Gruppenimprovisation in inklusiven Settings
Improvisationsdidaktische Perspektiven im Kontext inklusionspädagogischer Modelle
Abstract
Improvisation wird in pädagogischen und künstlerischen Konzepten häufig mit inklusiven Ansprüchen in Verbindung gebracht und gilt – etwa im Kontext der Community Music – als ideale Methode für die Herstellung von Kooperation, Teilhabe, Partizipation oder sozialer Gerechtigkeit (etwa Hill/Banffy-Hall 2017). Den hohen Erwartungen steht jedoch nur eine geringe Anzahl theoretisch fundierter improvisationsdidaktischer Unterrichtsmodelle gegenüber. Diese Lücke soll zum Anlass genommen werden, improvisationsdidaktische Perspektiven vor dem Hintergrund inklusionspädagogischer Anforderungen zu präzisieren und insbesondere die zentrale inklusionsdidaktische Forderung nach einer ausgewogenen Balance zwischen Individualisierung und Gemeinsamkeit (vgl. Wocken 2013) mit Spezifika improvisatorischer Praxis abzugleichen und zu vernetzen. Die Entwicklungslogische Didaktik Feusers – insbesondere sein Postulat des kooperativen Lernens am „Gemeinsamen Gegenstand“ (Feuser 2013) – bildet hierzu den bildungstheoretischen Bezugspunkt, wobei der analytische Rahmen durch Hinzunahme von inklusionsrelevanten, aber bislang wenig verknüpften Forschungsdisziplinen der Musikpädagogik (Elementare Musikpädagogik und sonderpädagogische Fachdidaktik Musik) erweitert wird. Auf dieser Grundlage wird ein mögliches interaktives gemeinsames Moment von Gruppenimprovisation vorgeschlagen sowie anschließend zwei unterrichtspraktische Perspektiven für inklusiven Musikunterricht im Lernfeld Improvisation vorgestellt.
Einleitung
In kaum einem anderen musikalischen Sach- und Handlungsfeld wurden bislang derart vielfältige Bezüge zu inklusionsbezogenen Ansprüchen und Perspektiven auf ein partizipatives, kooperatives und soziokulturelles Lernen hergestellt wie in der musikalischen Gruppenimprovisation (z.B. Roscher 1976; Hill/Banffy-Hall 2017). Vor allem aufgrund des Verzichts auf traditionelle Notation sowie ihrer offenen und interaktiven Handlungsmöglichkeiten gilt Improvisation als ein günstiges Verfahren, um Menschen auf ganz unterschiedlichen Ausführungsniveaus und mit verschiedener musikalischer Herkunft in die kooperative Arbeit an einem gemeinsamen Projekt einzubinden.
Ein besonders günstiges integrierendes Moment seien zum einen die niederschwelligen musikpraktischen Voraussetzungen zum Improvisieren. So sieht etwa Philip Alperson aus musikphilosophischer und -ästhetischer Perspektive die exemplarische Bedeutung von Improvisation gerade darin begründet, dass sie „selbst auf einem niedrigen, rudimentären Niveau“ ein „wesentliches Moment jeglichen Musikmachens ist“ (Alperson 2009:882). Der Improvisationsmusiker Derek Baily betrachtet Improvisation als eine „höchste Geschicklichkeit erfordernde Kunst“, die dennoch „fast von jedem betrieben werden“ könne: „Anfängern, Kindern, Nichtmusikern. An Geschicklichkeit und geistiger Kraft erfordert sie das, was verfügbar ist“ (Bailey 1987:128).
Zum anderen gilt Improvisation als eine sozial verbindende musikalische Praxis, die mehr als andere Musikformen maßgeblich von interaktiven Prozessen getragen wird (etwa Gagel 2010; Figueroa-Dreher 2016). Beispielsweise gehen Ortwin Nimczik und Wolfgang Rüdiger in ihren musikdidaktischen Überlegungen davon aus, dass sich vor allem im improvisierten Ensemblespiel eine „musikalische[ ] Ganzheit“ entfalten könne, die „durch ein gleichberechtigtes dialogisches Miteinander und Zusammenspiel ihrer einzelnen Teile (Mitglieder) konstituiert“ wird (Nimczik/Rüdiger 1997:10).
Improvisation scheint damit in vielen Aspekten bereits aufgrund ihrer Sachspezifik den vielfältigen, insbesondere sozialen Anforderungen schulischer Inklusion gerecht zu werden: Da sich inklusiver Unterricht durch eine theoretisch „unbegrenzte Heterogenität“ (Wocken 2013:200) auszeichnet, die ein zielgleiches Lernen im Gleichschritt obsolet macht, ist eine zentrale Forderung aller inklusiver Didaktiken die Differenzierung des Unterrichts nach individuellen Lernwegen. Inhalte und Medien, Ausmaß und Form der pädagogischen Hilfen sowie Sozialformen sind stets den interindividuellen Möglichkeiten der Kinder und Jugendlichen anzupassen. Da jedoch befürchtet wird, dass Lerngruppen bei einer einseitigen Akzentuierung differenzierender Angebote sozial auseinanderfallen könnten, wird zum anderen die kooperative und interaktive Gestaltung des Unterrichts postuliert, die den Austausch und die sozialen Bindungen der Schüler*innen sichern soll (vgl. Wocken 2013:212). Einer Vereinzelung des Lernens könne durch die Konstituierung von gemeinsamen Momenten entgegengewirkt werden. Ein idealtypischer inklusiver Unterricht habe daher, wie Hans Wocken (2013) fordert, beide Pole – Individualisierung und Kommunalisierung – in eine ausgewogene Balance zu bringen (213).
