„Glauben Sie mir. Kein Wort.“ – Die Entwicklung der Kunstvermittlung zwischen documenta X und documenta 14
Abstract
Im Kontext der (documenta-)Kunstvermittlung waren Gila Kolb und Nora Sternfeld seit der documenta X als Lernende, Lehrende und Vermittlerinnen teils direkt und teils indirekt beteiligt. Basierend auf ihren Erfahrungen, ihren Gesprächen mit weiteren Akteur*innen sowie auf Materialien aus dem documenta archiv, Texten und öffentlich zugänglichen Quellen gehen sie im vorliegenden Beitrag den Ansätzen und Effekten der documenta Kunstvermittlung der letzten zwanzig Jahre nach. Im Zusammenhang mit einem seit den 1990er Jahren zunehmend offenen, prozessualen, diskursiven und kontextsensiblen Kunstbegriff verstehen sie Kunstvermittlung grundsätzlich als wesentlichen Teil der kuratorischen Konstellation, sodass es bei der Vermittlung eher darum geht, dass etwas geschehen kann, als dass bloß etwas gezeigt wird (vgl. Ziaja/Sternfeld 2012). Die Kunstvermittlung der letzten fünf documenta Ausgaben, so argumentieren sie, entwickelte sich vor diesem Hintergrund mal im affirmativen, mal im reflexiven, mal im kritischen Dialog mit den jeweiligen kuratorischen Konzepten und stimulierte dabei auch merklich die Diskurse und Praktiken der Kunstvermittlung über die documenta hinaus. Neben einer Strategie des Entbergens bei der dX (1997) beschreiben die Autorinnen den Ansatz der Gegenkanonisierungen bei der D11 (2002), die kritisch-reflexiven Praxen bei der d12 (2007), skeptische Versammlungen von situiertem Alltagswissen bei der d(13) (2012) sowie den Anspruch des Verlernens eigener Prämissen vom Süden her bei der d14 (2017).
Jede documenta seit 1997 hat die Idee einer „Kunstvermittlung“ zunächst im deutschsprachigen Raum und mittlerweile in vielen Teilen der Welt mitgeprägt und jeweils in Auseinandersetzung mit Theorien und Praxen in Kunst und Pädagogik vorangetrieben.
So entwickelte sich ein zunehmend konturierter Begriff der „Kunstvermittlung“ als eigenständige, kritische und dekonstruktive Praxis (vgl. Kunstcoop© 2002; Mörsch 2002). Die Kunstvermittlungsansätze der jeweiligen documenta Ausstellungen erhielten Impulse von translokalen Kontexten und strahlten wiederum in diese aus – sodass der deutsche Begriff „Kunstvermittlung“ mittlerweile gar weltweit zu einem Referenzpunkt im Feld geworden ist.
Bis zur documenta X war Kunstvermittlung nicht unbedingt die Bezeichnung für pädagogische Praktiken in Institutionen (vgl. Fast 1995) – erst im Anschluss an diese Ausstellung wird der Begriff zunächst in Deutschland und nach der documenta 12 (2007) auch zunehmend international zum Sammelbegriff für eine vielschichtige Tätigkeit im Ausstellungsbereich (siehe: Zeit für Vermittlung).
Das Präfix „ver-“ in Vermittlung kommt im Kontext der documenta X gemeinsam mit einem dekonstruktivistischen Selbstverständnis in den Diskurs: Es verweist darauf, dass – über die Idee der Weitergabe von Festgeschriebenem in gleicher Form hinaus – Vermittlung immer auch Transformation bedeutet und auf etwas hindeutet, das nicht zu fassen ist. Sehen wir das Präfix in diesem Sinne, dann geht es bei der Vermittlung weniger um eine simple Übermittlung, Datenübertragung oder Mediation, sondern mindestens so sehr darum, dass Brüche, Widerstände und Irritationen eine kritische Reflektion ermöglichen. Denken wir etwa an die Konnotationen des Präfixes bei „ver-lernen“ oder „ver-lieben“ (Sternfeld 2014:9). Eine ähnliche Definition von Kunstvermittlung nimmt Eva Sturm in Unterscheidung zur Kunstpädagogik vor: „Nicht jede Kunstpädagogik ist Kunstvermittlung, sondern nur da, wo sie mit Kunst, von Kunst aus, rund um Kunst arbeitet.“ (Sturm 2004:176). Anhand der Diskurse, theoretischen Bezugspunkte und Praktiken seit den ausgehenden 1990er Jahren verfolgen wir mit diesem Text Verschiebungen, Kontinuitäten und Brüche von Kunstvermittlungsansätzen bei der documenta.
documenta X – Führungen als Strategien des Entbergens
„Doch ich weiß, daß mit Kindern ins Museum zu gehen, der nicht allein seligmachende Weg ist, sie zur Kunst zu bringen.“ (Kirschenmann/Stehr 1997:7). Dieser Satz von Catherine David, die künstlerische Leiterin der documenta X (1997), der Vermittlung in wenigen Worten als notwendig und doch ungenügend markiert, steht der Einleitung der Materialien zur documenta X. Ein Reader für Unterricht und Studium voran.
