicht-Bewegens und der Negation aus Prinzip. Diese erweist sich im weiteren Fortgang durch das Material als spezifisch für die regionale Einflussstruktur, womit die These zum Eröffnungssprechakt bestätigt, aber auch konkretisiert werden kann. Die regionale Einflussstruktur positioniert sich im Kern abwehrend gegenüber einem Außen, das auch die Kulturelle Bildung(-spraxis) einschließt.

Schließlich wird etwas später noch ein aktiver Theatermacher der Region, Hauke Fischer (HF), angesprochen, wie das für ihn wäre, dass viele der Kultur noch ablehnend gegenüberstünden, andererseits aber auch Akteur*innen viel daran gelegen sei, diese weiter auszubauen. Auffällig ist hier, dass sich Herr Fischer offensiv als Neu-Siedler begreifen will. Er strebt keine Assimilation an das Regionale an, und dies, obwohl Marcel Heinemann (MH) eigentlich versucht, ihm diese Position lachend abzusprechen, um ihn darüber in das Regionale zu integrieren. Dies bedeutet auch, dass der Andere in dieser regionalen Einflussstruktur kaum als Anderer adressiert werden kann. Allerdings geht Herr Fischer darauf nicht ein, wenngleich das eigentliche Tun von ihm inhaltlich auch nicht weiter gefüllt wird. An die Stelle rückt eher eine Netzwerkgeste (vgl. für eine ausführlichere Rekonstruktion dieses Falls Bender/Lambrecht/Rennebach 2022). Diese gewollte Unverbundenheit entwirft Kulturelle Bildung sozusagen als imaginären (leeren) Ort außerhalb der ansonsten dominanten regionalen Einflussstruktur.

Erhebungsregion C liegt ebenfalls im Osten Deutschlands und war bereits vor der Wende als Urlaubsregion bekannt und beliebt, was sie nicht zuletzt ihrer Naturlandschaft verdankt. Das Theaterprojekt, das der Grund für die Auswahl genau dieser Region gewesen ist, wurde dort gezielt als Reaktion auf sehr hohe Wahlergebnisse für rechte und rechtsextremistische Parteien etabliert und auch entsprechend öffentlich gefördert. Die Aufführungen wurden erst in Zusammenarbeit mit dem Theater der nächstgelegenen Großstadt und auch einigen Schauspieler*innen des dortigen Ensembles durchgeführt. Den Verein gibt es inzwischen allerdings seit mehr als zehn Jahren und er wird vor Ort von Aktiven getragen. Nach wie vor begleitet ein externer Regisseur die Inszenierungen. Wenige professionelle Schauspieler*innen unterstützen die Mitspielenden, die hauptsächlich aus der Region, aber vereinzelt auch aus der nächsten Großstadt kommen. Hier haben an der Gruppendiskussion ausschließlich Mitglieder des Vereins teilgenommen.

PM:    was war jetzt die frage↑ entschuldigung ((Lachen im Hintergrund)) <<leiser>ich habe das akustisch> ich hab das [AKUSTISCH]

SH:    [ASSOZIATIONEN] zu diesem BILD

PM:    was ich damit verbinde sozusagen

I:         genau=genau

GP:    also ICH verbinde damit (--) unsere ERSTE produkTION nämlich mit dem [Staatstheater C1] (-) [Name Theaterstück] und GENAU dieses bild hatten wir als großFLÄCHIGES °h bild da STEHEN UND (--) ja es IS (--) gehört zu unserer reGION das [Wanderweg C1] ist dort mit abgebildet und °h  die wir dort gemacht haben [das war einzigartig] immer wenn ich=s SEHE denke ich an die WUNDERSCHÖNE vorstellung

TM:    [es WURDE] eigentlich im gesamten STÜCK nach diesem WERK geSUCHT (-) ähm also während der vorstellung also ne↑ <<leiser> diesen diesen>

GP:    fast (5,1)

SH:    und °hhh hab DANN eben AUCH festGESTELLT dass jetzt diese GANZE [Laientheater]geschichte und gruppe und leute DASS DES (-) äh w- äh für MICH dazu sehr beigetragen hat dass ich °hh jetz in [Kleinstadt C1] halt heim dass das jetz meine heimat is und ich mich hier wohlfühle […]

