Die Geschichte der Digitalisierung in fünf Phasen - Mit der narratologischen Rampe in die Digitalisierung

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von Michael Seemann

Erscheinungsjahr: 2020

Abstract

Es gibt kein englisches Wort für „Digitalisierung”. Dort spricht man je nachdem von „Technology“, „Internet”, „Artificial Intelligence” oder „Innovation“ und adressiert damit auch jeweils andere Dinge und unterschiedliche Debatten. In Deutschland hat sich der Begriff hingegen vor allem in der Politik durchgesetzt und bildet eine Klammer für all die strukturellen Anpassungsprozesse - politische, wirtschaftliche, kulturelle, die die Gesellschaft durch den fortschreitenden Einzug der digitalen Technologie in unseren Alltag nach sich ziehen.

Es ist ein Vorteil der deutschen Sprache, diese doch sehr heterogenen Prozesse als ein großes Ganzes betrachten zu können. Es hat aber auch Nachteile, da die schier unübersehbare Größe des Phänomens einschüchternd, gar erdrückend wirken kann. Klar ist: die Digitalisierung wälzt die gesellschaftlichen Strukturen um. Aber um zu klären, wie das geschieht, um sich einen Überblick zu verschaffen, muss man den Monolithen „Digitalisierung“ zunächst wieder aufsprengen. Nicht in seine vielfältigen Bestandteile, dann würde es wieder unübersichtlich, sondern systematischer, zum Beispiel historisch.

Was ich hier versuchen möchte, ist eine narratologische Rampe” zu bauen. Ich teile die Geschichte der Digitalisierung in vier Phasen ein, die chronologisch von den 80er Jahren bis heute reichen. Die Idee ist, bei der Narration der vier Phasen genügend Beschleunigung zu generieren, um über die Rampe ein Stück weit in die Zukunft - also in die fünfte Phase - zu schießen, das heißt: eine anschlussfähige Spekulation zu wagen.

Die Phasen wären folgende:

  1. Die frühen Netzwerk-Utopien (1985 - 1995)
  2. Remediation (1995 - 2005)
  3. Kontrollverlust (2005 - 2015)
  4. Das Neue Spiel (2015 - 2025)
  5. Restrukturierung (2025 - 2035)

Wir haben also die Rampe, brauchen wir noch die Beschleunigung. Der Antrieb ist die historische Dialektik, die den Phasen zugrunde liegt. Die Annahme hierbei ist, dass jede Bewegung im Kern ihre Gegenbewegung immer schon mit hervorbringt. Jede neue Phase ist somit immer die Synthese aus der Bewegung (These) und Gegenbewegung (Antithese) der vorherigen Phase.

Erste Phase: Frühe Netzwerk-Utopien (1985 - 1995)

Natürlich lässt sich auch die erste Phase, mit der ich hier beginne, auf eine solche historische Dialektik zurückbeziehen. Diese Vor-Phase möchte ich hier allerdings nur kurz anreißen: Die 70er Jahre waren eigentlich noch gar nicht von Digitalisierung geprägt. Computer gab es immerhin schon, jedoch waren sie noch so groß wie überdimensionierte Kühlschränke und standen vornehmlich in Universitäten, militärischen Einrichtungen und Großkonzernen. IBM hatte sowas wie ein Monopol auf Computing und seine Mitarbeiter liefen in Schlips und Anzug herum, denn sie hatten es nur mit Business- oder Regierungskundschaft zu tun. Mit Computern kamen in dieser Zeit nur Leute in dafür spezialisierten Berufen in Berührung, die meisten Menschen kannten sie lediglich aus Erzählungen.

Die erste Phase war also insofern eine Gegenbewegung zu diesem Zustand, als die Revolution des Personal Computers (PC), die sich Anfang/Mitte der 80er Jahre Bahn brach, explizit als Angriff auf die Vorherrschaft der grauen Männer mit ihren Großcomputern verstanden wurde. In der Tat erzählt die Legende von Steve Jobs, Steve Wozniak und der Gründung von Apple genau dies als Heldenreise zweier Underdogs, die dem großen, bösen IBM das Fürchten lehren. Es war die Zeit des Aufbruchs, der Demokratisierung des Computing. Mit dem Apple Macintosh Computer sollte laut Werbung „1984 nicht wie 1984 werden“.

