Gerechtigkeit in der Kulturellen Bildung? Gerechtigkeit durch Kulturelle Bildung! Der Capability Approach als Rahmenkonzept für eine inklusive Kulturpraxis
Abstract
Der Beitrag diskutiert das Thema Gerechtigkeit in der Kulturellen Bildung auf der Grundlage des Capability Approach nach Amartya Sen und Martha Nussbaum. Aufgezeigt werden Wege zu einer differenzsensiblen und inklusiven Kulturpraxis, unabhängig von den unterschiedlichen Domänen der Kulturellen Bildung.
Einleitung
In seinem bedeutenden soziologischen Essay Rückkehr nach Reims schildert der französische Intellektuelle Didier Eribon eindrücklich seine Abwendung von dem Herkunftsmilieu seiner Eltern. Wie er sich als Arbeiterkind von dem beinahe unabwendbaren Schicksal befreite, selbst durch die starren Gesetze der sozialen Reproduktion in das Arbeitermilieu einzurücken, und wie er es schaffte, die vorgesehene soziale Ordnung zu durchbrechen. Das ist zugleich außergewöhnlich lesenswert und scharf in der Analyse.
Eribon drückt es ohne Umschweife aus: „Ich glaubte zu wählen, wurde aber von dem, was mich erwartete, gewählt, oder besser gesagt, von dem eingeholt, was mir vorgezeichnet gewesen war.“ (Eribon 2016:170) Nur selten hat sich das Habitus Konzept, das der französische Soziologe Pierre Bourdieu (Bourdieu 1999; Bourdieu 2001; Krais/Gebauer 2002) als analytisches Instrument zur Untersuchung der verborgenen Gesellschaftsdynamik entwickelte, so aktuell, anschaulich und schlüssig dargestellt.
Im Hinblick auf das Feld der Kulturellen Bildung sind vor allem die Beschreibungen von Eribons Schulzeit und Bildungserfahrungen wichtig, weil hier ein Prozess der Anpassung an die Kultur der Schule und des Lernens thematisiert wird, der einen langen und mühevollen Weg der „Umerziehung“ – wie Eribon es nannte –, aufzeigt. Der Begriff der Umerziehung mag drastisch wirken, zeigt aber die enorme Differenz zwischen der als legitimer Kultur angesehenen und der davon ausgegrenzten Kultur des Arbeitermilieus deutlich auf. Wie kommt also eine als hegemonial erlebte, bürgerliche Kultur in dieses Milieu einer typischen französischen Arbeiterfamilie? Auf dem üblichen Weg der schulischen Bildung! Die Frage steht zu klären an, ob es im Lernort Schule keinen Raum für kulturellen Eigensinn gibt und wie offen Schule für unterschiedliche und individuell spezifische Aneignungsprozesse ist? Konkret: Welche Vermittlungsformen entstehen aus dieser Differenz?
Auf Augenhöhe kann dieser Weg nicht beschritten werden, das macht ein Ausschnitt aus dieser autobiographischen Beschreibung eindrücklich klar und verweist auf die Fallstricke und Ausgrenzungsstrategien, die hierbei wirksam werden können.
Eribon schildert seine Erfahrungen als Jugendlicher auf dem städtischen Gymnasium:
„Der Musikunterricht stellte dabei den subtilsten, aber auch brutalsten Test darauf dar, ob man das beherrschte, was als ‚die Kultur‘ bezeichnet wird, ob sie einem vertraut und verständlich oder fremd und unzugänglich war. Der Lehrer brachte Schallplatten mit und spielte uns irgendwelche Ausschnitte vor. Während die Bürgerkinder schwärmerische Mienen aufsetzten, machten wir Arbeiterkinder hinter vorgehaltener Hand alberne Witze; manchmal konnten wir uns auch gar nicht zusammenreißen, schwätzten laut und prusteten vor Lachen. All das trägt insgeheim dazu bei, dass jenen, denen es ohnehin schon schwerfällt, den sozialen Anforderungen des Schulbetriebs in allen seinen Aspekten zu genügen, das Gefühl gegeben wird, sie gehörten nicht dazu und seien dort irgendwie fehl am Platz.“ (Eribon 2016:160)
Didier Eribon wählte in seinem Bildungsprozess den Weg der Anpassung an „die Kultur“: „Widerstand hätte meine Niederlage bedeutet, Unterwerfung war meine Rettung.“ (ebd.:161) Um dem grundsätzlich homophoben und latent rassistischen Arbeitermilieu zu entkommen, muss Eribon aus Gründen sozialer Scham seine Herkunft verleugnen. Damit wird ein starker Distinktionsmechanismus im Feld Kultureller Bildung wirksam (Liebau 2015).
Eine ganz andere Barriere auf dem Weg zur Musik hatte der Musiker und Echo-Preisträger Felix Klieser erfahren: Er verspürte schon als vierjähriges Kind den unbedingten Wunsch Horn zu spielen. Allerdings gilt dieses Instrument als eines der schwierigsten Blasinstrumente. So rieten ihm alle Menschen in seiner Umgebung davon ab, nicht nur weil der mittlerweile konzerterfahrene und anerkannte Berufsmusiker ohne Arme geboren ist. Das Horn spielt er mit dem linken Fuß. Sein Lehrer riet ihm ebenfalls vom Horn ab und empfahl ein anderes Instrument: Allerdings eher als Instrument für ein Hobby und nicht als Beruf. Durch Glück, Ehrgeiz und absolute Hingabe an das Instrument spielt der Weltklasse-Hornist inzwischen in Konzerthallen weltweit. Die bisherige Künstlerlaufbahn des 1991 geborenen Musikers ist mehr als eindrucksvoll: Er war jüngster Hornspieler aller Zeiten an der Musikschule Göttingen, dann mit 17 Jahren Jungstudent an der Hannoveraner Hochschule, Hornist im Bundesjugendorchester, „Life Award“-Preisträger und Bundessieger bei „Jugend musiziert“ (Tackenberg 2015; http://www.felixklieser.de/biography/).
Anschaulich beschreibt wiederum die Biographie des Schauspielers und Synchronsprechers Sebastian Urbanski das Bourdieu‘sche Habitus Konzept sowie die unterschiedlich verfügbaren Kapitalkonfigurationen, die den Weg zur Kulturellen Bildung gangbar machen: Urbanski wurde 1978 in der DDR mit dem Down-Syndrom geboren. In seinem Buch „Am liebsten bin ich Hamlet“ (2015) schildert er sein ereignisreiches Leben. Die unermüdlichen Bemühungen seiner Eltern, beide mit einem in der damaligen DDR sehr privilegieren Zugang zu Wissen durch die akademischen Abschlüsse und Berufe sowie der gesamten Familie, das Potenzial des jungen Sebastian kontinuierlich und nachhaltig zu fördern, ihn mit Geschichte, Kunst, Kultur und ästhetischen Erfahrungen vertraut zu machen und aufwachsen zu lassen, sind sehr eindrücklich (Urbanski 2015:48ff.). Dabei wurden auch vielfältige und meist von den Eltern entwickelte individuelle Fördermaßnahmen sehr früh und konsequent angewendet. Aufgrund dieser unterstützenden Förderung, die seine Behinderung nicht verleugnete, aber seine ästhetisch-schöpferischen Fähigkeiten freilegen konnte, entwickelte Sebastian Urbanski sein schauspielerisches Talent, starke Bühnenpräsenz und eine beispielgebende Künstlerbiographie.