Nach der bereits gezeigten Zurückweisung des Fremden auch als Versuch der Konstitution der Gruppe im Innern durch den Bankangestellten Peter Manner (PM) erfolgt eine vermittelnde Einbettung und die Wieder-Einrichtung eines Arbeitsbündnisses durch die Frührentnerin Sabine Herald (SH), woraufhin die pädagogische Mitarbeiterin und Vorstandsmitglied des Vereins Gerda Pflug (GP) dann mit einer Bezugnahme auf den Impuls einsteigt bzw. einsteigen kann. In der ersten Aufführung war (für die Forscher*innengruppe ein Zufall) eben dieses gezeigte Werk ein wesentliches Element. Dabei wird dies unproblematisch dem Regionalen zugeschlagen „ja es IS (--) gehört zu unserer reGION“, die künstlerische Auseinandersetzung damit im Theaterstück aber romantisierend schwärmerisch gerahmt, was diese sozusagen all jenen modernen Ansprüchen einer individuellen kritischen Auseinandersetzung, der Distanznahme zur Lebenswirklichkeit der Entwicklung und Bildung etc. entkleidet: „immer wenn ich=s SEHE denke ich an die WUNDERSCHÖNE vorstellung“. Dies wird dann auch im Folgenden prompt von einem weiteren Mitglied der Theatergruppe korrigiert – bei dem es sich um einen professionellen Schauspieler, Herrn Maler (TM) handelt, der nun noch einmal den künstlerisch offenen Zugriff auf das Werk zum Ausdruck bringt „[es WURDE] eigentlich im gesamten STÜCK nach diesem WERK geSUCHT“, was Frau Pflug aber direkt wieder eingrenzt: „fast“.

Auch diese Gruppe grenzt sich also deutlich gegenüber dem Interviewer ab, der für das Thema Kulturelle Bildung – vermittelt über den Impuls eines regional sehr berühmten Bildes – steht. Manifest überraschend ist dies, da das Bild von der Gruppe selbst bereits in das Zentrum ihrer Arbeit gestellt wurde. Der daran anschließende Bezug zum Regionalen kann jedoch, im Kontrast zur regionalen Einflussstruktur A, über spezifische Güter, Bilder, Wanderwege und besondere Erfahrungen positiv gefüllt werden. Dennoch zeigen sich hier deutlich differente Bezugnahmen und Deutungen der Praxis, die sozusagen in der Situation in Ansätzen aufflackern, aber nicht offen bearbeitet werden. Die Kohärenz der Gruppe ist so eigentlich nicht gegeben. An diese Stelle rücken höchst diverse Motive des Mitmachens – wie z.B. bei Sabine Herald (SH), die sich aufgrund der Theatergruppe in der Region beheimatet fühlt.

Zugleich scheint die Gruppe aber auch nur als solche zu funktionieren, solange diese Differenzen – also der Kampf gegen rechts versus jene romantische Schwärmerei für die Region, die Suche nach der Integration ins Regionale versus jener Versuch der Etablierung künstlerischer Weltzugänge – nicht manifest werden oder zumindest nicht offen ausgetragen werden. Der über das Projekt als Teil einer Kulturellen Bildung(-spraxis) repräsentierte kulturelle Stil des Theaters irritiert das Regionale sowie auch eine Positionierung konkreter Akteur*innen zu diesem insofern nicht direkt, denn Verschiedenheit wird nicht offen thematisiert.

Zur Validierung dieser These lohnt ein Blick auf zwei ergänzende Aussagen aus dem Leipziger Teilprojekt (s.o.), in dem Interviews mit differenten regionalen Akteur*innen geführt wurden. So bringt v.a. der Bürgermeister der Gemeinde markant zum Ausdruck, dass das Theaterprojekt nicht im Sinne einer Transformation oder Inwertsetzung in das Innere der regionalen Einflussstruktur hineinwirkt: „das was mit dem [Theater] hier geboten wird, das ist letztendlich so mittlerweile ein Insider (.) äh ich sage mal, -tipp“. Der Verein wird so in der Region sozusagen toleriert, er darf seine Nische besetzen und es werden, wie Peter Manner an späterer Stelle dann betont, „andre BILDER nach außen“ produziert.

