Häme für Gutmenschen, Verständnis für Wutbürger? Über Diskursabnutzungen, neue Narrative und Potenziale Kultureller Bildung
Abstract
Kann Kulturelle Bildung zu gesellschaftlichem Zusammenhalt beitragen, und wenn ja wie? Ist dieser überhaupt gefährdet, und wenn ja, wodurch? Roy Sommer untersucht aus Sicht der kulturwissenschaftlichen Erzählforschung, wie alte und neue Mythen von der Dolchstoßlegende bis zum Neutralitätsnarrativ sowie Diskursabnutzungen (Gutmenschen vs. Wutbürger) die Spaltung der Gesellschaft vorantreiben. Konstruktive Alternativen zur sogenannten Alternative für Deutschland (AfD) sieht er in zwei Zukunftsnarrativen, die Pluralismus und Vielfalt sowie Freiheit und Demokratie an die erste Stelle stellen: Inklusion und Europäische Integration.
Einleitung
Die Jahrestagung der Wissensplattform Kulturelle Bildung Online am 16. und 17. Mai 2018 hat sich eine äußerst spannende Frage gestellt: „Trägt Kulturelle Bildung wirklich zu mehr ‚Kitt’ und gesellschaftlichem Zusammenhalt bei oder unterstützt der sehr subjektspezifische und emanzipatorische Ansatz der Kulturellen Bildung nicht vielmehr eine kritische Haltung zu kulturellen Identitäten, Symbolen und Werten?“ Nichts ist gefährlicher für eine demokratische Gesellschaft als ein Verzicht auf eine kritische Haltung, die grundsätzlich alles hinterfragen darf, kann und muss, ob in öffentlichen Diskursen (wenn es die Gemeinschaft betrifft) oder in kontinuierlicher Selbstreflexion. Selbstkritik und Gesellschaftskritik in diesem Sinne sind nicht destruktiv, sondern konstruktiv und gerade in einer pluralistischen Gesellschaft unbedingt erforderlich, da auch Grundsätzliches – Werte, Rechte, Freiheiten – immer wieder neu verhandelt, erklärt und begründet werden muss. Die Ausbildung einer kritischen Haltung zu sich selbst und zur Gemeinschaft setzt aber eine Konzeption von Bildung voraus, die das Individuum in den Mittelpunkt stellt, d.h. vom Subjekt ausgeht. Könnte man also die eingangs aufgeworfene Frage nicht einfach mit einem „Ja“ beantworten – Kulturelle Bildung ist der ‚Kitt‘ der Gesellschaft (oder zumindest ein Ansatz, der gesellschaftlicher Spaltung programmatisch entgegenwirken will) – und zur Tagesordnung übergehen?
Ganz so einfach ist die Sache nicht. Auch Bildung, ob Bildung durch Wissenschaft in Humboldts Sinn (vgl. Nünning 2018) oder Kulturelle Bildung, bedarf immer wieder der Begründung, Kritik und Korrektur. Denn zum einen sind die Grenzen zwischen emanzipatorischer Selbstbildung und egozentrischer Selbstoptimierung fließend. Zum anderen sind scheinbar selbstverständliche Ergebnisse der identitätspolitischen Debatten der letzten zwanzig Jahre nicht viel wert, wenn die Realität noch – oder zunehmend wieder – anders aussieht: Wir mögen auf dem Papier Gleichberechtigung und eine multikulturelle Gesellschaft haben, doch in der Praxis verdienen Frauen immer noch weniger und gelangen seltener in Führungspositionen, und dass Europa keine Festung ist, hat sich auch noch nicht bis in die letzten Winkel unserer derzeitigen Parlamente herumgesprochen.
Hinzu kommt, dass uns aus den USA eine neue Debatte erreicht, die grundsätzlich die Frage aufwirft, ob die progressiven, linksliberalen Kräfte in unserer Gesellschaft gut beraten waren, die Kapitalismuskritik zugunsten der Identitätspolitik zu vernachlässigen. Gesellschaftliche Spaltung ist ja nicht nur eine Folge von Rechtsextremismus, sondern auch von sozialer Ungleichheit. Namhafte Gesellschaftskritiker wie Walter Benn Michaels (The Trouble with Diversity: How We Learned to Love Identity and Ignore Inequality [2006]) und Francis Fukuyama (Identity: Contemporary Identity Politics and the Struggle for Recognition [2018]) fordern uns heraus, den Subjektbegriff und seine Stellung im Diskurs zu überdenken.
Dieser Beitrag zur Diskussion über Ziele und Potenziale Kultureller Bildung, eine ausgearbeitete Fassung meines Vortrags zu der eingangs erwähnten Tagung, orientiert sich theoretisch und methodisch an der kulturwissenschaftlichen Erzählforschung, deren Kernkonzepte wie Kultur, Erzählen, Identität und Erinnerung im Anschluss an eine kurze Standortbestimmung erläutert werden. Einige Beispiele sollen sodann veranschaulichen, wie freiheitlich-demokratische Grundpositionen derzeit von rechtsextremer Seite zur Disposition gestellt werden. Dass gesellschaftliche Spaltung aber auch durch einen egoistischen Individualismus und ökonomische und soziale Ungerechtigkeit befördert wird, kann hier nur angemerkt, aber nicht weiter ausgeführt werden. Abschließend werden anhand der Diskurse um Inklusion und Europäische Integration zwei positive Zukunftsszenarien entwickelt, die zu einer Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts auf nationaler und transnationaler Ebene beitragen können.