Die Idee einer allgemeinen Strategie zur Realisierung von Kultureller Teilhabe auf der Basis gerechtigkeitstheoretischer Überlegungen
Ausgehend von diesen drei unterschiedlichen Fallbeispielen einer im Bildungsprozess stattfindenden faktischen Exklusion, die allerdings mehr oder weniger durch Glück, also nicht systematisch, außer Kraft gesetzt worden ist bzw. die sozialen Platzanweisungen überwinden konnte, diskutiere ich in diesem Beitrag ein mögliches Rahmenkonzept einer kulturellen Bildungsgerechtigkeit und zwar grundsätzlich unabhängig von den jeweiligen Domänen der Kulturellen Bildung. Die Idee dabei ist, dass jenseits von deren Eigenheiten und spezifisch ausgeprägten Anforderungen ein diskriminierungsfreier Weg zur kulturellen Teilhabe mithilfe grundlagentheoretischen Überlegungen erwogen wird: Wie kann die Teilhabe an Kultureller Bildung ermöglicht werden, ohne soziale Ausgrenzung und Exklusion auf dem Weg zur Musik oder zum Theater oder auch zu den anderen Domänen der Kunstpraxis zu reproduzieren? Mit anderen Worten: Wie kann ein inklusiver Zugang möglich werden?
Unter dem vielschichtigen Begriff Inklusion (Wansing 2015) verstehe ich kein ausschließlich das Feld der Behinderung betreffendes Thema, für das die Sonderpädagogik die Zuständigkeit reklamiert, sondern eine allgemeine Strategie zur Realisierung von Teilhabe und Menschenrechten (Gummich/Hinz 2017). Inklusion ist ein Menschenrechtsprinzip (Bielefeldt 2012), das besonders hinsichtlich des Rechts auf Bildung systematisch auf das Versprechen der Diskriminierungsfreiheit hin überprüft werden muss (Sauter 2013; Neuhoff 2015).
Durch diese universalistische und normative Perspektive wird hervorgehoben, dass es im Prozess der Inklusion um eine Erweiterung von Teilhabe gehen muss. Zugangswege zu ermöglichen ist dabei Zielperspektive, ohne in einen paternalistischen Gestus zu verfallen, der „die Kultur“ als einzig mögliche Form der menschlichen Ausdruckfähigkeit versteht und die Zugänge dazu entsprechend begrenzend figuriert. Oder eine Bühnenkarriere sowie eine Künstlerexistenz ausschließlich an bestimmte kognitive oder körperliche Fähigkeiten und damit an ein enges Konzept von „Normalität“ koppelt (Sauter et al. 2016).
Dieses Konzept hat sich in zwei Hinsichten zu bewähren: Zum einen ist der Gerechtigkeitsbegriff – also die begründete und kluge Ungleichbehandlung von Ungleichen – theoretisch aus einer subjektiven Begründungslinie zu befreien, um dennoch universalistisch zu argumentieren. Dabei kommt der gegenwärtige Inklusionsdiskurs ins Spiel, der untrennbar mit Grundfragen von Gerechtigkeit und Teilhabe verknüpft ist. Die drei exemplarisch ausgewählten biographischen Fallbeispiele verweisen auf beständige Ausgrenzungsmechanismen oder besser: Exklusionsrisiken entlang der beiden Differenzkategorien „soziale Lage“ und „Behinderung“. Gleichwohl sind die Bewältigungsmöglichkeiten und die Strategien der Transformation jeweils ungleich verteilt. Sie hängen ab von individuellen Ressourcen, Zufällen, geglückten Wendungen oder auch von den grundsätzlichen Kategorien Zeit und Raum. Konkret: wo und wann jemand geboren wird, aufwächst und damit über Unterstützungssysteme und Teilhabechancen verfügt oder nicht.
Aus diesem Grund muss ein Zugang zu den Teilhabemöglichkeiten und -bedingungen Kultureller Bildung systematisch erfolgen, also nicht nur orientiert an einer zugeschriebenen oder faktischen Differenzlinie, sondern aufgrund einer sorgfältigen Analyse der möglichen Potenziale und Talente, grundlegenden menschlichen Fähigkeiten und vor allem den je unterschiedlichen Vorstellungen, ein gutes Leben führen zu können. Es liegt auf der Hand, dass in dieser Hinsicht eine für alle geltende Gleichheit kein Ziel sein kann, sondern eine differenzierende Ungleichbehandlung erwogen werden muss. Mithin spielen gerechtigkeitstheoretische Überlegungen eine ausdrückliche Rolle.
Dies geschieht unter Rückgriff auf den Ansatz des Capability Approach, wie ihn Martha Nussbaum in „Die Grenzen der Gerechtigkeit“ (2010) aus den Vorarbeiten von Amartya Sen (Sen 1985; Sen 1992; Nussbaum/Sen 1993) weiterentwickelt hat. (Zum Capability Approach siehe auch Mark Schrödter: Wohlergehensfreiheit – Welche Lebenschancen brauchen junge Menschen? Der Capability-Ansatz als möglicher Orientierungsrahmen.)
Von dieser grundlagentheoretischen Reflexion ausgehend stelle ich pointiert aktuelle Befunde zur Teilhabe an Kultureller Bildung mit dem Fokus auf Behinderung und Benachteiligung vor. Die beiden genutzten empirischen Studien (Bildungsbericht 2012 und Teilhabebericht der Bundesregierung von 2016) zeigen, dass die Teilhabe am kulturellen Leben in der Gesellschaft ungleich verteilt ist. Es bestehen Exklusionsrisiken aufgrund von faktischen und zugeschriebenen Differenzmerkmalen wie soziale Lage, Behinderung, Migration und Geschlecht (wobei im Beitrag nur die ersten beiden Aspekte vertieft werden). Vielfach trifft danach das (Menschen-)Recht auf eine diskriminierungsfreie Bildung und kulturelle Teilhabe auf Barrieren (Fuchs 2013/2012).
Die anschließende gerechtigkeitstheoretische Reflexion blickt auf die so genannte Zehner-Liste von Nussbaum und entwickelt von diesen Grundlagen ausgehend ein für die Kulturelle Bildung weit reichendes analytisches Instrumentarium. Wobei der Fähigkeitenansatz nicht als umfassende Theorie der Gerechtigkeit verwendet werden kann: Denn nach Nussbaum sagt er nichts darüber aus, was die Gerechtigkeit in Bezug auf Ungleichheiten oberhalb des Schwellenwertes fordert (Nussbaum 2010:111). Darauf aufbauend wird ein Schwellenkonzept (in der Weiterführung des Ansatzes von Nussbaum durch Johannes Giesinger) von Gerechtigkeit diskutiert, unterhalb dessen kein würdevolles Leben und mithin auch keine gelingende Teilhabe an Kultureller Bildung möglich werden können. Im Hinblick auf (schulische) Bildungsprozesse wird dieses Konzept vorgestellt und weiter präzisiert. Zum Abschluss greife ich ein weiteres Fallbeispiel auf, damit der Gang der Argumentation in Richtung eines menschenrechtlich begründeten Inklusionsverständnisses präzisiert werden kann. Es wird sich zeigen, dass ein unauflösbares Spannungsfeld zwischen einem expliziten Zielgruppenfokus auf vulnerable Gruppen und einem gerechten Gesellschaftskonzept besteht, das unaufhebbar ist. Allerdings macht das letzte Fallbeispiel, das ich im Ausblick schildere deutlich, dass sich dieses Spannungsfeld durchaus konstruktiv und ästhetisch anspruchsvoll bearbeiten lässt.
Überfrachtete Anforderungen an die Kulturelle Bildung?
„Die Schule ist der einzige Ort, an dem Ästhetische und Kulturelle Bildung alle Kinder und Jugendlichen – unabhängig von ihrem Wohnort und ihrer sozialen, ökonomischen oder kulturellen Herkunft – kontinuierlich und in hoher Qualität erreicht. Hier erwerben die jungen Menschen grundlegende Kenntnisse und Fähigkeiten, um zu selbstbestimmten Mitgliedern unserer Gesellschaft zu werden und am kulturellen Leben teilhaben zu können.“
So emphatisch beschreibt das Positionspapier (2016) des Bundesverbands Theater an Schulen, das ein breites Bündnis von theaterpädagogischen Akteuren repräsentiert, den Bildungsauftrag der Kulturellen Bildung an Schulen. Und auch der Bildungsbericht von 2012 hebt die Bedeutung Kultureller und Ästhetischer Bildung an Schulen nachdrücklich hervor.