Es ist insgesamt bezeichnend für die Verschiebung der Debatten im künstlerischen Feld der 1990er Jahre, dass zur dX ein ganzer Reader erschien, der die Vermittlung ins Zentrum rückte, und zwar vor dem Hintergrund einer zunehmend relationalen, diskursiven und kollaborativen künstlerischen Praxis, die den Werkbegriff überschreitet (vgl. Babias 2021:12). Die Auseinandersetzung mit der Kunstvermittlung prägt die Materialien ab ihrem ersten Wort und wird im selben Atemzug als unmögliche Aufgabe vorgestellt.
Die Rede von der Vermittlung kam also in den späten 1990er Jahren gleichzeitig mit einer sehr kritischen Auseinandersetzung mit Fragen der Vermittelbarkeit auf (vgl. Mandel 1997: 66-69). Ein wesentlicher Referenzpunkt wurde dabei der von Pierangelo Maset verfasste Text „Strategien des Entbergens: Kontextkunst und Kunstpädagogik“ aus den Materialien zur documenta X (Maset 1997:70-75). Ausgehend von dort gezeigten künstlerischen Positionen (wie etwa denen von Hans Haacke und Christian Philipp Müller) zeigt er die Bedeutung der aktiven Einbeziehung der Betrachter*innen für den Werkbegriff auf – die Kunst wird zum Instrument, zur Akteurin, zum Anlass für Auseinandersetzung. Kunstvermittlung hielt also in den 1990er Jahren als reflexive Praxis Einzug in das Kunstfeld. Sie kann damit gewissermaßen als die performative, angewandte Seite der damaligen Kontextkunst gelten. Die documenta spielte bei diesem Bedeutungszuwachs eine wesentliche Rolle, denn sie verdichtete Diskussionen, wie sie zu diesem Zeitpunkt im Bereich der Museumspädagogik in Städten wie Berlin und Wien geführt wurden, und brachte sie mit ästhetischen Theorien sowie mit künstlerischen Strategien in Verbindung (vgl. Höllwart 2005:105-119).
Insgesamt waren rund 60 Personen als Guides auf der documenta X tätig (Documenta11 Mappe 472). Zum ersten Mal waren die Abwicklung und Organisation der Vermittlung strukturell ausgelagert und fand als eigenständiges Format statt. Zwar war auch die „Besucherschule“ von Bazon Brock auf der documenta 9 als ein externes Angebot präsent, aber diese ersetzte nicht die Führungen über die Ausstellung. Diese konkreten Angebote der Vermittlung waren dennoch eher konventionell kunstwissenschaftlich ausgerichtet: Sie bestanden aus einem „Führungsdienst“, aus Vorträgen sowie individuell buchbaren Leistungen. Abschließend, in einer Planungssitzung der Documenta11, wurde die Kunstvermittlung als preisstrukturell „kompliziert und deshalb zu vereinfachen“ (Documenta11 Mappe 472) beschrieben. Viele der Kunstvermittler*innen der documenta X arbeiteten später wieder für eine documenta als Kunstvermittler*innen – unter ihnen zwei, als Leiter*innen des Vermittlungsprogramms, Karin Rebbert und Ulrich Schötker.
Documenta11 – Guides als Gegen-Informant*innen
Für die Documenta11 (2002), die mit ihren Plattformen bereits mehr als ein Jahr vor der Eröffnung in Kassel begann und eine postkoloniale Dezentrierung des Westens vorantrieb, war die Vermittlung zentral für die kuratorische Konzeption. Der künstlerische Leiter, Okwui Enwezor, sah das Education Project als wesentlichen Teil seiner Ausstellung an – unter anderem in Verbindung mit einem Stipendiat*innenprogramm für eine kleine Gruppe nicht-westlicher Kunst- und Kulturarbeiter*innen. Er machte neben der organisatorischen Leiterin, Karin Rebbert, den Philosophen und Soziologen Oliver Marchart für die Konzeption und inhaltliche Leitung der Vermittlung verantwortlich und beauftragte ihn mit der Entwicklung eines Curriculums für die Ausbildung der Vermittler*innen. Marchart definierte „Vermittlung als Gegenkanonisierung“ und Erziehung als „im wesentlichen unvollendbaren Prozess“ (siehe: Documenta-Lounge 2001).