Damit Bildung und Demokratie nicht auf der Strecke bleiben: Eine kurze Standortbestimmung
In der Tradition der anglo-amerikanischen Kulturwissenschaften, in der dieser Fachbeitrag gründet, zählt es zum guten Ton, den eigenen Standpunkt und damit die eigenen fachlichen Prämissen und Interessen, aber auch Begrenzungen und Beschränkungen, explizit zu thematisieren. Eine solche Reflexion ist insbesondere dann angebracht, wenn – wie im vorliegenden Fall – ein Fachfremder sich in einen Diskurs einmischt, den er bislang nur vom Rande her betrachtet hat und dessen Rederegeln er daher nicht kennt. Wenn ich aus der Sicht der anglistischen Literatur-, Kultur- und Medienwissenschaft im Folgenden zu Fragen der Inklusion und des gesellschaftlichen Zusammenhalts Stellung beziehe, tue ich das also aus einer doppelten, fachlichen und transnationalen, Außenperspektive heraus, die sich nicht auf die Fahnen schreiben darf, einen substantiellen Beitrag zu den Debatten der Kulturellen Bildung zu leisten, die sie in ihrer Genese und Ausdifferenzierung nicht einmal im Ansatz zu überblicken vermag.
Eine solche Außenperspektive kann aber manchmal auch hilfreich sein. Sie dient der Selbstvergewisserung aller Beteiligten, die sich durch den Dialog entweder in ihren Prämissen und Thesen bestätigt sehen oder – angeregt durch den Input von außen – vielleicht auch neue Fragen stellen und andere Antworten finden können. Das gilt selbstverständlich für alle Beteiligten, denn auch die kulturwissenschaftliche Erzählforschung kann von einem Austausch mit Ansätzen und Projekten der Kulturellen Bildung nur profitieren. In diesem Sinne möchte ich im Folgenden versuchen, konzeptuelle, terminologische und methodologische Brücken zwischen den universitären Kulturwissenschaften auf der einen und der Theorie und Praxis der Kulturellen Bildung auf der anderen Seite zu schlagen, in der Hoffnung, dass der eine oder andere Gedanke zu einer Fortsetzung des hier begonnenen Dialogs inspirieren kann..
Aber warum, mit welchem Ziel und Zweck soll man sich aus der Sicherheit der eigenen akademischen Diskurse herauswagen? Multiperspektivität und Perspektivenvielfalt über Disziplinen- und Institutionengrenzen hinweg sind aus mehreren Gründen heute wichtiger denn je. Erstens sind nicht nur die Sozialwissenschaften, sondern alle wissenschaftlichen Disziplinen aufgefordert, sich mit ihren spezifischen Erfahrungen, Wissensarchiven und Fragestellungen aus der Universität heraus in gesellschaftliche Diskurse einzubringen. Diese Aufgabe wird heute als Third Mission bezeichnet und fällt in wissenschaftspolitischen und administrativen Überlegungen unter den Oberbegriff des Transfers zwischen Wissenschaft und Gesellschaft.
Zweitens vertrete ich mit der Anglistik ein Fach, dessen Studierende mehrheitlich das Lehramt in allen Schulformen, von der Grundschule bis zum Gymnasium, anstreben, und das neuerdings sogar in der Ausbildung des sonderpädagogischen Nachwuchses engagiert ist. Aus diesem Grunde entsteht in den an der Lehrerbildung beteiligten Fachwissenschaften gerade ein neuer Diskurs über Formen und Ziele von Inklusion, der sich nicht aus den klassischen Ansätzen der Pädagogik und Erwachsenenbildung speist, sondern aus transdisziplinären Feldern wie den Gender Studies, den Postcolonial Studies oder der Intersektionalitätstheorie, die in der Anglistik und Amerikanistik seit den 1990er Jahren eine zentrale Rolle spielen. Meines Erachtens sind diese Debatten unter dem Leitbegriff des gesellschaftlichen Zusammenhalts höchst anschlussfähig an die Diskurse der Erziehungswissenschaften, die sich aus pädagogischer Sicht mit dem Wesen, den vielfältigen Formen und den gesellschaftspolitischen Zielen von Bildung auseinandersetzen und so ein dringend benötigtes Gegengewicht zur empirischen Bildungsforschung und rein pragmatisch begründeten Bildungsstandards bilden.