Diese hohe Wertschätzung drückt sich in der Gewichtung der künstlerisch ästhetischen Fächer aus, die im Nachgang der Diskussion um die PISA-Studien in der öffentlichen Wahrnehmung scheinbar hinter die allgemeinbildenden Fächer zurück fielen. Kulturelle Bildung und Ästhetische Erfahrung, so der Bildungsbericht, sei jedoch eigenständig in ihren Zielen. Sie „umfasst eine kulturelle Praxis, die dazu beiträgt, Individuen zu einem selbstbestimmten Leben, zur Entdeckung und Entfaltung ihrer expressiven Bedürfnisse sowie zur aktiven Teilnahme an Kultur zu befähigen. In einer Welt, deren soziale, politische und ökonomische Prozesse von einer Fülle ästhetischer Medien geprägt werden, wird kulturelle/musisch-ästhetische Bildung zu einer wichtigen Voraussetzung für autonome und kritische Teilhabe an Gesellschaft und Politik.“ (Bildungsbericht 2012:157)
Was an diesen beiden Darstellungen auffällt, das ist der ausdrückliche Bezug zur kulturellen Teilhabe. Dadurch wird ein aktuelles Konzept in Anschlag gebracht, das vor allem im bildungswissenschaftlichen und bildungspolitischen Diskurs um Inklusion eine herausragende Bedeutung erhalten hat. Das Konzept der Teilhabe – auch wenn es bislang dazu noch keine konsensfähige und fachwissenschaftlich klar umrissene Definition gibt – beschreibt gleichermaßen Weg und Ziel der gesellschaftlichen und pädagogischen Bemühungen. Ziel ist in dieser Hinsicht eine selbstbestimmte Lebensführung. Diese pädagogisch bestimmbare Zielbestimmung ist allerdings nicht einfach in kausalen Ursache-Wirkungszusammenhängen zu fassen. Auch nicht im Hinblick auf die Wirkungsbehauptungen der Kulturellen Bildung. Wenngleich es eindrückliche Einzelbeispiele und gelungene Wege zur Teilhabe gibt, warnt doch der Rat für Kulturelle Bildung vor einerseits einer Überfrachtung der Aufgaben und Ziele und andererseits auch vor Wirkungsannahmen, die sich schlicht empirisch nicht oder nicht ohne weiteres überprüfen lassen:
„In diesem Zusammenhang werden insbesondere integrative Wirkungen Kultureller Bildung hervorgehoben und betont. Dass Kulturelle Bildung stärker den sozial Benachteiligten helfe, dass sie inklusiv sei, dass sie wesentlich partizipativ sei und dass sie Menschen verbinde, sind weit verbreitete Thesen, die in zahllosen Erklärungen behauptet werden. Empirisch stehen solche Behauptungen allerdings auf wackeligen Beinen; zum Teil sind sie einfach falsch.“ (Rat für Kulturelle Bildung 2014:24)
Wenn also die Wirkungen nicht planbar oder gar vorhersehbar sind, müssen sie zumindest anderen Kriterien genügen. Ein solches Kriterium wäre Gerechtigkeit. Aber kann das abstrakte Wort Gerechtigkeit ein solches Kriterium darstellen? Da der Gerechtigkeitsdiskurs vielstimmig und äußerst heterogen ist, müssen dessen Grundlagen sorgfältig begründet und hergeleitet werden. Zumindest weckt der Gerechtigkeitsdiskurs die Hoffnung und impliziert das Versprechen, dass zumindest die Wege zu Kunst, Kultur und ästhetischer Ausdruckfähigkeit systematischer, und im Hinblick auf die Ausgangslage, reflektierter beschritten werden können als es in den drei Fallbeispielen aus der Einleitung anschaulich wird.
Von daher wird der nächste Schritt darin bestehen zu klären, welche empirischen Befunde zu Ungleichheiten im Hinblick auf kulturelle Teilhabe von Menschen mit Behinderung und Ausgrenzungen aufgrund sozialer Lage vorliegen. Diese werden im folgenden Abschnitt herausgestellt.
Befunde zu Ungleichheiten in der Kulturellen Bildung
„Ob ein Mensch die Möglichkeit hat, am kulturellen Leben teilzunehmen, ist nicht zu trennen von gesellschaftlicher Teilhabe im Allgemeinen.“ (Maedler/Witt 2014:o.S.) Mit dieser Aussage wird deutlich, dass es keine Kulturelle Teilhabe geben kann, die jenseits von allgemeinen gesellschaftlichen Dynamiken zu verorten wäre.
Mit Blick auf die empirischen Befunde, die der Bildungsbericht von 2012 mit dem ausdrücklichen Untersuchungsfokus auf Kulturelle Bildung freilegte, soll dieser gesellschaftlich vorgespurte Möglichkeitsraum Kultureller Bildung in ausgewählten Bereichen und beispielhaft in den Fokus genommen werden. Im Allgemeinen hebt der Bildungsbericht die Ausgangslage positiv hervor: „Deutschland ist ein Land mit einer herausragenden kulturellen Infrastruktur, Tradition und Vielfalt.“ (Bildungsbericht 2012:159)
Dennoch besteht in Hinblick auf die Forschung eine lückenhafte Datengrundlage (ebd.), so dass die Autorengruppe des Berichts auf Sondererhebungen zurückgreifen musste. Diese umfassen bildungskulturelle Aktivitäten und die Inanspruchnahme von kulturellen/musisch-ästhetischen Bildungsgelegenheiten aus individueller Perspektive. Diese Perspektive wurde gewählt, um Informationen über deren Bedeutung und Verortung im Lebenszusammenhang zu erhalten. Die Lebenslaufperspektive, die den gesamten Bildungsbericht durchzieht, ist eine wichtige Fokussierung, da sich dadurch die im Hinblick auf Übergänge und Ressourcen im jeweiligen Lebensalter wirkenden riskanten Zonen identifizieren lassen.
Mit Blick auf die kulturell-musischen Aktivitäten in der frühen Kindheit, die innerhalb der Familie durchgeführt werden, zeichnet der Bildungsbericht folgendes Bild: „Das Vorlesen und Singen hat in Familien eine hohe Bedeutung: 68% der Eltern geben an, mit ihren Kindern mehrmals in der Woche zu singen, während 24% der Eltern mit ihren Kindern musizieren. Dadurch können Kinder erste Erfahrungen mit Klangwelten und Rhythmen machen, die eine Grundlage für ihre spätere Musikalität bilden. Vor allem Eltern mit hohem Bildungsstand singen nach eigenen Angaben häufig zusammen mit ihren Kindern. Durch das Singen wird zugleich spielerisch der kindliche Spracherwerb unterstützt. Beim gemeinsamen Musizieren in der Familie fällt auf, dass es bei jenen Gruppen einen höheren Stellenwert besitzt, die bei der Nutzung institutioneller Kulturangebote unterrepräsentiert sind: Vor allem Familien mit Kindern der 1. und 2. Migrantengeneration scheinen verstärkt innerhalb der Familie musikalisch aktiv zu sein.“ (Bildungsbericht 2012:161)
Von diesen Familien mit Migrationshintergrund gibt ein Drittel an, häufig gemeinsam mit der Familie Musik zu machen, bei Familien ohne Migrationshintergrund liegt der Anteil bei 22%. Und hinsichtlich der sozialen Lage zeigen sich folgende Befunde: „Ähnliche Ergebnisse zeigen sich auch für Familien mit geringen ökonomischen Ressourcen, die häufiger mit ihren Kindern zusammen musizieren als Eltern in der höchsten Einkommensklasse. Dies weist darauf hin, dass bei jenen Familien, die durch institutionelle Angebote seltener erreicht werden, ein breites Interesse am Musizieren besteht, dieses aber vor allem in der Familie ausgelebt wird.“ (ebd.)