Aus der oben genannten Charakterisierung von Improvisation als niederschwellige und soziale Musikpraxis ließe sich nun ableiten, dass die beiden Ebenen Individualisierung und Konstituierung von Gemeinsamkeit in der improvisatorischen Praxis auf besonders günstige Weise ineinandergreifen: Improvisation kann auf sämtlichen musikalischen und musikbezogenen Ausführungsniveaus individuelle musikalische Handlungs- und Lernmöglichkeiten bieten. Zugleich ist Improvisation durch die Kohäsion des gemeinsamen Spiels gekennzeichnet. Durch das „aufeinander bezogene[ ] und durch das den anderen wahrnehmenden Wechselspiel“ (Gagel 2013:152), kann dialogisches und kollektives Lernen evoziert werden.
Diesen Passungsvermutungen und möglichen substanziellen Anknüpfungspunkten zu den Ansprüchen inklusiven Unterrichts steht jedoch nur eine geringe Anzahl theoretisch fundierter improvisationsdidaktischer Unterrichtsmodelle gegenüber, in denen Improvisation als genuiner Unterrichtsinhalt betrachtet wird (etwa Friedemann 1973; Schwabe 1992; Gagel 2010). Zudem suggerieren manche Beiträge eine Leichtigkeit des Gelingens kooperativer Dynamik über das Medium Improvisation, ohne didaktische Voraussetzungen und Bedingungen zu konkretisieren. Als ein spezifischer Praxis- und Sachbereich des Musikunterrichts bedarf Improvisation auf didaktisch-konzeptioneller Ebene – insbesondere im Hinblick auf inklusive Anforderungen – einer stärkeren inhaltlichen und konzeptionellen Ausarbeitung (vgl. Weber 2020). Wenn eine inklusive Schule als eine Schule „ohne Rest“ (Rödler 2001) verstanden wird, müssen dabei – entsprechend der sozialethisch basierten Inklusionsprogrammatik einer uneingeschränkten Anerkennung von Verschiedenheit – auch basale Formen des Lernens in den Blick genommen werden, um Kinder etwa mit komplexen Behinderungen (vgl. Fornefeld 2008) nicht von vornherein als ‚nicht integrierbar‘ auszuschließen.
Diese Lücke soll im Folgenden zum Anlass genommen werden, improvisationsdidaktische Perspektiven vor dem Hintergrund inklusionspädagogischer Anforderungen zu präzisieren, wobei speziell auf die Frage nach möglichen verbindenden und gemeinsamen Momenten von Gruppenimprovisation in inklusiven Settings fokussiert werden soll.
Hierzu lohnt sich der Blick auf die Entwicklungslogische Didaktik Georg Feusers (1989, 2011), in der die angesprochenen Forderungen nach Individualisierung und Gemeinsamkeit in einen konzeptionellen Rahmen gebracht und bildungstheoretisch fundiert ausgearbeitet werden. Dies ist vor allem deshalb lohnend, da Feusers Modell als bislang einziger anspruchsvoller Versuch einer übergeordneten didaktischen Konzeption für schulische Inklusion gilt (vgl. Ziemen 2018:8) und als wichtiger Ausgangs-, Bezugs- und Kritikpunkt sowohl für weitere allgemein-didaktische (z.B. Seitz 2006; Ziemen 2018) als auch für fachdidaktische Ansätze inklusiven Unterrichts fungiert (z.B. Krebber-Münch 2001; Merkt 2019; Weber 2012, 2020).
Um improvisationsspezifische Anforderungen mit Erkenntnissen der Didaktik Feusers zu profilieren, soll in einem ersten Schritt Feusers Theorem des Gemeinsamen Gegenstands, das auf inklusionsdidaktischer Ebene ein Lernen auf unterschiedlichen Lern-, Anspruchs- und Entwicklungsniveaus erst konstituieren soll, in seinen Grundzügen vorgestellt werden. Daran anschließend wird – unter Berücksichtigung und Vernetzung inklusionsaffiner Teilbereiche der Musikpädagogik, insbesondere der sonderpädagogischen Fachdidaktik Musik sowie der Elementaren Musikpädagogik – ein interaktiver Aspekt im Lernfeld Improvisation herausgegriffen, der ein verbindendes Moment im Sinne des Gemeinsamen Gegenstands konstituieren könnte. Schließlich werden unterrichtspraktische Perspektiven für inklusiv ausgerichteten Musikunterricht im Praxisfeld Improvisation vorgeschlagen.
Theorem des Gemeinsamen Gegenstands (Georg Feuser)
In seinem Modell der Entwicklungslogischen Didaktik (zusammenfassend Weber 2020:55–69) unterscheidet Feuser vier zentrale Momente „im Sinne eines nicht zu unterschreitenden und unveräußerlichen didaktischen Fundamentums“ (Feuser 2005:172): Notwendig seien eine Individualisierung, die sich an der Biographie und der Entwicklungslogik der einzelnen Schüler*innen orientiert sowie eine durch die Individualisierung erfolgende Innere Differenzierung. Mit Bezug auf gemeinsame Inhalte und auf ein gemeinsames Curriculum soll zieldifferent unterrichtet werden. In der kooperativen Tätigkeit sollen hingegen alle Lernenden in einem Klassenkollektiv die Möglichkeit erhalten, nach ihren je individuellen Stärken und Fähigkeiten einen wichtigen und unverzichtbaren Beitrag in einem Projekt oder Vorhaben zu leisten, „ohne daß dazu jeder alles zu machen und zu können braucht“ (Feuser 1989:45). Ein kooperatives Spielen, Lernen und Arbeiten an einem Gemeinsamen Gegenstand soll schließlich die Vereinzelung der individuellen Lernprozesse sowie Parzellierung und Reduzierung der Bildungsinhalte in einem additiven, unvermittelt nebeneinander existierenden Fächerkanon verhindern und stattdessen „soziale Einbettung und Teilhabe“ (Feuser 2013:287) ermöglichen.