Apple Macintosh Werbespot 1984 (1:00 min). Online: https://www.youtube.com/watch?v=_VvW_uWSbX0

Mit dem Personal Computing wurde aus der unheimlichen, unzugänglichen Kriegstechnologie Computer das Emanzipationswerkzeug des modernen Bürgers. So jedenfalls war das Selbstverständnis des damaligen Aufbruchs.

Der Begriff Cyberspace, den der Science-Fiction Autor William Gibson in seiner Kurzgeschichte „Neuromancer“ (Gibson 2014) geprägt hatte, faltete den neuen Raum des Digitalen auf und machte alle seine frühen Bewohner zu „Cyberpunks”. Gemeint waren damals noch die frühen Onlinedienste wie das Usenet, AOL und Compuserve, die erste PCs miteinander vernetzten. In diesen frühen Netzcommunities wie The WELL trafen sich die „Early Adopter“ und entwickelten kühne Thesen über die vernetzte Zukunft der Gesellschaft (vgl. Turner 2008). Mitte der 90er, also am Ende dieser Ära, kommt schließlich das Internet selbst in viele Haushalte, während zeitgleich das World Wide Web erfunden wird.

Für diesen Aufbruchsmoment stehen nicht nur die Hackerszene, die sich entlang der Entstehung des PCs kristallisierte, sondern auch die vielen anderen gesellschaftlichen Diskurse, die das „Netzwerk“ als neue Strukturmetapher dankbar aufnahmen. Gilles Deleuze und Félix Guttari zeigten, dass Kultur anhand des netzwerkartigen Wurzelwerks Rhizom auch dezentral und nicht-hierarchisch gedacht werden kann (Deleuze/Guattari 2004). Am Centre de Sociologie de l'Innovation in Paris arbeiteten Bruno Latour und andere an einer wissenschaftstheoretischen Beschreibungsmethode, um Interaktionszusammenhänge darstellbar zu machen, in denen der Mensch nur noch eine agierende Instanz unter vielen ist. Die sogenannte Akteur-Netzwerk-Theorie erlaubte, Makro- und Mikroperspektive im Netzwerkschema zu transzendieren und auf diese Weise komplexe Zusammenhänge abzubilden und zu untersuchen (Latour 2007). Schließlich brachte Manuel Castells die sich unter dem Einfluss vernetzter Kommunikation verändernde Gesellschaft auf den Punkt, indem er ihr als „Network Society“ attestierte, Hierarchien zu verflachen und Unternehmens- sowie Institutionsgrenzen operativ überschreitbar zu machen (Castells 2010).

Aus dem Soziotop um The WELL entwickelte sich derweil nicht nur das einflussreiche Wired-Magazin, sondern auch die Electronic Frontier Foundation, dessen Mitgründer John Perry Barlow, 1996 den versammelten Staatschefs in Davos zurief, dass ihre „Giganten aus Fleisch und Stahl“ im Cyberspace nichts zu sagen hätten (Barlow 1996).

In ihrem „Cyborg Manifesto“ reklamierten Donna Haraway und die frühen Netzfeministinnen und –feministen eine Art postidentitären Raum, in dem sich Geschlecht, Klasse und ethnische Zugehörigkeit in einer allgemeinen Artifizialität auflösten (Haraway 1991). Es war die Zeit als man dachte, dass dieser „neue Ort des Geistes“ (Barlow 1996) ein Ort mit eigenem Recht sei, ein utopischer Raum, in dem die weltliche Identität keine Relevanz mehr habe. In der Anonymität des Netzes würden akademische Grade, Herkunft, Hautfarbe, Religion, Geschlecht und Sexualität keine Rolle mehr spielen und stattdessen Wort gegen Wort abgewogen werden. Dezentralität, Hierarchiefreiheit, Offenheit, Konnektivität und totale Kommunikationsfreiheit waren die ideologischen Grundsteine auf denen eine neue, bessere Gesellschaft gebaut werden sollte.

Natürlich war längst nicht alles so rosig, wie sich die Netz-Utopisten das damals ausmalten. Die Gegenbewegung formte sich aus den Leuten, die im Internet nicht einen postidentitären, utopischen Raum, sondern vor allem einen neuen Markt sahen. Und so wuchs - zunächst langsam, aber gegen Ende immer deutlicher - auch die New Economy im Schatten der Netzdiskurse heran. Die Kommerzialisierung erzwang eine Rückbindung des Cyberspace an die physische Welt. Um E-Commerce zu machen, braucht es dann eben doch wieder (bürgerliche) Identitäten und alles, was sich daran knüpft. Im Zuge der Kommerzialisierung passte sich das Netz den Erfordernissen der realen Welt immer weiter an, womit das nächste Paradigma eingeläutet wurde.