Sozioökonomische Ungleichheiten und Migrationshintergrund wirken sich also nachweisbar auf kulturelle Aktivitäten und die Nutzung kultureller Angebote aus. Aber das Überraschende an diesem Befund aus dem Bildungsbericht ist, dass es bei Familien, die hinsichtlich der Nutzung institutioneller Kulturangebote unterrepräsentiert sind, eine hohe Wertschätzung und verbreitete Praxis musikalischer Aktivitäten im Innenraum gibt. Eine erweiterte, gerechtigkeitsorientierte Perspektive hat sich folglich mit der Frage auseinanderzusetzen, welche Ungleichheiten danach nun für wen ausgeglichen werden sollen und wie an das vorhandene Potenzial familiärer musikalischer Praxis in kulturellen Bildungseinrichtungen anzuschließen wäre. Der Gedanke der Kompensation für Familien mit Migrationshintergrund oder schwächerem ökonomischen Status wirkt hier unangemessen, weil er nicht erklären kann, wieso die familiale Musikpraxis nicht anschlussfähig an die institutionellen Kulturangebote ist. Erweitert man die Perspektive auf diesen Bereich, dann lässt sich eine mögliche Kompensation von Ungleichheiten verfolgen, wenn die kulturellen Aktivitäten außerhalb der Familie einem expliziten Bildungsziel folgen und über ein pädagogisches Konzept verfügen, welches Transfer und Anschlussfähigkeit ermöglicht.
Beim Blick auf den bereits genannten Bereich Musik tritt folgendes zu Tage: Über ein Viertel der Kinder der Altersgruppe der 2 bis 6-Jährigen besucht Angebote der frühkindlichen Musikerziehung. Allerdings sind auch hier Ungleichheiten feststellbar:
„Während 30% der Mädchen eine musikalische Förderung bekommen, trifft dies auf 24% der Jungen zu. Hier deuten sich bereits in jungen Jahren geschlechtertypische Sozialisationsmuster im Bereich Musik an. Die Inanspruchnahme organisierter frühkindlicher Musikangebote hängt zudem stark von der elterlichen Bildung ab. Während 33% der Eltern mit hohem Bildungsstand ihre Kinder zu musikalischen Angeboten anmelden, trifft dies nur auf 17% der Eltern mit mittlerem und 9% der Eltern mit niedrigem Bildungsstand zu, was auf eine hohe Selektivität in der Nutzung solcher Angebote hinweist.“ (Bildungsbericht 2012:162) Interessant ist hierbei, dass sich die Strukturkategorie Geschlecht – wenn auch mit relativ geringer Stärke – nachweisen lässt, die soziale Lage aber eine sehr starke und stabile Einflussgröße bezüglich der Nutzung der Angebote ausmacht.
Bezüglich der Differenzlinie Migrationshintergrund ist eine interessante Differenzierung im Bildungsbericht auszumachen. Kinder mit mindestens einem in Deutschland geborenen Elternteil (der so genannten zweiten und dritten Generation) – so der Bericht – nehmen Musikangebote ebenso häufig wahr wie Kinder ohne Migrationshintergrund. Lediglich Kinder von Eltern, die beide nicht in Deutschland geboren sind, sind seltener unter den Musikschülerinnen und -schülern zu finden. Diese Kinder mit Migrationshintergrund musizieren aber gleichzeitig häufiger in der Familie. Lapidar hält der Bildungsbericht fest: „Insgesamt zeigt sich eine unterschiedliche Teilhabe an Gelegenheitsstrukturen kultureller Bildung, die sich in späteren Lebensjahren verfestigen kann.“ (ebd.:163) Interessant wäre in dieser Hinsicht genauer zu analysieren, was die Gründe dafür sind, dass das familiäre Interesse an Musikkultur nicht anschlussfähig an die institutionalisierten Angebote ist.
Kulturelle Teilhabe, Ungleichheiten und Menschen mit Behinderung: Befunde des zweiten Teilhabeberichts
Weil der Bildungsbericht von 2012 keine dezidierten Aussagen bezüglich der Differenzlinie Behinderung und der Nutzung der Angebote der Kulturellen Bildung erhebt, müssen, um Aussagen in diesem Zusammenhang vertiefen zu können, andere Quellen herangezogen werden. Daher wird der aktuelle Teilhabebericht der Bundesregierung über die Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigungen von 2016 befragt. Er soll darüber Auskunft geben, wie Menschen mit Beeinträchtigungen in Deutschland leben, wie es um ihre Teilhabechancen in einzelnen Lebensbereichen bestellt ist und wo es noch Barrieren abzubauen gilt. Insgesamt folgt der Bericht in seiner vielfältigen Untersuchungsperspektive einem zeitgemäßen Verständnis von Behinderung und spricht deshalb zunächst von Beeinträchtigung: „Als Personen mit Beeinträchtigungen gelten im Folgenden Menschen mit anerkannter Behinderung sowie Personen mit chronischer Erkrankung oder lang andauernden gesundheitlichen Problemen. Wenn Beeinträchtigungen mit Barrieren in der Umwelt so zusammenwirken, dass dies eine gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft einschränkt, wird von „Behinderung“ gesprochen.“ (Engels et al. 2016:7)
Gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen an der Gesellschaft wird als ein zentrales Ziel staatlicher Politik konzipiert und auch als ein unaufhebbares Recht, das allen Menschen zusteht. In diesem Sinne verfolgt der Bericht eine Analyse von Teilhabeerwartungen, Teilhabebarrieren durch eine Teilhabemessung. Sie folgt einem Lebenslagenkonzept und zeigt Handlungsräume und auch Einschränkungen auf, wenngleich der Teilhabebegriff weiterer Präzisierung und wissenschaftlicher Klärung bedarf. Wobei aus fachwissenschaftlicher Perspektive darauf hingewiesen wird, dass Teilhabe in strukturelle, normative, deskriptiv-empirische und individuelle Ebenen zu unterteilen ist (vgl. ebd.:31).
Vor allem in individueller Hinsicht werden die damit verbundenen Verwirklichungschancen thematisiert. Auf diesen wichtigen theoretischen Bezugspunkt komme ich im späteren Diskurs um Gerechtigkeit und den Capability Approach zurück.