Der eigentliche kuratorische Kern der Vermittlung bestand darin, dass sie ein Bindeglied zwischen den vier dezentralen Plattformen, den transdisziplinäre Diskussionsforen in Wien/Berlin, Neu-Delhi, Lagos, St. Lucia, und der Ausstellung in Kassel bildeten. Eine 5-wöchige Ausbildung gab Einblicke in die Konzeption und die Arbeiten der Documenta11, in die Bedingungen der Realisierung der Ausstellung, in theoretische Kontexte des Ausstellens, in die Geschichte der documenta als Institution, aber auch in Ansätze der Vermittlung (vgl. Marchart 2005:51f.). Das Curriculum umfasste zum Beispiel Sprecherziehung und Tools zur Erarbeitung einer Führung (Documenta11 Mappe 167). Dabei hatte eine Führung Karin Rebbert zufolge „grundsätzlich zweierlei zu leisten: sie sollte sowohl einzelne künstlerische Positionen vorstellen als auch den weiteren konzeptionellen Rahmen der Documenta11 reflektieren“ (Rebert 2002:87ff.). Darüber hinaus sollte sie Gegenerzählungen vorantreiben – verstanden als counter-narratives, die dem bereits anerkannten Kanon andere Versionen gegenüber oder zur Seite stellen – nicht ohne selbstreflexiv die eigene Sprecher*innenposition zu befragen. Die Vermittlung hatte also ebenso hohe Ansprüche wie die Ausstellung: Sie sollte Teil des von der gesamten Documenta11 verfolgten Projekts der Gegenkanonisierung sein und trug dazu bei, dass die Documenta11 eine Hegemonieverschiebung der Diskurse im Kunstfeld vollzog. Oliver Marchart skizziert diese auf vier Ebenen:
1) Repolitisierung des Kunstdiskurses,
2) Dezentrierung des Westens,
3) Diskursverschiebung an der Kunst-Theorie Schnittstelle,
4) Aufwertung von Vermittlungsstrategien (vgl. Marchart 2008).
Insgesamt 120 Guides arbeiteten als Vermittler*innen für die Documenta11 und nahmen an der Ausbildung teil. Sie hatten die Aufgabe, die kritische, diskursverschiebende Position der Documenta11 deutlich zu machen und Besucher*innen zum Gespräch einzuladen. Dazu sagte der damalige Geschäftsführer der documenta, Bernd Leifeld, der lokalen Tageszeitung HNA: „Wir haben 120 Guides in fünfwöchigen Kursen an der Universität ausgebildet. Das sind gute Leute, mit Lust am Dialog. Dialogbereitschaft ist ein Charakterzug dieser Führungen.“ (Leifeld 2002:o.S.). Die Abwicklung der Vermittlung wurde wie schon bei der dX an eine Agentur outgesourct. Insgesamt waren die Anforderungen an die Vermittlung sehr hoch, wie es sich an der Aussage in einem Planungsgespräch im Vorfeld der Documenta11 zeigt, die die Vermittlung deutlich in den Bereich der Dienstleistung rückt: „Der Gast darf sich nur über eines ärgern – das ist die Kunst (und der Preis?)“ (Documenta11 Mappe 472). Hier zeigt sich also, dass die Erwartung intellektueller Reflexivität seitens des Kuratoriums mit der Erwartung maximaler Flexibilität gegenüber der von der Geschäftsführung proklamierten Notwendigkeit, „pädagogisch und betriebswirtschaftlich“ (ebd.) zugleich zu denken, einherging. Diese Situation produzierte – und produziert bis heute – Widersprüche, auch in allen folgenden Vermittlungsprojekten im Rahmen der documenta.
documenta 12 – Kritische Kunstvermittler*innen
Für die documenta 12 (2007) war Bildung zentral. Verknüpft mit der politischen Frage „Was tun?“ (documenta Magazin 3:2007), war diese explizit eines von drei Leitmotiven der von Roger Buergel und Ruth Noack kuratierten Ausstellung (siehe: Nanne Buurmann „Exhibiting Exhibiting documenta 12 as a Meta-Exhibition“). Entsprechend hoch war der Stellenwert der Vermittlung, die in unterschiedliche Bereiche gegliedert war. Diese waren:
- der documenta 12 Beirat – ein Gremium von Spezialist*innen lokalen Wissens, organisiert von Ayşe Güleç,
- Die Welt bewohnen – Schüler*innen, die sich die Ausstellung aneigneten und Führungen für Erwachsene anboten, konzipiert von Sonja Parzefall,
- Aushecken – das erste umfassende Kinder- und Jugendprogramm der documenta, konzipiert von Claudia Hummel,
- die documenta 12 Halle Lunch Lectures – das öffentliche Programm der documenta 12, koordiniert von Wanda Wieczorek) und nicht zuletzt
- die Abteilung Vermittlung, die wiederum ein umfangreiches Vermittlungsangebot entwickelte, das auch bei den Lunch Lectures präsentiert und reflektiert wurde. Hierfür hatten der Leiter der Vermittlungsabteilung Ulrich Schötker und die für die Begleitforschung Verantwortliche Carmen Mörsch ein Team von rund 80 Kunstvermittler*innen ausgewählt und ausgebildet.