Der Begriff Gegenstand bezeichnet dabei keinen materialen Gegenstand oder konkreten Lerninhalt, sondern umfasst auf epistemologischer Ebene den zentralen „Prozeß, der hinter den Dingen und beobachtbaren Erscheinungen steht und sie hervorbringt“ (Feuser 1989:32, Hervorh. i. Orig.). Zur genaueren Bestimmung bezieht sich Feuser unter anderem auf Wolfgang Klafkis Kategorien des „Elementaren und Fundamentalen“ (Klafki 1996:160), die zusammen den Gemeinsamen Gegenstand konstituieren (Feuser 1989:33). Das Elementare repräsentiert dabei einen allgemeinen Problem- oder Sachzusammenhang, wohingegen das Fundamentale für Grunderfahrungen steht, die in einem Projekt erworben werden können (vgl. etwa Klafki 1996:152; Feuser 2005:176–177).
Feuser veranschaulicht sein Modell an einem Beispiel: In einem Projekt Ernährung lautet ein Teilvorhaben „Wir kochen uns einen Gemüseeintopf“. Dabei sei der Gemeinsame Gegenstand „weder das vom Wochenmarkt besorgte Rohgemüse [...] und dann der fertige, leckere Gemüseeintopf, sondern der Prozess, der vom ersten zum zweiten Zustand führt – das Kochen, die einwirkende, Veränderungen bewirkende Wärme“ (Feuser 1989:32). Bei einigen Lernenden könne der Gemeinsame Gegenstand nun sinnlich-konkret erfahrbar gemacht werden, z.B. durch sensorische Erfahrung der Düfte oder durch die Wärme. Von anderen solle der Gemeinsame Gegenstand hingegen logisch-abstrakt angeeignet werden, so etwa „auf der Ebene der mathematischen Bewältigung der physikalischen und chemischen Vorgänge“ (Feuser 1989:32). Die verschiedenen Handlungen der einzelnen Schüler*innen (von sinnlich-konkret bis logisch-abstrakt) würden sich aber immer auf die jeweils gleiche Grundkategorie (im genannten Beispiel auf die Veränderungen bewirkende Wärme) beziehen.
Auf metaphorischer Ebene verdeutlicht Feuser seine didaktischen Überlegungen anhand eines Baummodells (z.B. Feuser 2011:95). Der Baumstamm symbolisiert dabei die äußere thematische Struktur eines gemeinsamen Projektes oder Vorhabens. Das Innere des Stammes hingegen stellt das Fundamentale und Elementare eines Projekts dar und konstituiert den Gemeinsamen Gegenstand. Die Äste und Zweige entsprechen der Vielfalt an Handlungsmöglichkeiten, die sich im gemeinsamen Projekt ergeben. Der Gemeinsame Gegenstand wird – entsprechend der Erkenntnismöglichkeiten einzelner Schüler*innen – am Astansatz sinnlich-konkret und an der Astspitze in seiner abstrakt-logischen Gestalt repräsentiert. Vom Astansatz bis zur Astspitze seien damit alle Lern-, Handlungs- und Entwicklungsniveaus enthalten, so dass der Gemeinsame Gegenstand allen Kindern und Jugendlichen zugänglich gemacht werden könne. Feusers Intention entsprechend müsse die kooperative Tätigkeit neben reziproken interaktiven und metakommunikativen Prozessen ebenfalls Möglichkeiten des basalen Dialogs (so etwa auf somatischer, tonischer oder lautlicher Ebene) sowie der Assistenz einschließen (vgl. Feuser 2011:96).
Wie könnte sich nun ein verbindendes Moment im Sinne des Gemeinsamen Gegenstands bezüglich gruppenimprovisatorischer Praxis darstellen? Was wären mögliche elementare Grunderfahrungen und Grundprinzipien von Gruppenimprovisation, die allen Schüler*innen auf ganz verschiedenen Entwicklungsniveaus zugänglich gemacht werden könnten?
Die Frage nach dem Elementaren in der Musik ist in der musikpädagogischen Diskussion nicht neu (z.B. Richter 1996). Wichtige Ansatzpunkte ergeben sich vor allem dort, wo entwicklungspsychologische Aspekte akzentuiert und musikalisches Lernen auf allen Abstraktions- und Anspruchsniveaus in den Blick genommen werden. Dabei weist insbesondere Juliane Ribkes (1995) Konzeption einer Elementaren Musikpädagogik und ihre Forderung nach einer basalen und schüler*innenzentrierten Musikerziehung Schnittmengen mit den Grundgedanken Feusers auf (vgl. Weber 2012, 2020; Orgass 2018:49–50).