Im Kontrast zu den beiden bisherigen Fallbeispielen ist nun in der dritten Erhebungsregion B im ehemaligen Grenzgebiet in Westdeutschland, die für ihre kulturelle und künstlerische Vielfalt bekannt ist, dieser Bezug auf ein regionales Außen komplett getilgt. Interessanterweise zeigen sich zwar ebenfalls Abgrenzungsbewegungen, die allerdings wiederum keinen gemeinsamen Ort oder Raum mehr konstituieren. An die Stelle des Regionalen treten dort singuläre Bezüge auf Kulturelle Bildung.

JM:     h wenn ich weiter machen soll MEINE WEGE führen immer WEITER ÄH da gibt=s kein STOPP (.) und MAUERN erst recht nich ((lacht)) die hatten wa lange genug (-) ((lacht)) (3.0)

EH:    h=hm (2.6)

I:        okay (2.0) ja (.) weitere gedanken

GT:    ja für mich is das auch wie so=n schutzwall ne DRAUßEN is richtig theATER (.) angeSAGT UND ÄH (-) N: <<len>wohl>fühlort (.) vielleicht nicht unbedingt OPTISCH (-) aber draußen scheint es ja ordentlich zu KRACHEN (-) […]

EH:    hh ja: dann mach ich mal weiter [Künstlerin Vor- und Zuname] is ne ganz LIEBE freundin von MIR und ich weiß sie hat einen WUNDERSCHÖNEN GARTEN in [OT Stadt B2] wo sie immer ganz viel MÜHE und zeit damit zubringt ihren RASEN zu mähen °hh und das erste was ich gedacht habe ach das is doch der IDYLLISCHE GARTEN von [Künstlerin Vorname]

AT:      JA also ich hab natürlich (.) gleich erstmal so assoziationen an meine ARBEIT allerdings auch an=s [Region B2] weil ich seh hier nämlich ZWEI ELEMENTE einer ähm [geschichtlichen] kategorie↑ ((Lachen im Hintergrund)) die eben die [Region B2] also die [Siedler] sehr geprägt haben nämlich ich seh ein [Grenz- und Wegbefestigung der Siedler ca. 10. Jhd.] ((Lachen im Hintergrund)) […]

Das Gemeinsame bildet vielmehr diese prekäre Situiertheit des Regionalen und in der Folge eine innere Konkurrenz um Deutungsmacht. Diese scheint allerdings sublimiert in Versuchen individueller (kreativer) Platzierungen. So z.B. bei Gustav Tischer (GT), Geschäftsführer eines mittelständischen Unternehmens und Vereinsvorstand des Schützenvereins, der die Symbolik des Werks in einer funktionalen Abriegelung („schutzwall“) von Nicht-Region verortet, demgegenüber das Werk – dies wird bedauert, aber nicht korrigiert – nichts Eigenes, nichts ästhetisch Ansprechendes oder Heimeliges des Regionalen, eben keinen „wohl>fühlort“ anbietet. Übergreifend sind zudem die subtilen Abwertungen der jeweils Anderen deutlich erkennbar: Wenn Elena Hofmann (EH) als Leiterin eines regionalen Kulturverbands die Künstlerin als leicht zwanghafte Gärtnerin präsentiert, die diese persönliche Symptomatik auch in ihren Bildern zum Ausdruck bringt, dann ist diesen jeder davon losgelöste künstlerische Wert abgesprochen. Zumindest versöhnlich ließe sich dann die trennende Thematisierung Anton Teicherts (AT) einordnen, der als Kunsthistoriker die Region in einem lebensweltlichen Sinn auszusparen vermag. Region als Region wird hierüber jedoch nur in einem abstrakt berufsförmigen Sinn thematisiert, was gleichwohl Irritationen (Lachen) auslöst, vermutlich, weil es die gegenwärtige Kultur ebenso auslässt und darüber delegitimiert.  