Die Organisation und Theoretisierung der Vermittlung auf der documenta 12 finden sich in zwei umfassenden Publikationen gebündelt und kritisch reflektiert, die den Namen „Kunstvermittlung 1 und 2“ (Güleç et al. 2009; Mörsch et al 2009) tragen. Das klingt ambitioniert – doch nicht zu unrecht –, sollten sie doch in den Folgejahren die Diskurse der Vermittlung an vielen Orten der Welt prägen. Besonders der institutionskritische Anspruch, der sich selbst aus der Kritik nicht ausnahm, ist dabei bemerkenswert. Die Vermittlerin Julia Ziegenbein beschreibt eine von Hansel Sato mitentwickelte Methode, eine Führung zu beginnen, wie folgt:
„Mit dem Rücken einer Spiegelwand zugewandt, stelle ich mich vor die Gruppe und eröffnete die Führung mit einem in sich widersprüchlichen kurzen Monolog, in dem ich paradoxerweise die Gruppe zu einem Ausstellungsgespräch einlade, aber niemand außer mir spricht. Ich sage: ‚Ich mache keine Führung im klassischen Sinne, ich will Sie auch zu Wort kommen lassen‘, während alle anderen schweigend zuhören. Auf meinem T-Shirt steht der Aufdruck ‚Glauben Sie mir‘, auf dessen Rückseite in Spiegelschrift der Schriftzug ‚kein Wort‘ Letzterer wird erst auf der Spiegelwand hinter mir lesbar.“ (Ziegenbein 2009:233).
Wichtig für den Ansatz der kritischen Kunstvermittlung auf der documenta 12 waren in diesem Sinne: die Lust am Performativen, bei dem Kleidung und Gestik als Kritik wirksam werden konnten, der Anspruch, Kunst forschend zu vermitteln, das Publikum als Expert*innen ernst zu nehmen, die Orientierung an der gesellschaftlichen Relevanz von Kunst sowie die Strukturierung des Teams, die kollektive Organisationsformen der Vermittler*innen förderte.
Die Infragestellung von autorisiertem Wissen traf dabei Vermittler*innen und Publikum gleichermaßen: Beide wurden ermuntert, sich auf Basis eigener ästhetischer Erfahrungen von institutionell vorgegebenen und rein verbalen Wissensformen zu emanzipieren, wofür das „Führungsformat“ auf mindestens zwei Stunden angesetzt wurde. Die Ermächtigung der Vermittler*innen, eigene Positionen und Formate zu entwickeln statt kuratorische Konzepte nachzuerzählen, führte zudem dazu, dass Besucher*innen mit einer Vielzahl sich teilweise widersprechender Erzählungen und Vermittlungsmodi konfrontiert wurden (vgl. Buurman 2009; Mörsch 2008). Der performative und kritische Anspruch war auch prägend für Aushecken, den Raum für Kinder und Jugendliche auf der documenta 12, verortet zwischen zwei historischen Heckenkabinetten der Orangerie im Kasseler Auepark. Dort wurde in unterschiedlichen Programmpunkten deutlich, wie lustvoll und ernst, wild und erfinderisch, schräg und präzise Kritik auch für junge Menschen sein kann. Insgesamt sind die oben angesprochenen Widersprüche zwischen Ökonomien und kritischen Ansprüchen auf der documenta 12 keineswegs weniger geworden, sie wurden allerdings expliziter Teil des Selbstverständnisses und der Selbstreflexion. In einem Interview nennt Carmen Mörsch als eine ihrer Forschungsfragen: „[...] ich möchte mich im Zusammenhang mit der documenta 12 Vermittlung gern der Frage nach dem Spannungsverhältnis von Kunstvermittlung und Dienstleistung widmen. Mich interessiert die Herausforderung, die dabei entstehen kann und wie man solchen Konflikten begegnet.“ (Mörsch 2007:o.S.) Gegenüber der documenta X und der Documenta11 tritt das „Wie“ der Vermittlung in den Vordergrund: Inhalte, politische Theorien und künstlerische Arbeiten werden so zu einem Bestandteil von Vermittlungsformaten gemacht.