Improvisation in der Elementaren Musikpädagogik (Juliane Ribke)
Durchaus vergleichbar mit der Entwicklungslogischen Didaktik bestimmt Ribke einen elementaren Kern des Musikunterrichts. In diesem sollen Inhalte und Aktionsweisen so bestimmt werden, dass Schüler*innen auf allen Entwicklungsniveaus mit direkt verfügbaren Mitteln – etwa mit Stimme, Körperinstrumenten und elementarem Instrumentarium – in den Musikunterricht und in künstlerische Prozesse eingebunden werden können. Ähnlich wie Feuser charakterisiert Ribke das Elementare als eine „nicht weiter rückführbare Entität“, die einem Sachbereich im Sinne seiner Grundsubstanz zugrunde liegt (Ribke 1995:35).
In ihrem Aufsatz über Ensemblespiel in der Elementaren Musikpädagogik misst Ribke (2001) den musikalischen Praxen Exploration und Improvisation eine hohe Bedeutung zu, um die Ansprüche Elementarer Musikpädagogik umzusetzen. Denn gerade in explorativen und improvisatorischen Umgangsweisen ließe sich auf besondere Weise an frühkindliche Verhaltensweisen anknüpfen und damit ein elementarer Kern konstituieren. Dieser bezieht sich bei Ribke vor allem auf eine für alle Schüler*innen unmittelbar verständliche Körper- und Lautgestik, die ontogenetisch auf die vorsprachlichen und klanglich-musikalisch geprägten Interaktionen der frühen Kindheit zurückgreift (vgl. Ribke 2001:55). Ribke meint die Vokalisationen von Kleinkindern (= Baby Talk) sowie die Interaktion zwischen Bezugsperson und Kind in den allerersten Lebensmonaten, wenn beide mit Mimik, Lauten und Gesten miteinander kommunizieren: Ein Kind äußert über (Laut-)Gestik ein Gefühl. Die Eltern oder Bezugspersonen spiegeln die Gesten und Laute auf derselben Weise. Sie passen ihre Mimik dem Kind an und untermalen und begleiten das Geschehen.
In dieser vorsprachlichen Kommunikation erwerben Kinder schon früh ein musikbezogenes Erfahrungswissen und Ausdrucksrepertoire (vgl. Ribke 2001:53; Stadler Elmer 2015:100–131). So finden sich sowohl im Baby Talk als auch im kindgerechten Sprechen der Eltern gestische Formen sprachlicher Interaktion, die – über die Parameter Tonhöhe, Tondauer, Tempo, Rhythmus, Lautstärke oder Stimmfarbe – sowohl in der Sprache als auch in der Musik zur Modulation des Ausdrucks genutzt werden können und vor allem dem affektiven Austausch sowie der Regulierung von Emotionen dienen.
Ribke schlägt nun vor, Körper- und Lautgestik als Anknüpfungspunkt für elementaren Musikunterricht zu nutzen, etwa wenn in Klangexplorationen stimmhafte „Empfindungslaute“ – zum Beispiel Wohllaute, Erschrecken oder Kampflaute – spielerisch erkundet und in experimentelle interaktive Improvisationen oder in die Vertonung von Phantasielandschaften, Gesprächs- oder Märchenszenen eingebunden werden (vgl. etwa Ribke 1995:236–275). Auf diese Weise könne auch ohne komplexe spieltechnische Fertigkeiten unmittelbar explorierend, improvisierend und gestaltend „mit Grundphänomenen der Musik (z.B. Klängen, Klangverläufen, Parametern, Motiven, Rhythmen)“ umgegangen werden (Ribke 2001:47). Ferner würden zentrale „Qualitäten lebendigen Ensemblespiels auf jedem Ausführungsniveau“ offengelegt (Ribke 2001:50), die sich etwa auf elementare soziale Fähigkeiten (Einander-Zuhören, Akzeptieren anderer Ideen, Hervortreten und Sich-Anpassen) beziehen können (vgl. Ribke 1995:32). Auf improvisationsbezogener Ebene seien vor allem dialogische Techniken wie „Führen – Sich führen lassen“, „Hervortreten – Sich eingliedern“, „Abwarten – Sich einreihen“, „Übernehmen – Weiterentwickeln oder Durchsetzen“ relevant (Ribke 2001:49–50).
Elementare Interaktionsprozesse improvisatorischer Praxis
Ich möchte nun an die Überlegungen Ribkes anknüpfen und beispielhaft einen möglichen Aspekt herausgreifen, der einerseits bereits auf basaler Entwicklungs- und Lernebene und andererseits auch auf höherem Ausführungsniveau als konstituierendes Merkmal improvisatorischer Praxis relevant werden kann. Ein solcher zentraler elementarer Prozess musikalischen und insbesondere improvisatorischen Handelns bezieht sich meines Erachtens auf die von Ribke angesprochenen dialogischen Improvisationstechniken mit (laut-)gestischen Mitteln: etwa Spiegeln, Begleiten, Hervorrufen, Führen und Folgen, Synchron-Sein oder Dialogisieren.