Zweite Phase: Remediation (1995 - 2005)

Remediation bezeichnet die Abbildung eines Mediums durch ein anderes Medium. Dass das Medium die Botschaft sei, hatte Marshall McLuhan bereits anhand der ersten elektronischen Medien wie Radio und Fernsehen festgestellt (McLuhan 1994). Doch auch das Internet würde sich zunächst daran machen, die bisherigen Medien zu imitieren und bereits hier und da obsolet zu machen.

Während die New Economy noch in den Kinderschuhen steckte, digitalisierte sich zunächst der Briefverkehr. 1995 bekam man noch deutlich mehr physische Post als E-Mails, aber das drehte sich sehr schnell um. Das Web wuchs und wuchs und wurde immer unübersichtlicher. Yahoo! beanspruchte daher, der digitale Katalog des neuen Mediums zu werden und etwa im Jahr 2000 wurden Websites zu Blogs - eine Art persönliche Zeitungen im Internet.

So wie in dieser Phase schlicht die Konzepte aus der physischen Welt in die digitale übertragen wurden, so wurde auch der Begriff Cyberspace wörtlich genommen. Das Digitale ist - oder wird zumindest in Zukunft - ein Raum sein mit drei Dimensionen. Das sieht man besonders an den damals vorherrschenden Zukunftsvisionen im Film, sehr schön dargestellt in der William-Gibson-Adaption „Johnny Mnemonic“ von 1995.

Future Internet from Johnny Mnemonic (2:07 min). Online: https://www.youtube.com/watch?v=8p0jmewhXeU

Man stelle sich vor, ein Ferngespräch wäre heute tatsächlich so kompliziert, niemand würde es nutzen.

Als sich um die Jahrtausendwende die Träume der New Economy fürs Erste zerschlugen und die vielen tausend Start-ups, die sich aufgemacht hatten, das neue, gelobte Land ökonomisch urbar zu machen, verschluckt wurden, überlebten vor allem Services, die mit der analogen Welt im direkten Konkurrenzverhältnis standen. Vielleicht wirkte die Tatsache, dass sie eine Entsprechung in der realen Welt hatten, als Legitimation ihrer Bemühungen.

Doch nach dem Dotcom-Crash ging es weiter mit der Remediation: Mit Youtube und iTunes digitalisierten sich das Fernsehen und die Plattensammlung, mit Skype die Telefonie und mit Amazon sogar der Einzelhandel.

Gegen Ende der Remediations-Phase wurde auch die Gegenbewegung sichtbar. Es entstanden neue Medien, die diesen Namen auch verdienen. Medien, die nicht versuchten, ihre analogen Pendants zu ersetzen, sondern die in ihrer Struktur erst durch das Internet möglich wurden. Der Aufstieg der Suchmaschinen und insbesondere Google, soziale Bookmarking-Dienste wie del.ico.us und Fotoplattformen mit Tagging- und Sharingfunktion wie Flickr boten eine völlig neue Form an, mit digitalen Objekten zu arbeiten, sie zu teilen, weiterzuleiten und darüber zu kommunizieren. Und natürlich entstanden hier die sozialen Netzwerke wie Friendster, Myspace, schließlich Facebook und eroberten die Onlinezeit der Nutzerinnen und Nutzer. Web 2.0 war das Schlagwort, das 2005 die Remediation-Phase des Internets für beendet erklärte und ein neues, ein soziales Netz ausrief. Die Digitalisierung findet gewissermaßen zu sich selbst - und verliert damit auch ihre Harmlosigkeit (O’Reilly 2005).

Dritte Phase: Kontrollverlust (2005 – 2015)

Genau genommen ist das Paradigma des Kontrollverlusts sehr viel früher eingeläutet worden als 2005, aber als Napster 1999 das Licht der Welt erblickte, war noch nicht klar, wie prophetisch es den Fortgang des Netzes vorwegnehmen sollte (Barnes 2015). Den Begriff „Kontrollverlust” habe ich 2010 in die Debatte um die Digitalisierung eingebracht und halte ihn für eine immer noch gültige Beschreibungsebene unserer Gegenwart, aber als Paradigma war er nur bis ca. 2015 tatsächlich hegemonial (vgl. Seemann o.D.).