Aus dem Vermittlungsbereich des documenta 12 Beirats gingen wesentliche Erkenntnisse für Fragen nach der translokalen Verortung der documenta und der Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft hervor. Ayşe Güleç fasst diese in einem mittlerweile viel zitierten Artikel mit dem Titel „Learning from Kassel“ (Güleç 2017:o.S.) zusammen: Ihr zufolge ist es im 21. Jahrhundert von wesentlicher Bedeutung, dass Institutionen Raum für Heterogenität und für unterschiedliche soziale Hintergründe bieten, sodass langfristige Partner*innenschaften etabliert werden können, um in der Migrationsgesellschaft offene, demokratische Prozesse und wirklich – und nicht bloß scheinbar – partizipative Prozesse zu ermöglichen: „There is tremendous potential to be found in collaborations between art institutions and local or non-art savvy communities.“ (ebd.)
dOCUMENTA (13) – Expert*innen mit Kasselbezug
Bei der dOCUMENTA (13) (2012) wurde der kritisch- selbstreflexive Raum eher verlassen, während zugleich eine radikale Entscheidung die Vorstellung von autorisierten Sprecher*innen durchkreuzte. Die dOCUMENTA (13) fokussierte das Wissen lokaler Expertisen mit verschiedenen professionellen Hintergründen. So bestand eine im Vorfeld verlangte Qualifikation der worldly companions darin, einen Bezug zu Kassel zu haben bzw. herstellen zu können, was unter anderem dazu führte, dass neben Kunstvermittler*innen beispielsweise Polizist*innen, Stadtplaner*innen, Förster*innen, Mechaniker*innen, Rentner*innen, Studierende, Wissenschaftshistoriker*innen sogenannte d-tours durchführten. Die Bezeichnung d-tour verweist wieder auf den „Umweg“, der unserer These nach wesentlicher Bestandteil der Kunstvermittlung seit der documenta X ist, weil Vermittlung eben kein bloßes Sender-/Empfängermodell voraussetzt, sondern Auseinandersetzungen in Gang bringt, die Scheitern, Sackgassen, Brüche, Widersprüche und Umwege beinhalten können. Sie sind Möglichkeitsräume und tragen das Potenzial eines „Vielleichts“ in sich. Diese konzeptionelle Entscheidung für eine heterogene Gruppe mit „Lebenswissen“ (Moritz:oS.) trug leider auch zu einer Abwertung kunstvermittlerischer Arbeit bei. Definierte die künstlerische Leitung der documenta 12 die Bildung noch als einen elementaren Teil ihres kuratorischen Konzepts, so umfasste die VielleichtVermittlung und andere Programme der dOCUMENTA (13) alle öffentlichen Programme strukturell als organisatorisch notwendigen Zusatz, der den Forderungen und Bedürfnissen von BesucherInnen und Administration, aber auch dem ökonomischen Faktor gerecht werden sollte. In seiner aufschlussreichen Masterthese „Maybe Education – Arts Based Learning at dOCUMENTA (13)“ schreibt Joshua Weitzel über das Vielleicht der Vermittlung:
„The ‘maybe’ is also directly connected to the official agenda of dOCUMENTA (13) that aimed to not have any clear objectives but rather have guidelines, and it emphasised diverse views on things and crossover disciplines. Like the avoided distinction in the ‘Maybe’ in Maybe Education, dOCUMENTA (13)`s official programme emphasised the making of connections and the sharing of knowledge, and the creation of “transitional spaces” rather than having a clear aim. Finally, the ‘Maybe’ also emphasises flexibility and acknowledges various forms of knowledge. It comes out of a position of scepticism towards institutionalised education.“ (Weitzel 2013).
Durch die Auswahl von lokalen Expert*innen als Kunstvermittler*innen der dOCUMENTA (13) wurde der bisherigen Professionalisierung der Kunstvermittlung kritisch begegnet. So wurde augenscheinlich – und gelegentlich auch inszeniert –, dass es verschiedene Formen von Wissen und Zugängen zu künstlerischen Arbeiten gibt; die d-tours sollten sich aufgrund der verschiedenen beruflichen Hintergründe der für 100 Tage als Vermittler*innen agierenden Personen unterscheiden. Zugleich wurde durch die mehrheitlich in Kassel lebenden rund 160 worldly companions ein lokaler Bezug zur dOCUMENTA (13) gestärkt, was sicherlich einige Aufgaben der Öffentlichkeitsarbeit vor Ort positiv veränderte. Dabei gelang es allerdings nicht ganz, eine konsistente Vorstellung der VielleichtVermittlung zu formulieren, vielmehr verfing sich diese in Widersprüchen: Denn letztlich fand doch eine Professionalisierung von einigen Vermittler*innen statt, die sich auch nach der dOCUMENTA (13) noch organisierten, die das „Vielleicht“ der Vermittlung anders wendeten und sich entsprechend auch als Kunstvermittler*innen verstanden. Doch war dies nicht genau die Haltung, die die maybe education kritisierte? Julia Moritz, Leiterin der VielleichtVermittlung und andere Programme beschreibt diese Kritik:
„Konkret stieß das Konzept der VielleichtVermittlung vor allem bei den KollegInnen der Kunstvermittlung auf Unverständnis; überraschenderweise (...) vor allem bei den akademisch arbeitenden, also mit der Definitionsmacht von Vermittlung beschäftigten. (...) Der Zuspruch der Besucher/innen hat erwiesen, dass auch – oder gar besonders – Wege ausserhalb der vorweg abgesteckten Möglichkeiten auf Interesse und Engagement stoßen.“ (Moritz 2013:104 f.)