Ergebniszusammenfassung aus strukturtheoretischer und aus hegemonietheoretischer Perspektive

Die Ergebnisse lassen in der Zusammenschau ein sich ausdifferenzierendes Bild hinsichtlich des Stabilisierungs- und des Transformationspotenzials von Angeboten Kultureller Bildung(-spraxis) in ländlichen Räumen entstehen. So muss aus einer strukturtheoretischen Perspektive im Grunde klar konstatiert werden, dass Kulturelle Bildung in allen Regionen zunächst als nicht-regional und damit als das Fremde und Andere markiert ist. Das ist insofern interessant, als dass die Konstitution des Fremden sich hier gegen die herrschende Kultur richtet und nicht, wie häufiger gesehen und beschrieben, gegen Andere in einer Eigenschaft als Minderheiten (vgl. Zinn-Thomas 2019:170). Dies kann sich in einer strukturell gut bestimmbaren regionalen Einflussstruktur ausdrücken (Region A), aber auch einfach als deutliche Distanz zwischen den dadurch als different gesetzten kulturellen Artikulationen, die das Regionale gleichsam unberührt lassen (Region C). Überraschend ist, dass auch in Region B, die selbst eine tendenziell moderne und plurale Kultur pflegt, diese Abwehr auftritt – allerdings ähnlich zu der von Reckwitz (2020) konstatierten singulären Distinktion: „Singularitäten sind nichts Vorsoziales, vielmehr bilden sich um sie herum komplizierte singularistische Vergesellschaftungsformen, in denen Einzigartigkeiten hergestellt und beobachtet, valorisiert und angeeignet werden“ (ebd.:429).

Die im Rahmen des Teilprojekts zunächst gestellte Frage nach der Passung zwischen Kultureller Bildung und Kultur(en) in ländlichen Räumen muss also strukturrekonstruktiv prinzipiell mit Nicht-Passung beantwortet werden. Es finden sich Formen von klarer Abwehr, kosmetischer Modernisierung und singulärer Distanzierung. Das bedeutet auch, dass sich die Idee einer Inwertsetzung im Sinne eines harmonischen Zusammenhandelns in den künstlerischen Feldern einer kulturellen Bildungspraxis nicht in dem Sinne einstellt, dass sich hier Dimensionen gegenseitiger Annahme ausbilden oder Unterschiede quasi organisch in gemeinsamen Bildungs- und Entwicklungsdynamiken aufgehen. Bestimmend ist stattdessen eine unausweichliche Auseinandersetzungsaufforderung als Ausdruck eines Einbezogen-Seins in demokratische Prozesse, die sich im Forschungssetting selbst perpetuiert.

Indem die rekonstruktiven Analysen auf die strukturellen Antagonismen kultureller Artikulationen stoßen, werden also vornehmlich die grundlegenden Annahmen der hegemonietheoretischen Arbeiten gestützt, die davon ausgehen, dass soziale Ordnungen strukturell von diversen Unvereinbarkeiten geprägt sind. Die Befunde machen also deutlich, dass das Regionale eine Kandidatenschaft für Konflikt übernimmt. Zugleich heißt dies nicht, dass innerhalb der Regionen Vorstellungen von Gemeinschaft ein empirisches Pendant hätten. Die hegemonietheoretische Perspektive erleichtert damit auch den Abschied von der viel beschworenen, aber letztlich auch bereits verschiedentlich als Imagerie ausgewiesenen Annahme einer Gemeinschaft im Regionalen im Kontrast zu anonymen, funktional differenzierten und segregierten urbanen Räumen: „Die recht verstandene Gemeinschaft ‚ist weder ein herzustellendes Werk, noch eine verlorene Kommunion, sondern [...] Eröffnen eines Raums der Erfahrung des Draußen‘“ (Nancy 1988:45, zit. nach Delitz 2019:336). Die ländlichen Regionen sind als Ordnungen insofern auch selbst von Statusdifferenzen durchzogen, worauf bereits Ilien und Jeggle (1978) in ihrer berühmt gewordenen Studie hingewiesen haben: „ein nach außen hin geradezu organisches Bild […] verdeckt den internen Zustand enormen Druck-Gegendrucks“ (ebd.:161). Insgesamt sind regionale Subjektpositionen und ein daran geknüpfter regionaler Status sowie das regionale Prestige so als ein spezifisches, aber auch historisch relativ stabiles „Mitsammen“ (Badiou 2006) beschreibbar (vgl. Delitz 2019:336).