Eine wertorientierte Debatte über den Bildungsbegriff, die traditionelle Domäne einer theoretisch fundierten Erziehungswissenschaft und Pädagogik, scheint momentan ein wenig aus der Zeit gefallen und wird doch dringend benötigt. Denn drittens erleben wir gerade tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen, die sich (vermeintliche) Schwächen des demokratischen Gesellschaftssystems zunutze machen. Eine laute Minderheit zieht die mediale Aufmerksamkeit auf sich, bestimmt die Themen der Politik und führt der schweigenden Mehrheit vor Augen, dass Nichteinmischung und Rückzug in wissenschaftliche Gelehrsamkeit und disziplinäre Diskurse keine wirkungsvolle Strategie sind: Die Vergangenheit lehrt, dass sich die schweigende Mehrheit auch an den Rand gedrängt sehen und schließlich in der Minderheit wiederfinden kann. Der Mensch gewöhnt sich leider schnell an die Diskursabnutzungen, die das Wesen unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung angreifen.
Alle gesellschaftlichen Kräfte, die die im Grundgesetz verankerten Grundwerte der Demokratie teilen, Pluralismus für eine nicht umkehrbare Lebensrealität halten und Weltoffenheit und Öffentlichkeit auch für nachfolgende Generationen erhalten wollen, tragen Verantwortung dafür, nach geeigneten Mitteln und Wegen zu suchen, anti-demokratischen Tendenzen wirkungsvoll zu begegnen. Wir müssen versuchen, insbesondere Jugendliche und Heranwachsende für eine kritische, differenzierte und engagierte Haltung zu gesellschaftlichen Herausforderungen zu begeistern und sie zur aktiven Teilhabe und politischen und kulturellen Partizipation ermutigen.
Angesichts der Dringlichkeit und Schwierigkeit der Aufgabe, den gesellschaftlichen Zusammenhalt in schwierigen Zeiten neu zu festigen, ohne in überholte nationalistische Denkmuster zu verfallen oder Pluralismus und Multiperspektivität zur Disposition zu stellen, ist Zusammenarbeit über disziplinäre und institutionelle Grenzen hinweg keine Option, sondern ein Muss. Wenn Rechtspopulisten mit zunehmendem Erfolg die Agenda zu bestimmen suchen und fremdenfeindliches Gedankengut auch in öffentlichem Handeln sichtbar wird (die Demonstrationen von Pegida und die Hetzjagd auf Ausländer in Chemnitz sind eine deutliche Warnung), brauchen wir eine breite Allianz von Theorie und Praxis, Wissenschaft und Bildungseinrichtungen, Individuen und Gruppen, die für Freiheit und Rechtstaatlichkeit eintreten, damit nicht erst die Bildung und dann die pluralistische Demokratie auf der Strecke bleiben.
Konzepte kulturwissenschaftlicher Erzählforschung
Die Grundlage kulturwissenschaftlicher Erzählforschung bilden, wie könnte es auch anders sein, die Konzepte der Kultur und der Narration. Kultur wird heute im wissenschaftlichen Diskurs nicht mehr normativ definiert, sondern als ein heterogenes Konstrukt aufgefasst, ein Ergebnis menschlichen Handelns, das in Symbolen, Ritualen, Werten, Verhaltensweisen und Artefakten zum Ausdruck kommt (vgl. Sommer 2003:7ff.). Systematisch lassen sich mentale, soziale und materiale Dimensionen von Kultur unterscheiden, also Mentalitäten, Institutionen und Artefakte (vgl. Posner 2008:39ff.). Kulturwissenschaftliche Forschung untersucht auf der Grundlage semiotischer Theorien, die Kulturen als Zeichensysteme untersuchen, die vielfältigen Zusammenhänge zwischen Oberflächenphänomenen wie sprachlichen Äußerungen, diskursiven Praktiken, der Verwendung von Symbolen oder den diversen Formen der kulturellen Erinnerung und Tiefenstrukturen, die Rückschlüsse zulassen auf zugrunde liegende Denkmuster, Weltbilder und Wertmaßstäbe.
Der zweite Grundbegriff ist der des Erzählens, der eng mit dem Konzept der personalen und kollektiven Identität auf der einen, und der kollektiven Erinnerung auf der anderen Seite zusammenhängt. Erzählungen lassen sich über ihren Status als fiktional oder faktual (vgl. Fludernik 2001), über ihre konstitutiven und fakultativen Merkmale (vgl. Martínez 2017b) sowie über ihre Funktionen definieren. Zwei Funktionen, die sich mit dem Identitätsbegriff korrelieren lassen, sind in unserem Zusammenhang von besonderem Interesse: zum einen die Schaffung einer mehr oder weniger kohärenten persönlichen (oder personalen) Identität (die neuere Forschung hat darauf hingewiesen, dass narrative Identität häufig auch Brüche aufweisen und fragmentarisch sein kann, vgl. dazu den Überblicksartikel von Nünning/Nünning 2016), und zum anderen die Formierung, Stabilisierung und Aufrechterhaltung kollektiver Identitäten.