Einer der Konflikte mag darin liegen, dass es bei der wichtigen Aufwertung von undiszipliniertem und amateurhaftem Wissen auch zu einer Abwertung der Expertise von Vermittler*innen kommen kann – deren prekäre Position im Feld ohnehin ständig von Abwertungen bedroht ist – während andere Formen autorisierten Sprechens, wie die kuratorische Position oder gar jene der künstlerischen Leiterin Carolyn Christov-Bakargiev völlig unangetastet blieben.
Das d(13) Studio for Kids & Teens hatte demgegenüber inhaltlich kein Problem auf der Tradition der documenta 12 aufzubauen und sie vor dem Hintergrund der VielleichtVermittlung weiterzudenken (Hummel 2013:6). Künstler*innen der dOCUMENTA (13) stellten verschiedene Formen von Wissen anhand von Gegenständen und Materialien zur Verfügung. Diese wurden von Kindern und Jugendlichen gemeinsam ausgewählt und in Verbindung mit den Arbeiten der Ausstellung innerhalb eines dreistündigen Workshops erkundet. „Kunst ist das, was vermittelt wird“ (Siebert 2013:108), folgerte daraufhin eine Workshopteilnehmerin – und kehrte damit die „Position des Nichtwissens“, wie es Julia Moritz formulierte, vielmehr in eine des Schaffens von Zuweisungen und durch eigenes Erleben geprägter Ordnung um.
documenta 14 – mit Chorist*innen gemeinsam verlernen
Vieles, was bei der dOCUMENTA (13) geschah, wurde bei der documenta 14 (2017) weitergeführt – nicht nur, was die unbezahlten Arbeitszeiten der Vermittler*innen anbelangt wie die Vorbereitungszeiten durch Workshops, aber auch individuelle Recherche und die Konzeption einer Fragestellung und Choreografie einer Vermittlung. Auch die Idee eines „geteilten Wissens“ war für die documenta 14 zentral. Diese ging grundlegend von einem Wissen aus, das verlernt werden soll, also von einer verändernden Auseinandersetzung mit den Macht- und Gewaltverhältnissen, die Wissensformen konstituieren. Vom Süden her soll dabei das, was uns selbstverständlich erscheint und dabei die Machtverhältnisse vergessen lässt, bewusst in einen anderen Blickwinkel gesetzt werden (vgl. Sternfeld 2014). Als eine solche Dislozierung der Perspektive ist auch der Untertitel der documenta 14 zu verstehen: „Von Athen lernen“ meint, vom Süden her die Aufteilung der Welt neu vorzunehmen, sie anders zu verstehen. So stand bei der documenta 14 das hegemoniale Wissen radikal zur Disposition; es wurde hier nicht mehr von einem zu dekonstruierenden Kanon – wie auf der documenta 12 – bzw. einem zu etablierenden Gegenkanon – wie auf der Documenta11 – ausgegangen, sondern die Komplexität sollte selbst zur Grundlage der Ausstellung sowie der Vermittlung werden. In der Konsequenz wurden die Besucher*innen der documenta 14 zu Wissensträger*innen und folglich auch zu Teilhaber*innen eines kollektiven Eigentums erklärt (vgl. Szymczyk 2017:41).
Die Ausbildung der Kunstvermittler*innen, die aneducation im engen Gespräch mit Faculty durchführte, einer Gruppe von Künstler*innen und Kunstpädagog*innen mit unterschiedlichen Hintergründen, die als Gäste eine Polyphonie von Methoden und Ansätzen mitbringen, widmete sich der Frage, wie gemeinsam verlernt werden kann, und legte dabei den Fokus auf Methoden und Tools und weniger auf Inhalte (vgl. Toopeekoff 2017:12 ff.). Es ging um die grundlegende Frage, wie Vermittlung funktionieren kann: zwischen den Erwartungen der Besucher*innen, mehr zu verstehen, und der Vorstellung eines gemeinsamen Sprechens aller, denen die documenta (nicht) gehört. Der künstlerische Leiter Adam Szymczyk sprach von „eine(r) Vermittlung, die versucht, sich ihrer traditionellen pädagogischen Gewohnheiten bewusst zu bleiben und sich ihrer zu entledigen, um stattdessen einen Chor von Gastgeber_innen zu bilden, der gemeinsam mit den Besucher_innen singt.“ (Szymczyk 2017:90). Folglich wurden die Vermittler*innen als Chorist*innen bezeichnet, die wie Mitglieder eines griechischen Chors die Funktion haben sollten, kritisch zu kommentieren, oder aber wie die Schauspieler*innen bei Berthold Brecht dazu aufgefordert waren, verlernen durch Verfremdungseffekte anzuregen.