Was sagen nun die Befunde aus dem Teilhabebericht im Hinblick auf Kulturelle Bildung aus? Folgende Fakten sind darin zu finden: „80% der Menschen ohne Beeinträchtigungen und 61% der Menschen mit Beeinträchtigungen besuchen regelmäßig oder zumindest gelegentlich kulturelle Veranstaltungen. Angebote der in der Regel öffentlich finanzierten klassischen Kultur (Oper, klassische Konzerte, Theater, Ausstellungen etc.) nehmen 59% der Menschen ohne Beeinträchtigungen und 50% der Menschen mit Beeinträchtigungen wahr. Bei den überwiegend frei finanzierten Veranstaltungen wie Kino, Jazz- oder Popkonzerten, Tanz-veranstaltungen etc. zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen. Diese Veranstaltungen besuchen 71% der Menschen ohne Beeinträchtigungen und 44% der Menschen mit Beeinträchtigungen regelmäßig oder zumindest gelegentlich.“ (Engels et al. 2016:345)
Zeigen sich bei den rezeptiven Formen teilweise erhebliche Unterschiede, fallen sie im Bereich der eigenen kulturellen Aktivitäten weniger stark ausgeprägt aus: „Der Anteil derjenigen, die täglich musizieren oder sich anderweitig künstlerisch betätigen, beträgt sowohl bei den Menschen ohne als auch mit Beeinträchtigungen 4%. Menschen mit Beeinträchtigungen sind zu jeweils geringeren Anteilen mindestens einmal in der Woche, einmal im Monat oder seltener musisch oder künstlerisch aktiv als Menschen ohne Beeinträchtigungen. Entsprechend ist der Anteil der Menschen mit Beeinträchtigungen, die nie musisch oder künstlerisch aktiv sind, mit 56% höher als der entsprechende Anteil der Menschen ohne Beeinträchtigungen (46%).“ (ebd.:353)
Für beide Bereiche gilt jedoch, dass sich dezidierte Aussagen zum Feld der Kulturellen Bildung im zweiten Teilhabebericht der Bundesregierung nicht finden lassen. Die Aussagen beschränken sich auf den allgemeinen Bereich der Bildung und die Nutzung von Kulturangeboten bzw. das eigene Tätig sein im künstlerisch-musischen Bereich. Angenommen werden kann jedoch, dass sich die gesellschaftliche Teilhabe und die kulturelle Teilhabe im Hinblick auf die Exklusionsrisiken nicht wesentlich voneinander unterscheiden und es aufgrund von mangelnder Barrierefreiheit zu Teilhabebeschränkungen kommt. Es kann also nicht nur in empirisch-forschungsbasierter Hinsicht eine unzureichende Datenlage erkannt werden, auch bezüglich der theoretischen Grundlagen sind Unzulänglichkeiten festzustellen.
Mit Gerechtigkeit werden immer auch gesellschaftliche Verhältnisse bewertet und Stellung bezogen zu der Frage, ob die gesellschaftlichen Verhältnisse berechtigterweise so sind, wie sie sind. Vor allem im Hinblick auf die Thematik Behinderung zählen Gerechtigkeit und Gleichheit zu den diskursiven Kernfeldern (Liesen et al. 2012:184).
Diskurse zu Gerechtigkeit
Gerechtigkeit ist ein weit reichender Begriff, eine Arena der Bedeutungskämpfe und vor allem eine politisch-philosophische Frage, die die Menschen seit mindestens 2500 Jahren beschäftigt. Gerechtigkeit hat es nie gegeben und wird es sicherlich auch nie geben. Sie muss immer eingefordert werden. In Diskursen um Gerechtigkeit ist zudem ein Spannungsfeld von normativen Ansprüchen und empirischen Befunden unausweichlich: Es muss gut begründet werden, welche Formen von Ungleichheit in einer offenen, demokratischen Gesellschaft akzeptiert werden müssen und welche zu Ausgrenzung führen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährden. In dem Ausdruck Akzeptanz von Ungleichheit ist ein Problem enthalten, der sich jede Diskussion um Gerechtigkeit zu stellen hat. Es besteht ein Dualismus von zwei Perspektiven: Zum einen ist die empirische Untersuchung von Ungleichheit ein Beobachtungrahmen, um beispielsweise ungleiche Bildungsbeteiligung abbilden zu können. Zum anderen werden dadurch Bewertungen ermöglicht, also stehen normative Fragen zur Klärung an. Beide Perspektiven sind gleich wichtig und stecken das Spannungsverhältnis im Pluralismus der Gerechtigkeitstheorien ab (Ebert 2015:17). Marianne Heimbach-Steins plädiert vor diesem Hintergrund für eine Überwindung des Dualismus und sieht Empirie und Normativität in einem Verweisungszusammenhang (Heimbach-Steins 2008:23). Dadurch können Ungleichheiten sensibler auf diskriminierende Effekte beobachtet werden und in Fragen für die empirische Forschung transferiert werden.
Im Feld der Bildung ist der Gerechtigkeitsbegriff inzwischen programmatisch und auch als Forschungsperspektive angekommen und führt zu lebhaften Debatten, Systematisierungsversuchen oder dient der Begründung politisch-normativer Vorstellungen im Hinblick auf Bildungspolitik und Bildungswissenschaft (Giesinger 2007; Heimbach-Steins 2009; Stojanov 2011; Seitz et al. 2012; Reich 2012; Dietrich et al. 2013; für die Kulturelle Bildung: Maedler 2008; Claußen 2014).
Bedeutsam für den Diskurs um Gerechtigkeit ist der Philosoph John Rawls (1921-2002). Er hat in seinem großen Werk „Eine Theorie der Gerechtigkeit“ (1971) eines der einflussreichsten philosophischen Werke des 20. Jahrhunderts vorgelegt. Darin spielt er folgendes Gedankenexperiment durch: Angenommen eine Gruppe von Menschen könne noch einmal ganz von vorne anfangen und sich eine neue und gerechte Gesellschaft ausdenken. Keiner weiß, welche Position er darin einnehmen wird. Es ist nicht entschieden, wer als Millionär, ungelernter Arbeiter, wer Arbeitslos oder als Karrieremacher seinen Platz in dieser Gesellschaft finden wird und finden muss. Auf welche idealen Gerechtigkeitsgrundsätze wird sich diese Gruppe von Menschen im „Urzustand“ – so nannte Rawls diese Situation in der alle Menschen tatsächlich gleich sind – verständigen können?
Rawls war davon überzeugt, dass hinter dem „Schleier des Nichtwissens“ sich alle Beteiligten auf eine Gesellschaft einigen, in der jeder, ob reich oder arm, eine wirklich faire Chance besitzt, seine Begabung und seine Interessen zu verwirklichen. Diese wohlbegründete Gerechtigkeitsvorstellung folgt der Idee eines Gesellschaftsvertrags in dem die Grundgüter – also berufliche Stellung und Vorrechte, Einkommen und Besitz – gerecht verteilt werden. Ungleichverteilungen erscheinen aus der Perspektive von Rawls im so genannten Differenzprinzip nur dann als legitim, wenn der Schlechtergestellte daraus einen Vorteil bezieht.
Der Capability Approach und die Weiterführung des philosophischen Gerechtigkeitsdiskurses von Rawls durch Amartya Sen und Martha Nussbaum
Wie jede Theorie, so steht auch die Gerechtigkeitstheorie von Rawls in der Kritik und muss sich diskursiv bewähren. Eine wichtige Weiterentwicklung der Theorie von Rawls entstand aus der Perspektive von Amartya Sen und Martha Nussbaum. Der indische Wirtschaftswissenschaftler und Philosoph – Nobelpreisträger von 1998 – und die US-amerikanische Philosophin und Rechtswissenschaftlerin entwickelten aus der Kritik an Rawls liberal-egalitaristischer Theorie den so genannten Capability Approach. In der Sozialen Arbeit sowie der Kindheitsforschung ist dieser Ansatz mittlerweile gut rezipiert und anschlussfähig für Bildungsprozesse und darin wirkende Befähigungen erweitert worden (Otto/Ziegler 2010; Graf et al. 2013; World Vision 2013; Liebel 2013; siehe auch: Mark Schrödter „Wohlergehensfreiheit – Welche Lebenschancen brauchen junge Menschen? Der Capability-Ansatz als möglicher Orientierungsrahmen").
Der Capability Approach bzw. Befähigungsansatz (auch mit Fähigkeiten-Ansatz oder besser: Verwirklichungschancen-Ansatz übersetzt) ist ein Konzept, das ursprünglich der Darstellung und Messung des individuellen Wohlergehens und der gesellschaftlichen Wohlfahrt diente. Es wurde im Ursprung von Amartya Sen bereits ab 1979 entwickelt und in verschiedenen, von den Vereinten Nationen unterstützten, Projekten weiter ausgebaut. Ziel des Capability Approach ist es, die Wohlfahrt in einer Gesellschaft – also das individuelle Wohlergehen in einer Gesellschaft – mit mehreren Kenngrößen und nicht nur – wie bislang in der Wohlfahrtsökonomie üblich – mit dem des Einkommens als eindimensionalen Maßstab zu erfassen. Im Vordergrund steht die weit reichende Frage, was der Mensch für ein gutes, gelingendes Leben benötigt.