Konstitutiv für die Formierung und Ausformulierung von Selbstbildern sind sogenannte Selbsterzählungen, die die Psychologin und Psychoanalytikerin Brigitte Boothe (2011:40) wie folgt beschreibt: „Die narrative Psychologie betrachtet Narrationen als grundlegend für die menschliche Erfahrungsorganisation: Die alltagspraktische Erkenntnis, dass Menschen einen großen Teil ihrer Erfahrungen in Geschichten verwandeln und in Form von Alltagserzählungen kommunizieren, bildet diesbezüglich den Ausgangspunkt. Durch die Konstruktion von Erzählungen kommt es zur subjektiven Produktion von Sinn im Hinblick auf die eigene Person und auf deren Eingebundenheit in den sozialen Kontext. Die mit den Narrationen verbundenen Prozesse des ‚sense making‘ (Bruner 1990) führen zur Ausbildung der narrativen Identität.“
Eine mit Blick auf das Konzept des gesellschaftlichen Zusammenhalts besonders wichtige Funktion ist die Gruppenbildung: Erzählen – und Zuhören – verbindet. Wie aber fügen sich einzelne Erzählungen zum narrativen Reservoir oder Repertoire einer Gruppe? Und welche kulturellen und interkulturellen Funktionen haben wiederum die auf diese Weise entstehenden „Kollektiverzählungen“ (Sommer 2009) oder „Kollektivbiographien“ (Harders/Schweiger 2009)? Anders gefragt: Wie gewinnt die einzelne Selbsterzählung überindividuelle Relevanz? Wie ich an anderer Stelle gezeigt habe (vgl. Sommer 2017), sind Narrative kulturspezifische Muster und Modelle für erzählerische Wirklichkeitsentwürfe oder, anthropologisch gewendet, sinnstiftende Mythen, die Werte zum Ausdruck bringen und damit Menschen in Gemeinschaften Orientierung versprechen. Solche Funktionen erfüllen etwa Fortschritts-, Krisen- und Unabhängigkeitsnarrative, aber auch die großen Weltentwürfe der Wissenschaft (z.B. Evolution, Klimawandel, Ausdehnung des Universums) oder die Heilsversprechen der Religionen.
Die Erzählforschung spricht in diesem Zusammenhang von „Erzählgemeinschaften“ (Müller-Funk 2008), die sich durch bestimmte, wiederkehrende Geschichten von anderen abgrenzen. Ansgar Nünning (2013:8f.) charakterisiert Erzählgemeinschaften als „Kollektive, die über ein bestimmtes Repertoire an Erzählmustern bzw. über ‚kulturelle Narrative‘ verfügen, die sich in narrativen Texten in unterschiedlichen Medien materialisieren und durch soziale Zeichenbenutzer bzw. Erzählinstanzen in gesellschaftlichen und institutionellen Kontexten aktualisiert werden“. Die narrative Identität einer Gruppe, z.B. einer Familie, einer Schulklasse oder einer Partei stärkt den Zusammenhalt und trägt zur Sinnstiftung bei. Wichtig ist dafür die Wiederholung, die aber nicht zu Neuinterpretationen des in der Erzählung rekapitulierten Geschehens führt, sondern die gemeinsam akzeptierte Deutung immer wieder aufs Neue bestätigt. Ein solches Verfahren dient der Selbstvergewisserung der Gruppe: Die Individuen, die ihr angehören, verständigen sich über die Wiedererzählung implizit oder explizit, bewusst oder unbewusst darüber, ob die Erzählgemeinschaft noch intakt ist und ob sie selbst ihr noch angehören (wollen). Je weniger die Gemeinschaft auf tatsächlichem gemeinsamen Erleben beruht (das beste Beispiel sind Klassentreffen, die sich weitgehend, wenn nicht gar ausschließlich, über Gruppenerzählungen aus der Vergangenheit definieren), desto wichtiger wird die Erzählung als Mittel der individuellen und kollektiven Erinnerung.
Damit ist ein weiterer Grundbegriff der kulturwissenschaftlichen Erzählforschung eingeführt, die kollektive Erinnerung oder auch das kommunikative beziehungsweise kulturelle Gedächtnis. Einen Überblick über die Entwicklung und den Stand der Forschung in diesem Bereich geben der von Astrid Erll und Ansgar Nünning herausgegebene Überblicksband A Companion to Cultural Memory Studies (2010) sowie das von Christian Gudehus, Ariane Eichenberg und Harald Welzer herausgegebene interdisziplinäre Handbuch Gedächtnis und Erinnerung (2010). Letzteres hebt explizit die Orientierungsfunktion des Gedächtnisses hervor, die stärker auf die Zukunft gerichtet ist als auf die Vergangenheit: „Erinnerung hat funktional nichts mit Vergangenheit zu tun. Sie dient der Orientierung in einer Gegenwart zu Zwecken künftigen Handelns. [...] Antizipierte Retrospektionen spielen für menschliches Handeln eine zentrale Rolle – jeder Entwurf, jeder Plan, jede Projektion, jedes Modell enthält einen Vorgriff auf einen Zustand, der in der Zukunft vergangen sein wird“ (Gudehus et al. 2010:8f.). Auch wenn es zunächst kontraintuitiv klingen mag, ist es gerade jener Vorgriff auf künftige Erfahrung, die sich das Erinnern und das Erzählen teilen – auch letzteres rekapituliert zwar oberflächlich Vergangenes, tut dies aber um der Zukunft willen.