Die Kunstvermittler*innen fanden sich angesichts der 255 künstlerischen Positionen und komplexen Themen in einer Situation zwischen Mangel und Überfluss von Informationen wieder. Auch die unbezahlte Vorbereitungszeit der Spaziergänge, die kaum vorhandenen Arbeitsmaterialien, fehlende Räume zur Vorbereitung sowie der erst auf Nachfrage stattgegebenen Publikation der Namen der rund 160 Kunstvermittler*innen in der zweiten Ausgabe des Katalogs führten zu der Formierung des Kollektivs d14_workers, die sich für bessere Arbeitsbedingungen einsetzen. Das taten sie nicht selten auch mit Methoden der „affirmativen Sabotage“ (vgl. Güleç 2018). Der Chor trat also aus seiner traditionell-antiken Funktion des flankierenden Kommentars heraus und sprach zurück – und mit zwei selbst verlegten Publikationen unter dem Titel Dating The Chorus über die 100 Tage hinaus.
Zum Abschluss vier Thesen
Seit den späten 1990er Jahren hat die documenta Vermittlung jeweils auf unterschiedliche Weise Entwicklungen der vorigen Ausstellungen und der jeweiligen Gegenwart aufgegriffen, während sie dabei gleichzeitig alle fünf Jahre Impulse aussendete, die in der Folge Ansätze in Ausstellungsinstitutionen – an unterschiedlichen Orten der Welt – prägten. Die Eigenständigkeit der documenta und damit verbunden auch der Kunstvermittlung, die unter anderem durch die künstlerische Freiheit der*des jeweiligen künstlerischen Leiterin*s sowie durch die verdichtete Zeit der 100 Tage intensiver Arbeit und Auseinandersetzung charakterisiert ist, ermöglichte es mittlerweile bereits mehreren Generationen von Vermittler*innen aus dem Dispositiv der bloßen Dienstleistung herauszutreten, bei dem es in Institutionen und Biennalen oft bleibt. Die intensive, verdichtete Praxis wirkt exemplarisch, denn sie wird unter Beobachtung und unter Beteiligung des Felds entwickelt und ausgewertet. Dies führt zu einer besonderen Wahrnehmung der documenta Vermittlung. Zugleich verbanden sich die Einsichten, Erfahrungen und Errungenschaften der verschiedenen Vermittler*innen-Generationen jeweils mit Diskursen und Ansätzen der Vermittlung im deutschsprachigen Raum, in Europa und zunehmend auch darüber hinaus.
Nach diesem Durchwandern von Konzeptionen, Diskursen und Strategien der documenta Vermittlung in den letzten zwei Dekaden formulieren wir zum Abschluss vier Thesen, die sowohl die Bedeutung der documenta als auch eine viel allgemeinere Verortung der Kunstvermittlung in Zwischenräumen und Widersprüchen betreffen – eine Kunstvermittlung, die seit 1997 weltweit massiv an Bedeutung gewonnen hat und ohne die die Institutionen der Gegenwartskunst heute kaum mehr denkbar sind.
These 1: Zwischen Kontinuität und Neubeginn
Es lässt sich nicht pauschal von „der“ documenta Vermittlung sprechen. Aber es gibt Motive und Elemente, die sich – bewusst oder unbewusst – wiederholen, sich entgegenstehen und sich weiterschreiben. Seit der documenta X wird Vermittlung von der Kunst aus gedacht. Gerade in der jeweiligen Neuerfindung dessen, was unter Kunst und Vermittlung verstanden wird, haben sich dabei Möglichkeiten ergeben, das Verständnis von Kunstvermittlung alle fünf Jahre herauszufordern, zu aktualisieren und neu zur Diskussion zu stellen. Insgesamt lässt sich – wie im gesamten pädagogischen Bereich – eine zunehmende Transformation von der Wissenstradierung durch autorisierte Sprecher*innen hin zu einer gemeinsamen Wissensproduktion ausmachen.
These 2: Zwischen Pädagogisierung der Politik und Repolitisierung der Pädagogik
Die documenta Vermittlung gab in den letzten zwei Jahrzehnten ohne Frage wichtige Impulse für den Kunstvermittlungsdiskurs: Der Begriff der Vermittlung selbst entstand in den 1990er Jahren und erfuhr eine Konjunktur in Verbindung mit der documenta X. Er war von Anfang an mit der Entwicklung einer kontextuellen Kunst und mit einem poststrukturalistischen Anspruch an Offenheit verbunden und daher nie bloß als reine Weitergabe von Wissen zu verstehen.