Das, was die Musikindustrie damals mit dem Filesharing durchmachte, stand bald schon der Filmbranche bevor, dann den Nationalstaaten und schließlich uns allen. Doch der Verlust über die Kontrolle von Daten- und Informationsströmen nimmt erst ab Mitte der Nullerjahre wirklich Fahrt auf. Einer der Katalysatoren ist natürlich Social Media, wie das Web 2.0 alsbald genannt wurde. Auf einmal fingen die Leute an, alle möglichen Daten in das Internet zu laden, selbst die privatesten. Als uns ab 2007 dann mit dem Smartphone ein mit allerlei Sensoren und ständiger Internetverbindung ausgestatteter Hosentaschen-Computer an das Internet band, das Internet of Things unsere Wohnräume und Städte vernetzte und all diese Daten in der Cloud - also auf irgendwelchen Rechnern im Internet - landeten, stand dem allgegenwärtigen Kontrollverlust nichts mehr im Weg.

Die Kontrollverlust-Phase ist die Zeit der Wikileaks-Enthüllungen, die Banken, Regierungen, Parteien und sonstige Machtapparate nackt hat stehen lassen. Es ist die Zeit von Big Data, der Auswertung von großen Datenmengen, aus denen ungeahnte Informationen aus vorhandenen Datenmassen destilliert werden. Es ist schließlich auch die Zeit von Edward Snowden, der zwar die Geheimdienste nackt machte, aber nur um zu zeigen, dass wir alle längst nackt sind. Nach Snowden folgten die Shadow Brokers, eine Hackergruppe, die die geheimsten Hacking-Tools der NSA offenlegten während Wikileaks dasselbe mit denen der CIA machte. Doch es traf nicht nur die Geheimdienste. Cable Leaks, Stratfor Leaks, Panama Papers, Swiss Leaks, Luxemburg Leaks, Syria Files, Offshore Leaks, Football Leaks - Leaken ist zum Volkssport geworden und dabei sind die zahllosen Hacks noch nicht mal mit aufgezählt.

Es wurde klar, dass niemand verschont bleibt, dass wir alle - Menschen, Unternehmen, Regierungen und Institutionen - die Kontrolle verloren haben.

Niemand bringt dieses Tabula-rasa-der-Verhältnisse im Digitalen besser in einem Kunstwerk zur Geltung, als Cornelia Sollfrank. Mit ihrem Net-Art-Generator hat sie ein System geschaffen, das auf Knopfdruck, oder nach Eingabe von ein paar Begriffen, Kunst produziert. Der Kontrollverlust entwertet alles Schaffen und rückt die Stelle der Agency von dem Künstler auf die der Ingenieurin, des Ingenieurs oder der Programmiererin, des Programmierers.

net.art generator (2:39 min). Online: https://www.youtube.com/watch?v=43y2k5j7oIU

Zugleich finden sich schon in dieser Phase Kontrollverlust-Phänomene zweiter Ordnung. Die Occupy-Wallstreet-Proteste, der arabische Frühling, Proteste in Spanien und Tel Aviv. Die Welt schien aus den Fugen und die Digitalisierung hatte einen nicht geringen Anteil daran. So wie Daten außer Kontrolle geraten, so haben die digitalen Werkzeuge eine neue Form der Spontanorganisation von Menschen und Informationen ermöglicht, die sich wiederum in eruptiven Smart Mobs weltweit Bahn brachen, Regierungen in Bedrängnis und oft sogar zu Fall brachten.

Doch auch die Gegenbewegung wird deutlich. Neue Kontrollstrukturen haben sich über das Internet gelegt. Der Napster-Schock, der die Phase des Kontrollverlusts einleitete, wurde schließlich durch neue, kontrollierbare Vertriebsstrukturen wie denen von iTunes und später Spotify eingehegt. Google schaffte derweil Ordnung im Chaos im Web und wuchs zum globalen Konzern heran. Facebook - jetzt bitte nicht lachen - brachte die Privatsphäre als Privacy-Einstellung ins Internet. Allen Unkenrufen zum Trotz muss man festhalten, dass „Privatsphäre“ vor Facebook im Internet nicht existent war. Es gab nur die globale Öffentlichkeit oder (unverschlüsselte) Eins-zu-eins-Kommunikation. Eine pragmatische und beliebig granulare Eingrenzung der Öffentlichkeit war eine der Innovationen von Facebook und Teil seines Erfolgskonzeptes (vgl. Seemann 2015). Aus den sympathischen, kleinen Web 2.0-Diensten sind mächtige Plattformen geworden, die mit ordnender Hand Inseln der Kontrolle im Meer des Kontrollverlusts schaffen. Der Aufstieg der Plattformen als neue Kontroll-, aber auch als unheimliche Machtapparate, leitet die nächste Phase der Digitalisierung ein.