Materielle Güter und Ressourcen werden für diesen Zweck nur als wichtige Mittel und nicht mehr als Selbstzweck betrachtet. Es geht vielmehr um Befähigungen, über die der Mensch verfügen muss, damit er sein Leben erfolgreich gestalten kann. Die Frage nach den Befähigungen geht über die Konzepte, die sich auf den Lebensstandard konzentrieren, insoweit hinaus, als sie die Forderung an die Gesellschaft beinhaltet, aktiv zur Entwicklung eines besseren Lebens aller Mitglieder der Gesellschaft beizutragen. Eine gerechte und faire Umverteilung von Gütern (die etwa Rawls bevorzugen würde) ist bei Nussbaum und Sen eine notwendige jedoch keine hinreichende Voraussetzungen für soziale Gerechtigkeit. Für sie ist die Frage zentral, ob und inwieweit eine Person über die nötigen Befähigungen (capabilities) verfügt, um an den lebenswichtigen Gütern der Gesellschaft teilzuhaben und gewünschte Ziele zu erreichen. Der Begriff der Befähigung (capability) hat eine objektive und eine subjektive Dimension. Mit ihm sind nicht nur persönliche Fähigkeiten und Kompetenzen gemeint, sondern auch externe Verwirklichungsbedingungen. Erst in ihrem Zusammenwirken entstehen nach Sen und Nussbaum die Möglichkeiten für ein gutes, menschenwürdiges und gerecht zu nennendes Leben (Liebel 2013:203).
Der Ansatz ist geeignet, Ungleichheit und Armut mehrdimensional unter Berücksichtigung verschiedener Einflussfaktoren zu beschreiben und Zielsetzungen sowie deren Erreichung für gesellschaftliche Entwicklungen darzustellen. Auch wenn für Martha Nussbaum der Ansatz von Rawls noch immer wegweisend ist, so kann er drei ungelöste Fragen bzw. Grundprobleme von Gerechtigkeit nicht hinreichend beantworten: Menschen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen sind in diesem Ansatz (wie in nahezu allen Gerechtigkeitstheorien) nicht hinreichend berücksichtigt, das legt Nussbaum in ihrer Studie „Die Grenzen der Gerechtigkeit“ (Nussbaum 2010:138 ff.) eindrücklich frei. Die anderen beiden Fragen bzw. Probleme sind ein gerechter Gesellschaftsvertrag, der über nationale Staatengrenzen hinausgehen und eine globale Gerechtigkeit entfalten muss. Und ebenso muss der Umgang mit Tieren einer gerechtigkeitstheoretischen Prüfung unterzogen werden.
Nussbaum entwickelt die Idee eines basalen, sozialen Minimums, um den Capability Approach auf der Grundlage der Menschenwürde weiter zuzuspitzen. Konkret geht es um die menschlichen Fähigkeiten – also das, was die Menschen tatsächlich tun und zu sein in der Lage sind (Nussbaum 2010:104).
Kern der Theorie von Nussbaum sind die Menschenrechte, bzw. das darin grundgelegte Konzept der Würde. Nussbaum zeigt auf, dass „Würde kein von den Fähigkeiten unabhängiger Wert ist, sondern daß die Entwicklung der politischen Prinzipien, in denen es um Fähigkeiten geht, Artikulationen der Vorstellung des menschlichen Lebens in Würde sind.“ (Nussbaum 2010:21)
Beim Capability Approach handelt es sich aus ihrer Sicht um eine ausdrückliche Variante des Menschenrechtsansatzes: „Der Ansatz ist in vollem Sinne universell. Er besagt, daß die genannten Fähigkeiten für jeden einzelnen Bürger in jedem Staat wichtig sind und dass jede Person als Zweck zu behandeln ist.“ (Nussbaum 2010:115)
Gerechtigkeit, Verteilung und die Bedeutung des Schwellenwerts
Nun ist der Fähigkeiten Ansatz eine notwendigerweise abstrakte (und minimale) Theorie und nicht als umfassende Theorie der Gerechtigkeit gedacht. Denn nur so kann seine Offenheit gewährleistet werden. Was er allerdings ganz klar zu leisten vermag, das ist eine Konzeption, die die minimalen und zentralen Ansprüche formuliert, wie Fragen der Gerechtigkeit und Verteilung handzuhaben sind. Es handelt sich dabei um ein so genanntes wertbasiertes Schwellen(wert-)Konzept, das eine offene Liste von zehn zentralen menschlichen Fähigkeiten beinhaltet. Nussbaum entwickelt dieses Konzept vor dem Hintergrund der intuitiven Idee, dass es, um ein gutes Leben, mithin ein Leben in Würde führen zu können, der Möglichkeiten des Tätigseins bedarf. Dieses Tätigsein kann nicht alleine über die Zuteilung von Ressourcen gelingen, denn Menschen bedürfen der Ressourcen in unterschiedlicher Weise. So kommt Nussbaum zu einer Liste von zehn Fähigkeiten, die den Anforderungen an ein menschenwürdiges Leben entsprechen. Es handelt sich um die zentralen menschlichen Fähigkeiten: Leben; Körperliche Gesundheit; Körperliche Integrität; Sinne, Vorstellungskraft und Denken; Gefühle; Praktische Vernunft; Zugehörigkeit; Andere Spezies; Spiel; Kontrolle über die eigene Umwelt (Nussbaum 2010:112f.).
Ein Leben ohne diese Fähigkeiten wäre kein der Menschenwürde gemäßes Leben. Jenseits dieser einzelnen Punkte sind Ungerechtigkeiten zu erwarten. Aus dieser Liste sind für das Feld der Kulturellen Bildung und Teilhabe vor allem die beiden kreativen Fähigkeiten Sinne, Vorstellungskraft und Denken sowie Spiel von Bedeutung. Diese beiden Fähigkeiten können, mehr oder weniger als basale anthropologische Grundlagen vorausgesetzt werden. Es sind diese beiden ausgewählten Fähigkeiten, die hinsichtlich der Reichweiten und Möglichkeiten Kultureller Bildung besonders zu fokussieren sind.
Will heißen: Auch bei diesen für das Feld der Kulturellen Bildung und kulturellen Teilhabe elementaren Fähigkeiten finden sich Ungleichheiten, die sich je spezifisch figurieren. Allerdings sind sie als Ressource vorhanden und müssen im Sinne der Befähigung je individuell zur Entfaltung (also über die Schwelle) gebracht werden. Das bedeutet konkret, dass es, um ein Leben in Würde zu führen zentral ist, dass die menschlichen Fähigkeiten tatsächlich zur Entfaltung kommen. Gesellschaftliches Ziel sollte es daher sein, die Menschen hinsichtlich jeder Fähigkeit über diesen Schwellenwert zu heben (vgl. Nussbaum 2010:105). Nussbaum schreibt dazu: „Die Aufgabe einer achtbaren Gesellschaft ist es, allen Bürgerinnen und Bürgern die (sozialen) Bedingungen der Fähigkeiten zu gewährleisten, zumindest bis zu einem angemessenen Schwellenwert.“ (Nussbaum 2010:253) Achtbar meint in diesem Sinne eine Vorausbedingung für die Bewertung in gerecht oder ungerecht. Für die kulturellen Bedingungen stehen die Fähigkeiten Spiel sowie Sinne, Vorstellungskraft und Denken im Fokus und Gerechtigkeit entsteht dann, wenn diese Schwelle überschritten und eine Befähigung zur kulturellen Teilhabe nicht eingeschränkt ist.