Kunstvermittlung auf der documenta steht aber nicht nur im Kontext von Kunst und Theorie, sondern auch in Verbindung mit Entwicklungen einer kritischen Pädagogik. Und diese wiederum erfuhr seit den 1990er Jahren massive Paradigmenwechsel (vgl. Kolb 2015). Die Forderung nach einer Verschiebung des Fokus vom Lehren zum Lernen steht im Einklang mit radikalpädagogischen Ansätzen, etwa von Antonio Gramsci, Paulo Freire und bell hooks. Sie wird allerdings im Neoliberalismus vermehrt ihrer emanzipatorischen Dimension entledigt und zum maßgeblichen Motor der Ökonomisierung und Modularisierung von Bildung – wie etwa bei der Bologna Reform. Mit Buzzwords wie ‚lebenslanges Lernen‘ und ‚Partizipation‘ ist es gelungen, Mittel einer dabei zunehmend unkritisch werdenden Pädagogik zur Entsicherung der Gesellschaft einzusetzen. Die Entwicklungen der documenta Vermittlung von einer erst offenen, dann gegenhegemonialen, dann kritischen Kunstvermittlung über eine Vielleicht Vermittlung bis zu einem kollektiven Prozess des Verlernens, den die Kunstvermittler*innen sich letztlich selbst finanzieren, muss vor dem Hintergrund dieser ambivalenten Entwicklungen gesehen werden. Dies wurde selbst wiederum im pädagogischen Feld analysiert und mit einer Repolitisierung pädagogischer Ansätze beantwortet. So kam es auch zu einem educational turn nicht nur im kuratorischen Diskurs (vgl. Sternfeld 2010), sondern auch in der Pädagogik, für den die Documenta11 und documenta 12 als Beispiele angeführt werden können (vgl. Jaschke/Sternfeld 2012). Leider kann dabei vor allem in hegemonialen Institutionen oft nicht mehr geschehen, als ein Wissen über Widersprüche zu erzeugen. Ganz in diesem Sinne ist der Widerspruch zwischen Pädagogisierung der Politik und Repolitisierung der Pädagogik auch prägend für die Ansätze der Vermittlung auf der documenta.
These 3: Zwischen Dienstleistung und Kritikalität
Wir haben es also zugleich mit hohen (Kapitalismus-)kritischen und postkolonialen Ansprüchen einerseits sowie mit entsicherten Arbeitsbedingungen, Erwartungen von Flexibilität und steter Dienstleistungsbereitschaft andererseits zu tun. Seit der documenta X sind der Besucherservice, der Führungsdienst, die Vermittlung, die maybe education und die aneducation outgesourct. Das heißt, dass die Kunstvermittlung von externen Agenturen organisiert wird, die Ausbildung der Vermittler*innen jedoch in der Hand der documenta gGmbH liegt. Hier tut sich eine erste große Polarität zwischen Kritikalität (vgl. Ragoff 2003) und Dienstleistung auf. Diese zeigt sich auch im Wording der jeweiligen Abteilungen, die die Vermittlung – und ggf. andere Programme – verantworten.
These 4: Zwischen Professionalisierung und Amateurisierung
Einerseits kommt es im Zuge der verschiedenen documenta Ausstellungen durch die Ausbildungsprogramme, durch die Erfahrungen der Vermittler*innen und durch die damit verbundenen Diskurse, aber auch durch die zunehmenden Ausbildungen an Universitäten und Fachhochschulen zu einer Professionalisierung der Akteur*innen der Kunstvermittlung. Andererseits kommt es leider gerade mit der wichtigen und notwendigen Ausweitung der ‘Expertise‘, mit der Anerkennung, dass alle Akteur*innen über Wissen verfügen, auch zu einer weiteren Entsicherung der Arbeit im Feld der Vermittlung (vgl. Noack 2016). Diese Amateurisierung wird oft allzu schnell mit Ehrenamtlichkeit gleichgesetzt. Ein ohnehin prekärer Arbeitsbereich wird noch unsicherer. Da das nicht die Emanzipation sein kann, die gemeint war, kommt es auch zunehmend zu Protesten der Vermittler*innen. Sie organisieren sich und formulieren Forderungen an eine professionelle Vermittlung – wie die Mitglieder der Gruppe doc14_workers –, die Strukturen schafft, die nicht im kompletten Widerspruch zu den eigenen kritischen Veröffentlichungen steht. Wir finden: Glauben Sie diesen Forderungen. Jedes Wort! Eine nächste documenta Vermittlung sollte also eine kritische Kunstvermittlung nicht nur propagieren, sondern auch Strukturen schaffen, in denen sie möglich ist. Denn in einer Welt, die zunehmend postfaktisch regiert wird, dürfen sich Bildungsinstitution nicht damit zufriedengeben, kritisch zu denken und unkritisch zu handeln.