Vierte Phase: Das Neue Spiel (2015 - 2025)

Ich habe die aktuelle Phase nach meinem Buch „Das Neue Spiel“ (Seemann 2014) benannt, denn schon beim Schreiben 2014 hatte ich das Gefühl, dass gerade etwas Neues beginnt, das bereits nicht mehr (nur) durch das Kontrollverlust-Paradigma bestimmt ist. Das liegt daran, dass bereits bestimmte Individuen, Unternehmen und Institutionen Strukturanpassungen für die neue Situation vorgenommen hatten - und die Macht der Plattformen ist nur ihre plakativste Ausformung.

Der Erfolg des Plattform-Paradigmas basiert einerseits auf Kontrolle als Produkt und andererseits auf dem Netzwerkeffekt, der die Netzwerke immer nützlicher macht, je mehr Leute daran teilnehmen (vgl. Wikipedia o.D). GAFA (Google, Apple Facebook und Amazon) sind ohne Zweifel die dominierenden Player unserer Zeit, aber mit Airbnb, Uber, Foodora, Deliveroo und Co. hat sich das Plattform-Prinzip längst aus den Grenzen der reinen Onlinewelt befreit und gestaltet die Welt im Ganzen um. Mit den dezentralen und anti-hierarchischen Netz-Utopien der ersten Phase hat das alles nur noch wenig zu tun.

Aber es geht nicht nur um die Plattformen. Diese Phase ist grundsätzlich davon geprägt, dass einzelne Menschen und Institutionen die Dynamiken des Kontrollverlusts durchschaut haben und neue Strategien entwickelt haben, um in dieser Welt ihre Ziele zu erreichen (siehe Zehn-Punkte-Liste mit Strategien in: Seemann 2014:153ff). Wer keine Kontrolle über die Datenströme hat, kann zum Beispiel nicht mehr verhindern, dass Informationen an die Öffentlichkeit gelangen. Zensur ist somit nur mit sehr viel Aufwand überhaupt durchzuführen. Man kann aber die Institutionen der Informationsverbreitung wie die Massenmedien diskreditieren, indem man ständig Falschnachrichten streut und echte Nachrichten als Fake News bezeichnet, bis niemand mehr weiß, was wahr und was falsch ist. Niemand hat das besser verstanden als Wladimir Putin, der mittels massenhafter Desinformationskampagnen eine ganz neue Form der informationellen Kriegsführung ins Werk setzt. In einer Zeit, in der es keine Privatsphäre mehr gibt, ist es eben nicht der tadellose Politiker, der sich durchsetzt, sondern der, dessen Ruf so ruiniert ist, dass Skandale ihm nichts mehr anhaben können. Donald Trump ist „antifragil“ gegenüber der Öffentlichkeit. Je mehr Skandale und Kritik er auf sich vereint, desto stärker wird er (vgl. Taleb 2012 und die Anwendung seiner Theorie auf den Kontrollverlust in Seemann 2014:162).

Alles wird fraglich und noch mehr wird in Frage gestellt. Die allgemeine Verwirrung ist aber schon lange kein allgemeiner Kontrollverlust mehr. Stattdessen gibt es konkrete Leute, Institutionen, Tribes und Interessenverbände, die daraus Kapital schlagen. Am Ende glaubt niemand mehr irgendetwas, oder nur noch, was er oder sie glauben möchte. Diesen aktuellen Zustand und das damit verbundene Gefühl hat die Hamburger Band Deichkind erst vor kurzer Zeit in ein Musikvideo gebannt: „Wer Sagt Denn Das?“

Video von Deichkindtv (2019): Deichkind - Wer Sagt Denn Das? (3:31 min). Online: https://www.youtube.com/watch?v=w7KA2LSvsfM

Die Strategien im Neuen Spiel sind andere als die des Alten und wer sie anwendet, kann unerwartete Gewinne erzielen. Der Kontrollverlust ist somit nicht mehr ganz ein Kontrollverlust - jedenfalls nicht mehr für alle. Doch je mehr Leute an den neuen Hebeln reißen, desto größer wird das Chaos, das sie anrichten.