Basal sind diese Interaktionsmodi, weil sie – wie oben dargelegt – an frühkindliche Interaktionsweisen mit (Laut-)Gesten anknüpfen. Zudem bieten sie wichtige Hinweise auf musikalische Partizipationsmöglichkeiten von Kindern und Jugendlichen mit komplexen Binderungen, die vorwiegend auf perzeptivem beziehungsweise sensomotorischem Aneignungsniveau lernen. So wurden in der sonderpädagogischen Fachdidaktik Musik sowie in der Musiktherapie zahlreiche Konzepte ausgearbeitet, die diese musikalischen und zugleich frühen Interaktionsformen auf ganz elementarer Ebene für die Arbeit mit Schüler*innen mit komplexer Behinderung aufgreifen (z.B. Theilen 2004; Schumacher 2017) und unter bestimmten Voraussetzungen auch in Gruppenprozessen in einer Klasse eingesetzt werden können (vgl. Meyer 2012:24, 50–51).
Das gemeinsame Ziel der sonderpädagogisch und therapeutisch basierten Konzepte besteht vor allem darin, auf der Basis musikalischer Interaktion die (musikalischen) Ausdrucksmöglichkeiten von Kindern anzubahnen beziehungsweise zu erweitern. Auf methodischer Ebene gehen hierzu die pädagogischen oder therapeutischen Fachkräfte oder gar die Mitschüler*innen improvisierend auf alle körperlichen und lautlichen Äußerungen des Kindes (Atem, Gesten, Mimik oder Laute) ein und verfolgen diese mit der Stimme oder mit einem Instrument dialogisch-improvisierend weiter. Dabei nutzen sie die genannten interaktiven Techniken etwa des Spiegelns, Begleitens, Hervorrufens oder Dialogisierens, d.h. sie geben Impulse, setzen einen musikalischen Rahmen und bieten damit Halt oder provozieren einen somatischen oder lautlichen Impuls. Aufgrund ihrer Korrelation zu künstlerischen Praxen werden diese Interaktionsformen von den Autor*innen auch als „Improvisationstechniken“ bezeichnet (z.B. Meyer 2012:24).
Tatsächlich spielen diese dialogischen Improvisationstechniken in künstlerisch-elaborierten Improvisationspraxen, insbesondere in den energetischen und kinetischen Improvisationen der sogenannten Freien Improvisation oder des Free Jazz, in denen Atem-, Sprachgeräusche und Gestik ein wichtiges Mittel musikalischer Gestaltung und interaktiver Modellierungsprozesse darstellen, eine wesentliche Rolle (vgl. Figueroa-Dreher 2016; Weber 2020:106–117). So unterscheidet der Improvisationsmusiker und Komponist Vinko Globokar (etwa 1971) die aus der Alltagskommunikation entnommenen interaktiven Optionen ‚Imitieren‘, ‚Integrieren/Folgen‘, ‚Sich zurückhalten‘, ‚das Gegenteil tun‘ oder ‚etwas Verschiedenes tun‘, die auch in musikästhetischen, -didaktischen oder -soziologischen Ausführungen immer wieder aufgegriffen werden (vgl. z.B. Meyer-Denkmann 1972; Alperson 2009; Gagel 2010; Figueroa-Dreher 2016).
Gerade in offenen Improvisationsprozessen, in denen das musikalische Material eine eher geringe Vorstrukturierung aufweist, erhält die Initiierung und Gestaltung musikalischer Beziehungen zwischen den Spielenden und Materialien eine zentrale Bedeutung. Das individuelle Repertoire der Musiker*innen kann dann als „Rohmaterial“ (Figueroa-Dreher 2016:194) zum Ausgangs- und Bezugspunkt einer Improvisation werden, das den gemeinsamen Spielraum eröffnet und Reaktionen und Interaktionen initiiert (vgl. Mäder et al. 2013:44). Erst im Improvisationsverlauf werden die Materialien – etwa mittels der genannten Interaktionsmodi – aufeinander bezogen, in Relation gesetzt und geformt, so dass in Echtzeit neue Formen und Strukturen entstehen können. Das interkommunikativ geteilte Material (Regeln, Modelle oder Techniken) kann wiederum über Prozesse der Nachahmung, Variation, Experimente oder Reflexion auf eine subjektive Ebene als „sedimentierte Erfahrung“ übergehen (Figueroa-Dreher 2016:171) und als „Teil der ‚Sprache‘ der Musikerin oder des Musikers inkorporiert“ werden (Figueroa-Dreher 2016:202). Damit wird ein dialogischer Aspekt des Improvisierens evident: Das individuelle Repertoire der Spieler*innen „bündel[t]“ sich in der Interaktion zu einer „emergente[n] Musik“, die „mehr ist als die Summe der aktuell gespielten Materialien“ (Figueroa-Dreher 2016:312).
Elementare Interaktionsprozesse als möglicher Gemeinsamer Gegenstand
Die in den herangezogenen Konzepten genutzten Formen musikalischer Interaktion – Synchron-Sein, Imitieren, Begleiten, Dialogisieren etc. – können nun insofern ein elementares Moment improvisatorischen Lernens konstituieren, als dass sie auf allen Entwicklungs- und Lernniveaus als konstitutive Merkmale improvisatorischer Praxis erfahren und erlebt werden und musikalische Lern- und Aneignungsprozesse initiieren können. Im Sinne eines Elementarkerns (Ribke) können diese zum Ausgangs- und Bezugspunkt didaktischer Entscheidungen und Inszenierungen gemacht werden und eine interaktionsbasierte Kooperation an einem Gemeinsamen Gegenstand anregen. Ferner erlaubt der interaktive Umgang mit (Laut-)Gesten zahlreiche Anbindungen an künstlerische Kompositions- und Improvisationskonzepte, wodurch ihr differenzierender und exemplarischer Wert erkennbar wird.