In der Denkfigur der Erzählgemeinschaft treffen die erinnernden, orientierenden und antizipierenden Funktionen des Narrativen aufeinander. Wie lässt sich dies nun methodisch einsetzen? Wichtig ist zum einen die Unterscheidung zwischen abstrakten Narrativen und konkreten Narrationen (textuelle oder audiovisuelle Erzählungen). Letztere machen latente Schemata lesbar, sichtbar oder hörbar, aus denen sich kollektiv geteilte Identitäten speisen. Solche kulturellen Schemata manifestieren sich, wie die kulturanthropologische Forschung gezeigt hat, in Symbolen und Ritualen, also normierten, formal kodierten Verhaltensweisen. Während der Symbol- und Ritualbegriff bei Klassikern der Kulturanthropologie wie Victor Turner (1967) noch stark auf einen bestimmten Typ von sozialen Verhaltensweisen zugeschnitten sind (religiöse Rituale), die seinen anthropologischen Untersuchungsgegenständen (z.B. Initiationsriten in afrikanischen Dorfgemeinschaften) geschuldet sind, gehen kulturwissenschaftliche Ansätze von einer weiteren Konzeption aus.
Wie die Beiträge zu einem von Vera Nünning, Jan Rupp und Gregor Ahn herausgegebenen Sammelband mit dem Titel Ritual and Narrative (2013) zeigen, weisen Rituale oft entweder selbst narrative Strukturen auf oder bedienen sich verschiedener Formen der Narration, um ihre gruppenbildende Wirkung zu entfalten. So lassen sich beispielsweise auch Wahlkämpfe (vgl. Sommer 2013) oder Formen der Ehrung im Einsatz gefallener Soldaten der Bundeswehr (vgl. Hammer 2013) als komplexe Rituale beschreiben, in denen Symbole, aber auch unterschiedliche Formen der Narration gezielt eingesetzt werden, um eine bestimmte Wirkung zu erzielen. In den genannten Beispielen wäre das der Wahlerfolg einer Partei beziehungsweise eines Kandidaten/einer Kandidatin oder die Neuerfindung der Bundeswehr als einer Berufsarmee, die mit Einwilligung des Bundestages Friedenssicherung und defensive Orientierung heute völlig anders interpretiert als in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts: „Unsere Sicherheit wird nicht nur, aber auch am Hindukusch verteidigt“, sagte Verteidigungsminister Peter Struck in einer Regierungserklärung am 11. März 2004. Seither „ist“ das so, oder diskursanalytisch gewendet: seither sagt man, und darf man sagen, dass das so ist.
Es war aber natürlich auch schon vorher so. Struck sprach lediglich offen aus, was sich schon seit Längerem abgezeichnet hatte. Spätestens als etwa zehn Monate zuvor der erste Soldat der Bundeswehr in Afghanistan starb, stellte sich die Frage nach einem neuen Diskurs und einem neuen Narrativ mit großer Dringlichkeit. Wie spricht man über ein solches, bislang nie dagewesenes Ereignis? Soll man sagen, der Soldat sei bei der Erfüllung seiner dienstlichen Aufgaben ums Leben gekommen? Oder ist er „gefallen“ – „für Deutschland“? Hammer (2013:249ff.) zeichnet am Beispiel der Trauerrituale nach, wie die kriegsskeptische und auch kognitive entmilitarisierte Bundesrepublik, die sich lange mit den neuen Rederegeln schwer tat, langsam aber sicher mit der Gestaltung der Zeremonien die Diskursgrenzen verschob: Waren die Trauerfeiern zunächst nur rein militärische Angelegenheiten, wurden sie später als öffentliche Ereignisse inszeniert, die nun nicht mehr auf militärischem Gelände, sondern in Kirchen stattfand. Mit den politischen, wirtschaftlichen und strategischen Rahmenbedingungen ändern sich also auch die dominanten Formen der kollektiven kognitiven Rahmung. Das dominante Narrativ der Nachkriegszeit („Von deutschem Boden darf nie wieder Krieg ausgehen“) wird abgelöst von einem Narrativ der gewachsenen Verantwortung Deutschlands im Rahmen einer europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik.
Wer oder was bedroht den gesellschaftlichen Zusammenhalt?
Nicht jede Diskursverschiebung, nicht jede Ablösung eines alten Narrativs durch ein neues ist ein gesellschaftliches Problem. Man mag politisch anderer Meinung sein, aber die Neuerfindung der Bundeswehr als Berufsarmee bedroht nicht den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Anders sieht es aber mit jenen Diskursabnutzungen aus, die unter dem Begriff des Rechtspopulismus zusammengefasst werden. Als Diskursabnutzungen bezeichne ich jene konstante, absichtliche und ideologisch motivierte Verletzung allgemein akzeptierter Diskursregeln, die typisch ist für die Rhetorik der sogenannten Neuen Rechten. Donald Trump hat das Lügen und Hetzen zum Programm gemacht und ist immer noch Präsident, eine Lektion, die auch hierzulande auf fruchtbaren Boden fällt.