Hier sehe ich auch schon die Gegenbewegung zum vorherrschenden Paradigma. Wie das Jahr 2016 gezeigt hat, hat die Digitalisierung noch ganz andere Effekte auf die Gesellschaft. Sowohl die Präsidentschaftswahl in den USA, als auch die Brexit-Volksabstimmung im Vereinigten Königreich verweisen auf Entwicklungen, die dem Kontrollverlust zweiter Ordnung, den wir bereits bei der Occupy-Bewegung und im Arabischen Frühling am Werk sahen, sehr ähneln, allerdings eine deutlicher zu erkennende Struktur aufweisen. Während in der Phase des Kontrollverlusts die Smart Mobs die Weltgeschichte aufwirbelten, aber auch schnell wieder in alle Richtungen verwehten, brechen im Neuen Spiel deutlich zu erkennende Demarkationslinien hervor, die quer zu allen bisherigen politischen Spektren verlaufen. Genauso wenig wie Trump ein typischer Republikaner ist, lässt sich die Brexit-Frage entlang der etablierten politischen Parteien klären. Die AfD fischt Stimmen bei allen deutschen Parteien, während diese Probleme haben, sich klar in der Flüchtlingsfrage zu positionieren. Diese neuen Demarkationslinien wirken unüberwindbar und unversöhnlich. Quer zu den etablierten Parteien haben sich gewissermaßen politische Stämme gebildet, die sich gegenseitig nicht mehr als Interessenvertreter unterschiedlicher Milieus und somit als politische Gegner sehen, sondern als Feinde der eigenen Identität.

Dieser digitale Tribalismus ist auch der Treiber hinter Fake News und Online-Belästigungskampagnen, er wird gefüttert aus einer neu erwachten psychologischen Prädisposition des Menschen, die sich im Internet ungehindert entfalten kann (vgl. Seemann 2017 und siehe zu einer allgemeinen Analyse des politischen Tribalismus mit US-Perspektive: Chua 2018). Der Tribalismus ist nebenbei auch der Hebelpunkt für russische Hacker und andere Manipulationsversuche. Am digitalen Tribalismus lässt sich zudem die Ohnmacht der eben noch allmächtig gewähnten Plattformen studieren, die ihm wie hilflose Zauberlehrlinge gegenüberstehen. Der Tribalismus ist der Gegentrend zum Neuen Spiel und ist als Kontrollverlust zweiter Ordnung mit den entwickelten Kontrollstrategien nicht einhegbar. Er wird das neue Paradigma der nächsten Phase der Digitalisierung einläuten.

Fünfte Phase: Restrukturierung (2025 - 2035)

An dieser Stelle verlassen wir die Rampe und schießen in einer ballistischen Bahn in die Spekulation. Wir wissen nicht, wie der Kampf Plattformisierung vs. Tribalisierung ausgehen, welche Volten er noch schlagen wird und welche Institutionen dabei noch in Mitleidenschaft gezogen werden. Aber ich gehe davon aus, dass die Tribalisierung vorerst nicht eingehegt werden kann, somit das folgende Paradigma wesentlich mitbestimmen wird und dass dieser Kontrollverlust zweiter Ordnung, die Gesellschaft noch deutlicher durchrütteln wird, als der der ersten Ordnung. Dieses Szenario drängt sich auch deswegen auf, weil die Historie analoge Phänomene in vergleichbaren Situationen hervorgebracht hat. Vereinfacht zusammengefasst: Ein neues Medium tritt auf den Plan und verschiebt die Grenze des praktisch Kommunizierbaren, was so lange zu gesellschaftlicher Unruhe führt, bis neue Institutionen, Denk- und Verhaltensweisen etabliert sind, die einen neuen Modus des Zusammenlebens ermöglichen. Dirk Baecker spricht in diesem Zusammenhang davon, dass neue Medien als „Katastrophe” auf die Gesellschaft wirken (vgl. Baecker 2007). Eine solche Restrukturierung von Gesellschaft sage ich für die Zeit von 2025 bis 2035 voraus.

Man kann das gut am Buchdruck zeigen: Wie das Internet heute, hat auch der Buchdruck die Gesellschaft grundlegend verändert. Heute schauen wir darauf zurück und bewerten diese Veränderung zumeist positiv. Der Buchdruck brachte allgemeine Lesekompetenz, eine Demokratisierung und Mehrung des Wissens. Wenn wir ein kulturgeschichtliches Phänomen mit dem Buchdruck verbinden, dann ist es die Aufklärung. Das ist zwar nicht falsch, aber unterschlägt den Fakt, dass zwischen der Erfindung des Buchdrucks und der Aufklärung rund 250 Jahre Chaos, Krieg und Zerstörung lagen. Etwas vereinfacht lässt sich vom Buchdruck zur Reformation über die Bauernkriege direkt zum 30jährigen Krieg eine lineare Wirkungskette ziehen, die aus der Distanz wie die gerade skizzierte Restrukturierung von Gesellschaft aussieht und die erst im Nachgang die Aufklärung möglich machte. Clay Shirky macht diesen Vergleich in seinem Ted Talk „Instituions vs. Collaboration“ auf und prophezeit bereits 2005, dass das Internet ca. 50 Jahre Chaos in die Welt bringen wird, bevor es besser werde (siehe: Shirky 2005).