Mit Bezug zum Baummodell Feusers könnten die Interaktionsmodi als gemeinsames Moment im Inneren des Stamms verortet werden und von dort aus zur Grundlage gemeinsamer Spielregeln, Unterrichtsvorhaben oder Projekte (Baumstamm) werden. Der körperlich-sinnliche Dialog mit musikalischen Mitteln wäre am Astansatz zu lokalisieren, etwa wenn basale körperliche Vorgänge (z.B. Atem, Bewegungen oder Lautgesten) als Ausgangspunkt für gemeinsame Improvisationsprozesse genutzt werden. An der Astspitze hingegen ließen sich komplexe Regelsysteme des wechselseitigen Reagierens, Agierens und Dialogisierens initiieren – angeregt etwa durch gestische oder grafische Cues, die den Spieler*innen angezeigt werden.
Perspektiven für die Initiierung eines gemeinsamen didaktischen Rahmens
Die inklusionsdidaktische Herausforderung besteht nun vor allem darin, die verschiedenen Ausführungs-, Anspruchs- und Entwicklungsniveaus so in den Kontext eines gemeinsamen thematischen Rahmens zu stellen, dass die Bedeutung für das Ganze als „Gemeinsames aus dem Verschiedenen“ (Schatt 2008:131) auch in künstlerischer Hinsicht für alle Schüler*innen spürbar und verständlich wird.
Substanzielle methodische Anregungen für einen verbindenden Rahmen bieten zahlreiche künstlerische Improvisationskonzepte, in denen Klang- und Lautgesten mittels der hier genannten Interaktionsformen dialogisch inszeniert werden: so etwa in Gertrud Meyer-Denkmanns Körper Gesten Klänge (1998), in Frederic Rzewskis Sound Pool (1969) oder in Vinko Globokars Individuum <–> Collectivum (1979), die auch schon für musikpädagogische Zusammenhänge als geeignete Unterrichtsinhalte plausibel gemacht wurden (z.B. Langbehn 2001; Gagel 2010:110–115; Meyer/Sheridan 2014). Dabei handelt es sich um künstlerische Konzepte, die als offene Spielvorlage bereits so konzipiert sind, dass sie von möglichst vielen Spieler*innen unmittelbar verstanden und umgesetzt werden und im Sinne einer „natürlichen Differenzierung“ (Berlinger/Dexel 2017) Partizipationsmöglichkeiten auf vielfältigen Ausführungs- und Entwicklungsniveaus bieten können.
Im Folgenden möchte ich beispielhaft zwei künstlerische Konzepte herausgreifen, die sich mit entsprechenden didaktischen Modifizierungen und Ergänzungen – ausgehend von den Interaktionsmodi Synchron-Sein, Imitieren, Begleiten oder Dialogisieren als Gemeinsamer Gegenstand – als ein binnendifferenziertes gemeinsames Vorhaben oder Projekt eignen könnten: Rzewskis Sound Pool (1) sowie die dirigierte Gruppenimprovisation (2).
(1) Sound Pool (Frederic Rzewski)
Rzewskis Sound Pool kann insofern als Anregung für kooperative Spielprozesse dienen, als dass offene interaktive Improvisationsprozesse mittels verbaler Spielanweisungen initiiert werden. In seiner Komposition, die Rzewski als „a free improvisation session whose limits are undefined“ (1969:1) versteht, dienen die instrumentalen und vokalen Möglichkeiten der Musiker*innen als Materialvorrat für die Gruppenimprovisation. Diese sollen im Sinne von ‚Zutaten‘ während des Spiels unter Einhaltung kooperativer und sozialer Regeln in den gemeinsamen musikalischen ‚Pool‘ geworfen werden. Rzewskis verbale Anweisungen regen zu begleitenden, imitierenden, hervorrufenden oder dialogisierenden Interaktionen an. So lautet etwa eine Regel: „Accompaniment: providing a background, or support, for a sound made by someone else; any sound over which someone could play a solo“ (1969:1). Oder: „Find your own theme and improvise on it. Improvise on somebody else's theme. Combine the two“ (2). Zudem bindet Rzewski explizit unterstützende Interaktionsmöglichkeiten ein: „If you are a strong musician, mostly accompanying work, that is, help weaker players to sound better“ (1).
Rzewskis Regeln inszenieren das, was Reinhard Gagel (2010) als „Beziehungshören“ bezeichnet, d.h. ein Verknüpfen beziehungsweise ein interaktionsbezogenes Relationieren des eigenen und fremden Materials (vgl. auch Weber 2020:143). Damit betont Gagel die Notwendigkeit eines zugewandten und intensiven „Lauschens“, das erst eine „Gemeinsamkeit zwischen den Spielerinnen und Spielern in einem Ensemble“ schafft (Gagel 2010:70). Spieler*innen können sich an jeder Stelle eines Improvisationsprozesses fragen, welche Funktion und Aufgabe ihr musikalischer Anteil beziehungsweise ihre ‚Stimme‘ im Gesamtverlauf einnimmt. Eigene Aktionen können dann im Verhältnis zum Spiel der anderen Musiker*innen positioniert werden.