Interessanterweise ergeben sich jedoch gerade aus einer solchen hegemonietheoretischen Perspektive ergänzende Sichtweisen auf jene auf den ersten Blick ernüchternden Formen der Nicht-Passung: Kulturelle Bildung erscheint auch dann als Teil etablierter Hegemonie und die Region in einer spezifischen Nähe zu herrschaftskritischen Positionen. Aber in dieser Szenerie kann gesagt werden: Kulturelle Bildung bietet – gemäß ihrer Lesbarkeit als leere Signifikante – neue Artikulationselemente an: In Region A als Möglichkeit der Positionierung im Sinne eines imaginär Anderen und in Region C als Ort, der trotz deutlicher interner Differenzen antritt, das Partikulare und damit auch das von dem im engen Sinne Regionalen Abweichende zu integrieren. Nicht jenseits von Konflikt und Konkurrenz (Region B) werden darüber durchaus alternative und differente Subjektpositionen und Artikulationen eröffnet. Becks Hypothese einer Auflösung der Verbindung von Ort und stabilen Formen des „Mitsammens“ im Zuge von Globalisierung und Pluralisierung (Zinn-Thomas 2019:172) wäre damit nicht bestätigt. Dennoch zeigen diese Möglichkeiten für Kulturelle Bildung, dass die Ränder des Regionalen durchaus diffus sind und auch dies sich in einer beständigen Auseinandersetzung mit dem Eigenen und dem Fremden artikulieren muss: „Auch im übermächtigen Schicksalhaften ist es das Fremde, das das ‚Dorf‘ erst als gemeinschaftliches heraus treibt, konstituiert. Die notgedrungene Allianz kann aber sehr schnell wieder verfallen […], wo plötzlich der eigene Dorfgenosse zum ‚Fremden‘, seine ‚Verwandtschaft‘ zum übermächtigen Feind werden konnte“ (Ilien/Jeggle 1978:179).

Was tun?

Für die Frage „Was tun“ hieße dies, dass Handlungsverantwortung ebenfalls nicht jenseits von Handlungsmacht konzipiert werden kann. Der Umstand, dass Kulturelle Bildung(-spraxis) sich demzufolge in konflikthaften und machtvollen Handlungspraktiken bewegt und dabei diffuse und imaginär bleibende Artikulationsangebote macht, wäre dann nicht zu vermeiden oder gar aufzulösen. Zum Teil werden die Differenzen z.B. in Versuchen, sich auf Augenhöhe zu begegnen, nur umso sichtbarer und entlarven diese Gesten als Verdeckung hegemonialer Operationen. Dennoch stellt Kulturelle Bildung, wie gezeigt, alternative Artikulationselemente und Positionierungen zur Verfügung und arbeitet damit genau jener Integration durch Vielfalt zu, die das ureigene Projekt des demokratischen Zeitalters ist. Denn regionale Akteur*innen finden dort auch alternative (imaginäre) Verortungen im Sinne einer strukturell jenseits des Regionalen liegenden und tendenziell singulären stellvertretenden Integration. Lokal erfolgreiche kulturelle Bildungsakteur*innen versuchen, die Antagonismen nicht unnötig herauszutreiben – sie bieten diese alternativen Artikulationselemente eher konsequent an. Diesbezüglich formuliert Chantal Mouffe (2015) bereits aus einer edukativen (und damit gewiss auch normativ hegemonialen) Perspektive: „[D]ie Besonderheit demokratischer Politik liegt nicht in der Überwindung des Wir-Sie-Gegensatzes, sondern in der spezifischen Art und Weise seiner Etablierung“ (ebd.:22).

Verwendete Literatur

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  • Zinn-Thomas, Sabine (2019): Fremdheit im Dorf. In: Nell, Werner/Weiland, Marc (Hrsg.): Dorf. Ein interdisziplinäres Handbuch (167–174). Berlin: Metzler.

Anmerkungen

Das diesem Artikel zugrundeliegende Vorhaben wird mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung unter dem Förderkennzeichen 01JKL1915A im Förderschwerpunkt „Forschung zur Kulturellen Bildung in ländlichen Räumen“ gefördert. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei den Autor*innen.

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Saskia Bender, Nils Rennebach (2022): Handlungsmacht und Handlungsverantwortung. Kulturelle Bildung in ländlichen Räumen. In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE: https://www.kubi-online.de/artikel/handlungsmacht-handlungsverantwortung-kulturelle-bildung-laendlichen-raeumen (letzter Zugriff am 16.07.2024).

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