Nimmt man den Buchdruck als Analogie und bettet die bisherigen Überlegungen zur Digitalisierung in den Prozess ein, ergibt sich folgendes Bild: Das alte Mediensystem, unsere Ideen von Öffentlichkeit und gesellschaftlichem Diskurs, die repräsentative Demokratie und vieles mehr wurde in einer Zeit konzipiert, in der nur eine geringe Anzahl von Menschen eine geringe Menge an Informationen über eine geringe Distanz verbreiten konnte. Dieses System trifft nun auf überwältigende Mengen weltweit außer Kontrolle geratener Datenströme und auf eine ungekannte Organisationsfähigkeit von Menschen und Informationen. Es ist nur folgerichtig, dass dadurch Machtstrukturen radikal in Frage gestellt werden, ohne dass bereits klar wäre, was sie ersetzen wird. An diesem Punkt sind wir.

Das Chaos, das durch die Erfindung des Buchdrucks ausgelöst wurde, stellte vor allem die Herrschaft der katholischen Kirche in Frage. Mit der Reformation wurden ihr plötzlich mehrere Gegenkonzepte zur Seite gestellt und in der blutigen Auseinandersetzung, die das provozierte, wurde ein neues Paradigma des Zusammenlebens geschaffen. Der souveräne und bürokratische Staat hatte sich bereits in Frankreich unter Ludwig XIV. entwickelt und wurde nach dem Westfälischen Frieden zum Vorbild europäischer Staatlichkeit. Frieden wurde möglich, da dieses neue Herrschaftsinstrument säkularisiert werden konnte, also nicht einseitig an eine bestimmte Form des Glaubens gekoppelt werden musste. Der souveräne, säkulare und bürokratische Staat erlaubte einen neuen Versuch des friedlichen Zusammenlebens und wurde schließlich zur Bedingung der Möglichkeit von Aufklärung und Demokratie.

Eine neue Institution, die einerseits machtvoll genug ist, die diversen Kontrollverluste des neuen Mediums wieder in friedliche Bahnen zu lenken, aber gleichzeitig eine Legitimation ähnlich der des Nationalstaats hat, könnte auch am Ende unserer Restrukturierungs-Phase stehen. Wie dieses Konstrukt aussehen wird, kann ich nur raten. Aber mein Tipp wäre, die Entwicklung des chinesischen Staatsmodells genau im Auge zu behalten, das die staatliche Souveränität versucht mit dem neuen Plattform-Paradigma in Einklang zu bringen. Von der totalitären Kontrollgier des chinesischen Konstruktes muss man sich dabei nicht abschrecken lassen. Die moderne Republik wurde auch nur von der absolutistischen Kontrollgier eines Sonnenkönigs ermöglicht, dessen bürokratischer Staatsapparat 150 Jahre später durch die Bürger übernommen werden konnte.

Aber auch die EU könnte hier interessante Impulse liefern, falls sie aus ihrer Nationalstaatserstarrung einmal aufwacht. Vielleicht müssen wir auch wieder viel kleiner denken und die zivilen Grassroots-Organisationen in Athen, Barcelona oder in den kurdisch kontrollierten Gebieten Iraks und Syriens in den Blick nehmen (siehe: Theodorou 2018, Jones 2018, Barcelona City Council 2014). Insbesondere Barcelona hat sich in den letzten Jahren als ein Ort der progressiven Experimente erwiesen. Sie stellten einen Chief Data Officer (CDO) ein (Lewin 2018), experimentieren mit Citizen Sensors (beispielsweise zum Messen von Lärm und Luftverschmutzung) (IAAC o.D.), starteten mit Decidem eine digitale Beteiligungsplattform (Decidim o.D.) und initiierten den Aufruf der Solidarity Cities (Shukla 2019), die sich entgegen den sie umgebenen Nationalstaaten bereit erklärten, Flüchtlinge aufzunehmen.