Gemeinsam mit den Lernenden könnten eigene Spielregeln formuliert, individuell zugeschnitten, erprobt und – in einem zyklischen Prozess aus Planung, Ausführung und Reflexion (vgl. Weber 2020:264–272) – schrittweise verbessert und angepasst werden. Je nach individuellem Anspruchs-, Abstraktions- und Entwicklungsniveau können dabei passende Hilfestellungen und Unterstützungen für einzelne Spieler*innen angeboten werden. Möglich wären etwa individualisierte Regelstellungen mit Piktogrammen oder Bildern sowie die Einbindung einer assoziativen und metaphernreichen Sprache (vgl. Weber 2020:149–151, 261–266). Zudem können unterschiedliche Grade an Steuerung und Handführung, ein angepasstes Instrumentarium, visuelle sowie taktile, mediale oder elektronische Hilfsmittel die Partizipation einzelner Schüler*innen ermöglichen. Anregungen und Konzepte hierzu sind in der Literatur zur sonderpädagogischen Musikdidaktik zu finden (vgl. etwa Probst et al. 2006; Laufer 2012; Tischler 2013; Dehler 2016).
(2) Dirigierte Gruppenimprovisation
Die Methode des Anleitens von Gruppenimprovisation mit Hilfe von Dirigiergesten wurde von Musikern wie Butch Morris oder John Zorn zu Beginn der 1980er Jahre entwickelt (vgl. Weber 2020:119) und wird inzwischen zunehmend in künstlerischen Kontexten sowie in sozial- und sonderpädagogischen und inklusiven Settings (z.B. Monheimer Improvisationsorchester, Kölner ‚Horchester ohne Grenzen‘, Barrierefreies Stadtteilorchester ‚Sounds of Buchheim‘) aufgegriffen und modifiziert (etwa Meyer/Sheridan 2014; Tang 2016:45). Gerade für das gemeinsame Musikmachen in heterogenen Gruppen bietet das Dirigieren mit einfachen und teilweise intuitiv zu verstehenden Handzeichen die Möglichkeit, gemeinsame improvisatorische Interaktions- und Reaktionsprozesse der Spieler*innen in Echtzeit zu initiieren und unterschiedliche Fähigkeiten zu koordinieren.
Dabei werden die Möglichkeiten und Impulse der einzelnen Musiker*innen zum Ausgangspunkt einer dirigierten Gruppenimprovisation. Ein Spielprozess kann etwa damit beginnen, dass einem Spieler der Einsatz für eine eigene freie Improvisation gegeben wird. Eine Dirigentin – zum Konzept der Improvisationsorchester gehört es, dass sich die Mitglieder bei der Aufgabe des Dirigierens auch während des Spielprozesses untereinander abwechseln – kann diese musikalische Idee aufgreifen und ausgehend von dieser den weiteren interaktiven Modellierungsprozess mittels gestischer Impulse koordinieren: Mit bestimmten Dirigiergesten kann sie etwa einzelne Passagen oder Pattern wiederholen, einen Klang nach entsprechenden Vorgaben ausformen oder Tonhöhe und Lautstärke verändern lassen. Die Handzeichen umfassen neben Impulsen zur Spieler*innenauswahl (wer spielt?, los/stopp, ‚schwingende‘ Auswahl der Spieler*innen), zu Klangparametern (langer/kurzer Klang, Wechsel der Dynamik), zum Material (Geräusch, Klangpunkte, Melodie, ‚Etwas Verrücktes spielen‘) vor allem auch Anregungen und Impulse zur Interaktion: ‚Wie ein Schatten folgen‘, Begleiten, Zuhören und Imitieren, spiele ein Solo etc. (vgl. etwa Meyer/Sheridan 2014:213–214).
Sowohl für die Lehrenden als auch für die Schüler*innen besteht dabei die Möglichkeit,
- mittels der Zeichen in der direkten Interaktion klangliche (auch noch nicht intentionale wie somatische, gestische und lautbezogene) Impulse von Spieler*innen aufzugreifen und in den gemeinsamen Spielprozess zu integrieren;
- Spielweisen durch gezielte Impulse und Dirigiergesten anzuregen und hervorzulocken;
- auf individuelle Möglichkeiten und Schwierigkeiten direkt während des Spielprozesses zu reagieren und etwa unsichere oder zurückhaltende Beiträge mittels ‚Klangregie‘ in den Gesamtklang einzubetten;
- auf basaler Lernebene etwa Ursachen-Wirkungsreaktionen zu ermöglichen und ein Kausalitätsverständnis anzubahnen (z.B. wenn die Spieler*innen auf selbst erzeugte Signale für ‚Los‘ oder ‚Stopp‘ reagieren).
Elementarisieren und erweitern lassen sich die Dirigiergesten auch durch den Einsatz von Bildkarten und Piktogrammen, durch taktile Impulse (z.B. Rückendirigat) oder durch den Einsatz von Ansteuerungssystemen (etwa Powerlink, iPad), um multisensorische Zugänge auf basalen Tätigkeits- und Handlungsniveaus zu ermöglichen (vgl. etwa Tischler 2013:224, 227).