Die Differenzlinien wie Behinderung oder soziale Lage bauen nicht die ursächlichen oder kausalen Barrieren auf, sondern es wird angesichts der minimalen Konzeption von Gerechtigkeit darum gehen, grundsätzlich und tatsächlich zu Vorstellungskraft und Spiel zu befähigen. In dem Maße kann dies gelingen, wie durch die Differenz hinsichtlich kognitiver Fähigkeiten oder Körperausstattung oder Lebenslage nicht der Blick auf die jeweiligen individuellen ästhetischen Vermögen und kreativen Ausdruckfähigkeiten verstellt wird.
Es wird für die Erweiterung von Befähigungen alleine also nicht ausreichen, beispielsweise Ressourcen nur nach einem fairen Maßstab zu verteilen oder schlicht mehr davon zu geben. Damit werden die üblichen Konzepte von Gerechtigkeit, die sich meist um Verteilungsgerechtigkeit oder (vor allem im schulischen Kontext) um Leistungsgerechtigkeit zentrieren, herausgefordert.
Wie anschlussfähig dieser Grundgedanke an (Musik-) Kulturelle Teilhabe ist, das haben Andreas Lehmann-Wermser und Valerie Krupp sehr überzeugend anhand ihrer Kritik der impliziten (und in aller Regel) gerechtigkeitstheoretisch auf den Modus der fairen Verteilung zielenden Bildungsprogramme wie beispielsweise JeKi (Jedes Kind ein Instrument) aufgezeigt. Sie entwickeln auf der Grundlage des Capability Approach eine weiter reichende Teilhabedefinition, die theoretisch von Nussbaum und Sen inspiriert ist und sich vor allem auch forschungsmethodisch überzeugend operationalisieren lässt:
„Gelungene ‚kulturelle Teilhabe‘ wäre dann, wenn Menschen diejenigen Teilhabeformen realisieren können, die ihnen als wertvoll und erstrebenswert für die eigene Lebensführung erscheinen – im Umkehrschluss kann es ein gänzlich objektives Maß für ‚gelungene Teilhabe‘ dann nicht mehr geben; die Intensität von Förderung und die Formen der Gestaltung von Teilhabe müssen immer wieder neu gesellschaftlich verhandelt werden.“ (Lehmann-Wermser/Krupp 2014:30) – und am Subjekt und seinen Fähigkeiten orientiert sein, so wäre dieser Gedanke fortzuführen.
Mit dem Modell eines „Musikalischen Involviertseins“ können sie mehrdimensional erfassen, wie Musik angeeignet, reflektiert wird und Teil einer Lebenspraxis ist (ebd.:32). So lassen sich die basalen Fähigkeiten wie Sinne, Vorstellungskraft und Denken sowie Spiel in Abhängigkeit von beeinflussenden Variablen identifizieren, und jenseits der faktischen Beschränkungen auf eine erkennbare Befähigung hin entwickeln.
Ein Standardverständnis von Gerechtigkeit, das annimmt, gerecht sei, wenn alle das Gleiche zugeteilt bekommen, geht in dieser Hinsicht fehl. Denn wie Nussbaum sagt: „Zwei Menschen mit einer ähnlichen Ressourcenausstattung können sich in den für soziale Gerechtigkeit entscheidenden Hinsichten tatsächlich erheblich unterscheiden. Dieses Problem erweist sich als besonders akut, wenn wir die Theorie mit Fällen von Beeinträchtigung und Behinderung konfrontieren.“ (Nussbaum 2010:111)
Diese beiden von mir hervorgehobenen zentralen Fähigkeiten sind deshalb so wichtig, weil sich die Idee eines guten Lebens damit aus einer subjektiven und von anderen sich unterscheidenden Vorstellungswelt artikulieren, imaginieren, darstellen, gestalten, reflektieren und auch gesellschaftlich vermitteln lässt. Wesentlich ist dabei, dass jeder Mensch entsprechend seinen Fähigkeiten die Schwelle faktisch überschreiten kann. Ein bloßes Heranführen an die Schwelle reicht nicht nur nicht aus, sondern stellte eine besonders heimtückische Form der Ausgrenzung dar, weil der letzte Schritt zur Überwindung nicht erreicht und das Ziel des guten Lebens vor Augen, letztlich nicht erreicht werden könnte. Es muss also sichergestellt sein, dass nicht nur eine Chance besteht, sondern diese auch tatsächlich dazu führt, seine Vorstellung von einem guten Leben in Freiheit realisieren zu können. Das Konzept der Chancengleichheit, das auf einer gleichen Verteilung von Chancen besteht, kann also in dieser vielschichtigen Verhältnisbestimmung nicht ausreichen. Wenn in diesem Kontext von Chancengerechtigkeit gesprochen wird, ist es Ziel, bestehende Barrieren auf dem Weg zu einer Vorstellung von einem guten Leben in Würde auszuräumen und den Einzelnen/das Subjekt über die Schwelle zu heben.
Zugleich verweist der Ansatz der Verwirklichungschancen darauf, dass ein gutes Leben nicht nur ein individuelles, sondern immer auch ein soziales Projekt ist: „Der Capabilities-Ansatz nimmt diesen Fokus auf die Möglichkeits- und Freiheitsspielräume von Menschen, ihr eigenes Leben zu führen, systematisch ernst, indem er zwischen ‚Funktionsweisen‘ (functionings) und Verwirklichungschancen bzw. ‚Befähigungen‘ (capabilities) unterscheidet. Funktionsweisen beziehen sich darauf, ob Menschen tatsächlich etwas Bestimmtes sind oder tun. Demgegenüber richtet sich die Perspektive der Capabilities auf die objektive Menge an Möglichkeiten, unterschiedliche Kombinationen bestimmter Qualitäten von Funktionsweisen zu verwirklichen. Aus der Perspektive der Verwirklichungschancen geht es also um die reale, praktische Freiheit der Menschen, sich für oder gegen die Realisierung bestimmter Funktionen bzw. Lebensführungsweisen entscheiden und eine eigene Konzeption des guten Lebens entwickeln und realisieren zu können.“ (Otto/Ziegler 2010:11)
Gerechtigkeit durch Berücksichtigung des Schwellenwerts
Der grundlegenden Idee eines Pluralismus folgend, ist diese so genannte Zehner-Liste offen und jederzeit revidier- und erweiterbar. Dennoch leuchtet der Grundgedanke dahinter ein und wirkt schlüssig, dass es mit Bezug auf jede einzelne dieser Fähigkeiten, bzw. deren Mangel nicht möglich ist, ein Leben in Würde zu führen. Nun sagt Nussbaum, gerade im Hinblick auf die Schwellenwertkonzeption, dass alle genannten Ansprüche dieser Liste als zentrale Gerechtigkeitsansprüche gesichert werden sollten. Die Gerechtigkeit verlangt die gesamte Menge dieser Ansprüche und Kompromisse und Abwägungen sind unzulässig (Nussbaum 2010:124). Eine gerechte Gesellschaft ist mithin dann erreicht, wenn es darin allen Menschen möglich ist, über diese Schwelle zu kommen.
Für Nussbaum ist ein gutes Leben schon dann nicht sichergestellt, wenn auch nur eine Komponente ihrer zehn Punkte nicht erfüllt ist. Dies bedeutet jedoch nicht, dass für arme, behinderte oder ausgegrenzte oder flüchtende Menschen, die nicht selbstständig über ihr Leben verfügen können, ein erfülltes Leben nicht möglich wäre.
Für diese und deren Würde ist allerdings – aus der Perspektive einer Ungleichbehandlung von Ungleichen – ein höheres Maß an Fürsorge (wobei im aktuellen sozial- und behindertenpolitischen Diskurs eher von Assistenz gesprochen wird) erforderlich. Entsprechend ergeben sich im Umkehrschluss politische Forderungen, diese Versorgung oder besser: Befähigung als Mindeststandard in einer Gesellschaft, ob für Behinderte oder Nichtbehinderte, sicherzustellen. Wie erwähnt, handelt es sich um eine abstrakte und offene Theorie oder in Nussbaums Worten, um eine partielle und minimale Theorie der sozialen Gerechtigkeit (Nussbaum 2010:105).