Systematisch lotet insbesondere die AfD die Grenzen dessen aus, was gesagt werden darf, von wem und in welchem Kontext. Ein Beispiel: Am 9. November 2018, dem Tag, an dem Deutschland der Opfer der Reichspogromnacht gedenkt, veröffentlichte das Online-Mitgliedermagazin AfD kompakt eine kurze Meldung. Alice Weidel, die Vorsitzende der AfD, weist darin Pläne von Umweltministerin Svenja Schulze zurück, die Preise für Benzin und Heizöl zu erhöhen, um die CO2-Ziele der Bundesregierung zu erreichen. Die Überschrift des Beitrags lautet: „Die Sozialdemokraten verraten schon wieder den Bürger“. Auffällig ist neben der Polarisierung („verraten“) und Personalisierung („die Sozialdemokraten“, nicht die SPD, verraten „den“ Bürger) das „schon wieder“. Wann haben die Sozialdemokraten denn den Bürger verraten? Es fällt auf, wie hier unverhohlen die sogenannte Dolchstoßlegende bemüht wird – eine von der Geschichtswissenschaft längst als Inszenierung der Wehrmacht enttarnte und vollkommen haltlose Verschwörungstheorie, der zufolge unter anderem „die Sozialdemokraten“ der Wehrmacht in den Rücken gefallen sind und die Kapitulation herbeigeführt haben.
Das ist historisch falsch. Es tut auch nichts zur Sache, außer man ist besessen von dem Wunsch, die Sozialdemokratie zu diskreditieren (die auch nicht „den Bürger“ „verrät“, wenn sie Steuererhöhungen fordert, ob man diese nun gut findet oder nicht). Und vor allen Dingen: Dieser Dolchstoßunsinn interessiert heute doch niemanden mehr, außer diejenigen, die andauernd längst widerlegte Verschwörungstheorien bemühen, um zu polarisieren, zu spalten und rechtsextremes Gedankengut im politischen Diskurs salonfähig zu machen (vgl. dazu auch Butter 2018). Die völlig unpassende, aber absichtlich so gewählte Überschrift ist also ein Wink an jene, die von der AfD eine (ganz bestimmte) „Alternative“ für Deutschland erwarten, nicht etwa Alternativen im Plural. Für Vielfalt ist in der Welt der AfD kein Platz. Weidels Beispiel sollte insbesondere denen zu denken geben, die der AfD immer noch zugute halten, dass rechtsextreme Äußerungen aus ihren Reihen nur Ausrutscher seien, ein sprachliches Versehen. Rechtsextreme Ideologie ist offenbar in den Köpfen führender Mitglieder tief verankert: Anstatt der symbolischen Bedeutung des Datums gerecht zu werden, treibt Weidel vorhersehbar die Diskursverschiebung und Diskursabnutzung voran – von dem „Nie wieder!“-Konsens des demokratischen Deutschland hin zu einer Abschaffung des angeblichen „Schuldkults“ auf der Grundlage einer Ideologie, die den Nationalsozialismus als „Vogelschiss“ (Gauland) einer angeblich glorreichen, angeblich tausendjährigen, angeblich deutschen Geschichte abtut.
Auf welche Weise kann so etwas den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährden? Indem die unablässige Unterhöhlung und Missachtung etablierter Diskursregeln, dem tacit knowledge der Demokratie, schließlich einen Ermüdungs- oder Gewöhnungseffekt bewirkt: Engstirnigkeit, Dreistigkeit, ideologische Verblendung und Verantwortungslosigkeit werden nicht gut geheißen, aber hingenommen – erst dann tritt tatsächlich eine Diskursabnutzung ein. Die beste Waffe dagegen ist konsequente Aufklärung und die Entzauberung alter und neuer Mythen, in der Schule, an der Universität, in den Medien und in den Künsten. Das fürchtet die AfD so sehr, dass sie mit allen Mitteln versucht, denjenigen, die die Wahrheit sagen, einen Maulkorb anzulegen.
Die AfD erfindet dazu ein Narrativ der Neutralität, das Beamte und Kunstprojekte, die mit öffentlichen Mitteln finanziert werden, dazu verpflichten will, sich jeder kritischen Meinungsäußerung zu enthalten. An sich ist Neutralität ja ein positiv besetzter Begriff, vor allem, wenn er aus dem Mund derjenigen kommt, die andauernd nicht nur Regeln des politischen Diskurses verletzen, sondern auch in ihrer Aggressivität jene Benimmregeln ignorieren, die man altmodisch als Anstand bezeichnet. Aber die AfD mahnt ja nicht sich selbst zur Zurückhaltung, sondern immer nur andere – Andersdenkende, die zur Aufklärung der schweigenden Mehrheit beitragen und dabei ihren Bildungsauftrag ernst nehmen. Wenn VertreterInnen der AfD von Neutralität sprechen, meinen sie also ein Schweigegebot für Andersdenkende.