Ich bin mir jedenfalls sicher, dass irgendwo da draußen bereits die Grundsteine der großen Restrukturierung gelegt werden, denn seit William Gibson weiß ich: die Zukunft ist längst da, sie ist nur ungleich verteilt.

Digitale Mündigkeit

Zuletzt noch ein paar Gedanken zur Frage, welche Rolle das Individuum in dieser Welt und diesen Umbrüchen spielt, welche Handlungsmöglichkeit es hat, welche Fähigkeiten es braucht und welchen Beitrag Erziehung dazu leisten kann.

Ich bin generell eher skeptisch eingestellt, wenn es darum geht, individualistische Antworten auf systemische und strukturelle Fragen zu finden. Das führt nicht nur beim Klimawandel in eine wenig fruchtbare Diskussion, sondern auch bei der Digitalisierung. Mehr noch: Viele der genannten Umbrüche spielen sich vor einer Folie ab, die bestimmte Institutionen, die das moderne Denken des Individuums geprägt haben, geradezu dekonstruiert. Mit Gilles Deleuze würde ich heute vielmehr vom „Dividuum“, also dem schon immer Geteilten, sprechen (Deleuze 1990).

Ein weiteres Problem habe ich mit dem Gedanken der „Digitalen Mündigkeit” und anderen angrenzenden Begriffen, wie zum Beispiel „Medienkompetenz”. Sie suggerieren, dass diejenigen, die diese Worte benutzen, schon wüssten, was das überhaupt ist, wo wir doch angesichts der prinzipiellen Unabgeschlossenheit der Digitalisierung alle nur auf Sicht fahren. Die beschriebene Dialektik im Prozess der Digitalisierung impliziert die Unmöglichkeit eines finalen Wissens um die Elemente zur Herstellung digitaler Mündigkeit und übersieht, dass niemand von uns jemals wirklich „digital mündig“ sein wird. Wenn überhaupt, sollten wir junge Menschen darüber sprechen lassen, welche Skills man im Digitalen braucht und welche eher nicht. Insofern nutze ich gerne die Gelegenheit, ein paar Vermutungen und Beobachtungen aus meiner Perspektive darüber zu teilen, welche Eigenschaften unter- bzw. überbewertet sind:

  1. Programmieren scheint mir überbewertet. Programmieren ist toll und wer programmieren lernen möchte, sollte das unbedingt tun. Ich halte nur den Beitrag, den das Wissen um Programmierung vermittelt, ein selbstbestimmtes Leben im Digitalen zu führen, für nicht allzu groß. Es hilft ohne Frage, ein Auto reparieren zu können, doch auch dieses Wissen hilft einem im täglichen Straßenverkehr nur begrenzt.
  2. Ein Wissen, das mir derzeit hingegen unterbewertet zu sein scheint, ist das rund um Statistik. Egal, ob wir über Targeted Advertising, Big Data oder Künstliche Intelligenz reden: all diese Systeme sind im Grunde nichts anderes als angewandte, automatisierte Statistik. Ein tiefes, intuitives Verständnis um statistische Zusammenhänge scheint mir deswegen nützlich, um die vielen Missverständnisse, die Über- und Untertreibungen in den öffentlichen Narrativen um diese Technologien zu durchschauen. Beziehungsweise andersherum: mir scheint die öffentliche Debatte um diese Technologien an einem allgemein nur unzureichend verbreiteten statistischem Verständnis zu kranken.
  3. Vielleicht ist ja Latein das neue Latein?”, sagte ein Freund mal sinngemäß. Hintergrund war, dass Programmieren in bestimmten Kreisen gerne als das „neue Latein” bezeichnet wurde. Er meinte damit aber nicht, dass wir nun statt zu programmieren wieder Latein als Fremdsprache lernen sollten, sondern bezog sich auf das, was außerdem noch im Lateinunterricht mitvermittelt wurde: Die Kunst der Rhetorik und der freien Rede. Mir scheint zumindest, dass viele Leute, die im Digitalen erfolgreich sind, sich besonders gut darin verstehen, Menschen mit ihren Worten zu begeistern, sie zu überzeugen oder einfach nur Dinge auf den Punkt zu bringen. Rezo, der Youtuber, der mit einem einzigen Video die größte Volkspartei Europas in Bedrängnis brachte, ist nur das jüngste Beispiel dafür.

Video von Rezo Ja Lol Ey (2019): Die Zerstörung der CDU (54:57 min). Online: https://www.youtube.com/watch?v=4Y1lZQsyuSQ