Dialogisches Lernen und Rolle der Lehrenden
In einem hier konturierten inklusiven Musikunterricht am Gemeinsamen Gegenstand changiert die Lehrer*innenrolle zwischen Aufgaben des Begleitens, Unterstützens, Mitmachens, Zeigens oder Moderierens. Ein solches Vorgehen setzt vor allem aber sowohl die aktive Teilnahme der Lehrenden im Sinne eines „Gemeinsam-an-der-Sache-Arbeitens“ (Schaarschmidt 1991:131, i. Orig. kursiv) als auch eine offene Haltung gegenüber Unvorhersehbarkeiten in Unterrichtsprozessen voraus (vgl. Gagel 2010:148–149). Gerade die enge und aufmerksame Interaktion mit Schüler*innen erlaubt es, auf neu auftauchende Fragen, Probleme, Ideen oder auf Veränderungen von Befindlichkeiten, Interessen und Motiven unmittelbar und quasi improvisierend zu reagieren. In der direkten improvisatorischen Interaktion können Handlungen von Schüler*innen unterstützt sowie Grundlagen für die musikbezogene Einschätzung von individuellen Handlungsmöglichkeiten – im Sinne eines dialogischen Lernens in der Zone der nächsten Entwicklung (Vygotskij 1987) – gewonnen werden. Sowohl Lehrende als auch Schüler*innen haben in der engen improvisatorischen Interaktion die Möglichkeit etwa
- somatische, lautliche und musikalische Äußerungen der Lernenden über die genannten Interaktionsmodi aufzugreifen und dialogisch-improvisierend weiterzuverfolgen (= respondierende Funktion);
- Impulse (auch kontrastierende, provozierende) gezielt einzusetzen, um etwa Spielweisen hervorzulocken, Gewohnheiten aufzubrechen, ein Auf- oder Bemerken für bislang Nichtentdecktes bei den Lernenden zu erzielen (= aktivierende Funktion);
- im gemeinsamen Spiel Grundlagen für die Einschätzung der individuellen Möglichkeiten von Schüler*innen zu gewinnen: z.B. Welches Improvisations-Repertoire und welche Spiel-Strategien stehen zur Verfügung und werden von den Spielenden favorisiert? An welchen Stellen beeinträchtigen Unsicherheiten oder Hemmungen das Spiel? (= verstehende, diagnostische Funktion);
- bei Schwierigkeiten direkt auf Schüler*innen einzugehen, diese etwa unterstützend zu begleiten oder gegebenenfalls Impulse oder Spielvorlagen etc. zu modifizieren (= unterstützende Funktion);
- vermeintliche Fehler oder ein zaghaftes und unsicheres Spiel durch neu kontextualisierendes Begleiten und Variieren ‚positiv‘ umzudeuten und in einen neuen beziehungsweise in den gemeinsamen Spielrahmen zu stellen (= kontextualisierende Funktion, Reframing) (Weber 2020:261–262).
Schlussbemerkungen
In den vorangegangenen Ausführungen wurden fachdidaktische Perspektiven für einen inklusiven Musikunterricht beispielhaft im Praxisfeld Improvisation aufgezeigt. Ausgehend von Möglichkeiten musikalischer Improvisation mit (Laut-)Gesten wurden interaktive Grundprinzipien – etwa Synchron-Sein, Imitieren, Begleiten, Dialogisieren – benannt, die sowohl auf basaler Entwicklungs- und Lernebene als auch auf ‚hohem‘ Ausführungsniveau als konstituierende Merkmale improvisatorischer Praxis relevant werden könnten. Diese können als fundamentaler und elementarer Kern (= Gemeinsamer Gegenstand) im Sinne Feusers interpretiert werden, die sich im gemeinsamen Improvisationsprozess konstituieren beziehungsweise, die im Vorfeld geplant und somit als Ausgangs- oder Bezugspunkt von folgenden inklusiven Unterrichtsprozessen fungieren können.
Improvisation, als ein Konglomerat aus unterschiedlichen „Sub-Dimensionen“ (Figueroa-Dreher 2016:313) und Teilfähigkeiten, ist äußerst komplex. Beispielhaft wurde lediglich ein möglicher Aspekt des Improvisierens in der Gruppe herausgegriffen. Weitere improvisationsspezifische elementare Aspekte (Ordnungsprinzipien als Invarianten musikalischer Gestaltung; Gesten als Ausdrucksträger; zyklisches Wechselspiel von Imitation und Variation; improvisatorische Suchprozesse als elementares Moment der Form- und Sinngenerierung; intensives Aufgehen in der Improvisation) sind in der Dissertation Musikalische Improvisation im Kontext inklusiver Pädagogik (Weber 2020:201–212) dargelegt, in der ebenfalls eine vertiefte und kritische Auseinandersetzung mit Passungen, Affinitäten und Unterschieden der Improvisations- und Inklusionsthematik – insbesondere der Theorie Feusers – vorgenommen wurde.
Mit den vorangegangenen Ausführungen wird auf ein weites Verständnis von Improvisation rekurriert, da nicht nur intentionale und bewusste improvisatorische Handlungen, sondern auch basale Formen frühkindlicher Vokalisationsspiele und Interaktionen einbezogen werden. Dem Anspruch der inklusiven Theoriebildung Feusers folgend gilt es diese improvisatorischen Aspekte den individuellen Möglichkeiten der Schüler*innen entsprechend didaktisch und methodisch in Unterrichtsprozesse einzubinden und in einen gemeinsamen curricularen Bezugsrahmen zu stellen. Dabei erfordert der Bezug auf vor allem vorsprachliche und körperbezogene basale Aktivitäten eine Umstrukturierung und Erweiterung allgemeiner Inhalts-, Ziel- und Kompetenzvorstellungen (vgl. Theunissen 1997:160). Erst durch die Anknüpfung an verbindende elementare Formen des Musikmachens und durch die Passung des Unterrichts an die tatsächlichen Aneignungs- und Zugangsmöglichkeiten der Lernenden kann eine Perspektive für (Musik-)Unterricht eröffnet werden, die keinen Menschen ausschließt.