Bislang laufen von PolitikerInnen der AfD eingereichte Dienstaufsichtsbeschwerden gegen kritische Lehrkräfte ins Leere. Die von Landesverbänden der AfD geplanten oder eingereichten „Meldeportale“ stoßen auf scharfe Kritik, führen aber auch bereits wie befürchtet zu Konflikten, die den Schulfrieden bedrohen, etwa an einer Berliner Grundschule. Neuerdings versucht die AfD auch, die Freiheit der wissenschaftlichen Lehre an Universitäten einzuschränken: „Mein Prof hetzt“ (vgl. dazu den Nachrichtenbeitrag „DHV verurteilt AfD-Portal ‚Mein Prof hetzt‘“ in Forschung & Lehre 11.18). Der studentische Bundesverband fzs kritisierte unter dem Slogan „Mein Prof fetzt“ diesen Angriff auf die Freiheit der Lehre, den auch der Deutsche Hochschulverband strikt zurückweist. Die Professorinnen und Professoren klären weiter auf. Das Wichtigste ist, dass man der AfD den Begriff der Neutralität nicht unwidersprochen überlässt: Sie ist nicht die Schweiz, auch wenn Alice Weidel von dort Wahlkampfspenden erhalten und nicht angemeldet hat.
Die Aufklärung beginnt also bei einem bewussten und aufmerksamen Umgang mit Sprache. Wie kommt es, dass wir uns über „Gutmenschen“ lustig machen, aber immer wieder bereit sind, Verständnis für „Wutbürger“ aufzubringen? Erstere versuchen beispielsweise, den ökologischen Fußabdruck zu minimieren, indem sie ordentlich ihren Müll trennen und bei Spaziergängen in der Natur vielleicht noch den anderer aufsammeln. Sie kaufen regionale Produkte, ziehen den lokalen Buchladen dem Versandriesen Amazon vor, sind in der Regel gegen Atomkraft und Braunkohle, aber für das Asylrecht und Bildungsgerechtigkeit. Die europäische Integration finden sie wichtig und richtig. Das ist zwar alles nicht schlecht, schließlich nennen wir die „Weltverbesserer“ (noch so ein guter Begriff, den wir gerne schlecht machen) Gutmenschen und nicht Bösmenschen, aber scheinbar lächerlich genug, sonst wäre dieser an sich doch so positive Begriff nicht so negativ besetzt: Halten sich Gutmenschen für besser, sind sie unverbesserliche BesserwisserInnen, oder halten sie den anderen nur einen Spiegel vor, der niemanden so richtig gut aussehen lässt?
Ganz anders die sogenannten Wutbürger, das rechte Pendant der linken Autonomenszene. Sie bezeichnen sich gerne als empörte Menschen von nebenan, die aufgrund schlechter Erfahrungen auf die Straße gehen. Wo verläuft die Grenze zwischen jemandem, der sich aus nachvollziehbaren Gründen ärgert, seinem Ärger verbal freien Lauf lässt, aber dann mit kühlem Kopf wieder auf den Boden der Tatsachen (und des Grundgesetzes) zurückkehrt, und jemandem, dessen Ärger auf einem rechtsextremen Weltbild fußt und auf Dauer angelegt ist? Die Unterscheidung zwischen tatsächlicher, tatsächlich empfundener oder nur vorgeschobener Normalität ist von zentraler Bedeutung für die Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung des gesellschaftlichen Zusammenhalts, weil von ihrer Beantwortung abhängt, ob man jemanden noch mit Argumenten zu überzeugen oder wenigstens zu erreichen hoffen darf oder nicht. Anders ausgedrückt: Die Demonstrationen von Pegida und die Ereignisse in Chemnitz geben Anlass zu der Befürchtung, dass es vielen Teilnehmenden eben nicht mehr darum geht, ein Anliegen in die Öffentlichkeit zu tragen. Die Bundesregierung hat ihre Flüchtlingspolitik nach 2015 mehrfach korrigiert und verschärft, doch diese Reaktionen werden nicht als ausreichend wahrgenommen. Vielen scheint es eben doch nicht um die Sache zu gehen, sondern um das Prinzip: Man will einen anderen Staat.
Dabei agiert die Neue Rechte durchaus einfallsreich. Marina Weisband, ehemals Geschäftsführerin der Piratenpartei und neuerdings Mitglied der Grünen, hat kürzlich ein Interview zum Freiheitsbegriff und dem Umgang mit der AfD gegeben, das unter dem Titel „Ich habe Schiß vor Chemnitz“ auf taz.de veröffentlicht wurde. Leider hat sie nicht ganz Unrecht, wenn sie der Politik eine Mitschuld daran zuweist, dass Demokratie „nicht mehr cool ist“: „Statt Symptome zu bekämpfen, müsste sich die Politik trauen, Visionen zu formulieren. Wie soll die Welt von morgen aussehen? Die demokratischen Parteien müssen eine Antwort auf diese große Frage geben. Die AfD will Deutschland zurück in eine imaginierte Vergangenheit führen. Das ist eine schrumpelige und doofe Vision, aber immerhin ist es eine“ (Schulte 2018: taz.de). Stimmt. Welche Visionen kann das demokratische, liberale, pluralistische Deutschland dagegen aufbieten? Und was, um zur Ausgangsfrage zurückzukehren, kann Bildung, und insbesondere Kulturelle Bildung, dazu beitragen?
Potenziale Kultureller Bildung
Gesellschaftlicher Zusammenhalt braucht tatsächlich Visionen oder, wie man aus Sicht der interdisziplinären Erzählforschung sagen würde, neue Narrative für unsere Erzählgemeinschaften, und zwar auf allen Ebenen: Von der Staatengemeinschaft der Europäischen Union bis zur Klassengemeinschaft oder dem Freundeskreis. Dazu zählen ein Europäisches Narrativ, wie es José Barroso noch während seiner Zeit als Ratspräsident inszenierte: „A new narrative for Europe“ nannte sich das wichtige Projekt, das mit Unterstützung durch prominente Europäer wie Placido Domingo das Narrativ des Vereinten Europa aktualisiert und für die Zukunft fortschreibt.
Domingo wirbt in einem kurzen Video eindrücklich für europäische Integration (vgl. https://www.youtube.com/watch?v=SDq7bX7PaAc, Zugriffsdatum: 12.11.2018). Sein Bild von einem multiperspektivischen Europa, das wie ein Orchester gemeinsam spielt und nur gemeinsam einen vollen und vielschichtigen Klang erzeugen kann, ist zugleich eine starke Metapher für ein zentrales Projekt Kultureller Bildung: Inklusion. „Inklusion wäre ohne den Tatbestand der Exklusion nicht nötig“, schreiben Andrea Platte und Franz Krönig in dem Band Inklusive Momente (2017; hier 18), und fahren dann fort: „Die positive, wertegeleitete, normative, visionäre Beschreibung – die sich z.B. ausdrückt im Wunsch nach der Wertschätzung von Vielfalt – wird erst authentisch in der Wahrnehmung von Barrieren und Diskriminierung, die ihr im Weg stehen“ (ebd.:19). Tatsächlich kann die Wertschätzung von Vielfalt der Kern jener Vision sein, die Weisband ebenso wie Barroso und Domingo einfordern. Ob im großen, europäischen Kontext oder in der alltäglichen zwischenmenschlichen Begegnung: Miteinander gründet auf gegenseitigem Respekt, der Bemühung um Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit und der programmatischen Anerkennung von Unterschiedlichkeit, die sich grundsätzlich und kompromisslos gegen jede Ausgrenzung des Anderen wendet: „Die Unterscheidung in ein ‚wir’ und ‚die anderen’ ist somit Ausdruck von Macht, schafft Minder- und Mehrheiten und konstruiert eine vermeintliche Normalität“ (ebd.:31).
Dekonstruieren wir also vermeintliche Normalität, ob sie uns nun im Gewand des Verständnisses für Wutbürger, einer Anspielung auf überholte Verschwörungstheorien oder einer Beschneidung der Meinungsfreiheit unter dem Deckmantel eines Neutralitätsnarrativs begegnen. Man muss sich nicht auf die rhetorischen Spielchen der Neuen Rechten einlassen, die bekanntlich gerne die Grenzen des Sagbaren ausloten und verschieben, indem sie zunächst Unsägliches von sich geben, um sich dann ein wenig davon zu distanzieren – so wenig, dass das Gesagte doch haften bleibt, bis der Dolchstoßunfug auch in einer Meldung zur Benzinsteuer nicht mehr bitter aufstößt. Nein, man muss sich gar nicht darauf einlassen, sondern kann die Ernsthaftigkeit eines Bekenntnisses zu Demokratie – und Kultureller Bildung – mit einer einfachen Frage ergründen: Wie halten wir es mit Vielfalt? Es ist kein Wunder, dass die AfD sowohl der kleinen als auch der großen Vielfalt – Inklusion und Europa – skeptisch bis ablehnend gegenübersteht. So lange Kulturelle Bildung diese Frage mit größtmöglicher Dringlichkeit stellt und Antworten einfordert, leistet sie einen wichtigen und wertvollen Beitrag zur Förderung des gesellschaftlichen Zusammenhalts.
Fazit
Gesellschaftlicher Zusammenhalt lässt sich nicht nur durch Bildung erreichen. Wir müssen auch die ökonomischen Voraussetzungen für Teilhabe schaffen, wie Wolfgang Streeck (2017) zu Recht mahnt. Aber ohne Bildung und Aufklärung, auf allen Ebenen, in allen Kontexten und am besten in intensivem, regelmäßigem Austausch aller Akteure, geht es auch nicht. Die sprachlichen Regeln unserer Diskurse, die wir in öffentlicher Auseinandersetzung immer wieder neu verhandeln, überprüfen und rechtfertigen, dürfen ebenso wenig zur Disposition gestellt werden wie die gesetzlichen Regeln für privates und öffentliches Verhalten. Weder verbale noch körperliche Gewalt sind ein zulässiges Mittel der Auseinandersetzung in demokratischen Gesellschaften. Für gesellschaftlichen Zusammenhalt reicht reines Wissen nicht aus, wir müssen auch wollen – und dazu können und sollen Wissenschaftliche und Kulturelle Bildung, gemeinsam mit der Schulischen Bildung und Politischen Bildung, auch in Zukunft beitragen.