Befähigung zur Teilhabe - eine Perspektiverweiterung im Gerechtigkeitsdiskurs
Nach diesen Ausführungen zum Thema Gerechtigkeit und Teilhabe, dem Plädoyer für ein Schwellenkonzept, muss allerdings für eine Erweiterung der Perspektive plädiert werden. Die minimale Theorie benötigt weitere Substanz. Das Konzept der Teilhabe, theoretisch inspiriert durch eine Erweiterung der Verwirklichungschancen, wie die Befähigungen auch genannt werden, kann nicht individualisierend verstanden werden. Es kann, so wie es der Soziologe Peter Bartelheimer aufzeigt, nicht länger als Kontrast zu einer lebenslagenorientierten Sozialberichterstattung gesehen werden, die kollektive Lebenslagen und entsprechende kollektive Risiken zu bestimmen versucht. Eine genaue Beobachtung der Befähigungen zur Teilhabe – und deren Einschränkungen – lässt sich durchaus als komplementäre Ergänzung sehen (Bartelheimer 2008).
In diesem Sinne ist Präzisierung im Hinblick auf Bildungsprozesse erforderlich, wenn mit der Konzeption von Bildungsgerechtigkeit argumentiert wird, die einen Schwellenwert definiert. Hierbei lässt sich anschließen an die Auffassung von Bildungsgerechtigkeit, die Andreas Giesinger vorschlägt. Er fokussiert auf Bildungsprozesse und kann die Idee von Nussbaum inhaltlich präzisieren. Giesinger kritisiert zunächst das in der Bildungsdiskussion weit verbreitete Konzept von Chancengleichheit. Die sehr weit reichende Frage, mit der er vor einer Gleichsetzung von Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit warnt, lautet: „Warum soll man Kindern Chancen auf bestimmte Bildungsangebote oder Bildungsresultate offerieren, nicht aber diese Angebote oder Resultate selbst?“ (Giesinger 2007:363)
Das Standardverständnis von Bildungsgerechtigkeit, so Giesinger, ist zwischen einem minimalen und maximalen Konzept von Chancengleichheit angesiedelt. Dieses besagt, „dass Ungleichheiten im Bildungserfolg, welche durch soziale Einflüsse entstehen, illegitim sind, während natürliche Ungleichheiten kein moralisches Problem darstellen.“ (Giesinger 2007:373)
Aus den drei in der Einleitung präsentierten Fallbeispielen ergeben sich dadurch Fragen, warum zum Beispiel nur die soziale und nicht auch die natürliche Ungleichheit in ihren Wirkungen aufgehoben werden soll. Eine Diskussion der intuitiven und moralischen Gleichheitsvorstellungen zeigt, so Giesinger, dass die Gleichsetzung von Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit mehr Fragen aufwirft als Lösungen drängender Probleme aufweisen kann. Somit rückt er das Thema Zugänglichkeit oder auch Teilhabe in den Fokus: „Bildungschancengleichheit wäre [mit Blick auf soziale und natürliche Ungleichheiten] hergestellt, wenn der Zugang zu Bildung nicht durch diskriminierende Praktiken oder finanzielle Hürden erschwert oder verunmöglicht würde.“ (Giesinger 2007:376)
In dieser Hinsicht schlägt er eine Schwelle demokratischer Partizipation vor, oberhalb derer ein gutes Leben in einer modernen Gesellschaft ermöglicht wird. Konkret wird diese Schwelle, also das darin enthaltene Konzept der Partizipation wie auch das Konzept der Würde von Nussbaum im gesellschaftlichen Diskurs erweitert und immer wieder neu ausgehandelt werden müssen. Aber aus dieser Sicht wäre eine Gesellschaft im Hinblick auf Bildungsprozesse dann gerecht, wenn das Bildungssystem für das Wohlergehen (oder eben das gute Leben, wie bei Nussbaum) aller Menschen sorgt. In anderen Worten: „Das Bildungssystem soll jedes Kind zu einem guten Leben in der Gesellschaft befähigen, und das heißt zu autonomer Lebensgestaltung am sozialen, politischen, ökonomischen und kulturellen Leben an der Gesellschaft.“ (Giesinger 2007:377, Hervorhebung i.O.)
Da alle Menschen diese Schwelle überschreiten sollen, wirkt es notwendigerweise universalistisch und umfasst auch eine Lösung der Spannung von Gleichheit und Ungleichheit. Ungleichheiten wirken nämlich nicht anstößig, wenn diese oberhalb der Schwelle beobachtet und wirksam werden. Außerdem werden dadurch die sozialen und natürlichen Ungleichheiten gleichermaßen behandelt, es lassen sich also keine Differenzen in der Behebung dieser begründen. Damit werden noch einmal plausibel die gerechtigkeitstheoretischen Vorzüge einer Schwellenkonzeption in Bildungsprozessen herausgestellt. Grundsätzlich handelt es sich dabei um eine Bearbeitung des Spannungsfelds von Freiheit, Gleichheit und Verschiedenheit in dem auch die Kulturelle Bildung eingelassen ist und nach Bildungszielen sowie den Möglichkeiten der Gerechtigkeit sucht (Fuchs 2015).
Fazit: Die Schwellenkonzeption für mehr Bildungsgerechtigkeit
Jens Maedler und Kirsten Witt haben in einem Positionspapier des BKJ bezüglich der Gelingensbedingungen Kultureller Bildung eine ambivalente Einschätzung zu deren Wirkungen und Reichweite gegeben. Die oben bereits skizzierten hohen Erwartungen an Kulturelle Bildung zeichnen sie uneingeschränkt nach, sehen Teilhabe dadurch ermöglicht und auch einen Beitrag zur Herstellung von Bildungsgerechtigkeit im Rahmen ihrer Möglichkeiten. Gleichzeitig geben sie auch Einschränkungen zu Bedenken, denn die Kulturelle Bildung steht nicht unabhängig oder jenseits des gesellschaftlichen Raumes: „Naiv wäre es zu glauben, die Künste, kulturelle Praxis und die auf sie bezogene Kulturelle Bildung hätten in unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit keine Abgrenzungs- und Exklusionsfunktionen.“ (Maedler/Witt 2013:o.S.)
Kunst und Kultur kann also ebenso wie die Teilnahme an kulturellen Bildungsangeboten auch dazu genutzt werden, soziale und gesellschaftliche und natürliche Unterschiede zu markieren und zu verstärken. Diese Ambivalenz ist nicht aufzuheben. Es wäre mithin klug, eine reflexive Strategie zu wählen, damit ein konstruktiver und differenzsensibler Weg zur kulturellen Teilhabe möglich wird. Im Fokus stehen dadurch zum einen die Fachkräfte sowie die Rahmenbedingungen, sowie eine Reihe weiterer Kontextbedingungen: „Wenn die Grundvoraussetzungen professionelle Fachkräfte, ganzheitliches und schlüssiges Konzept, angemessene Rahmenbedingungen, künstlerische wie pädagogische Qualität, Relevanz des Themas, Freiwilligkeit, Partizipation, Stärkenorientierung und Fehlerfreundlichkeit erfüllt sind, kann kulturelle Bildungspraxis ihren Teilhabeanspruch einlösen.“ (Maedler/Witt 2013:o.S.)
Aber diese Ambivalenz ist unhintergehbar: „Auch ein Höchstmaß an Kultureller Teilhabe ist nicht dazu in der Lage, gesellschaftliche Ungleichheiten aufzuheben oder zu egalisieren. Doch die vielfache Kulturelle Teilhabe kann dem Einzelnen helfen, seine Potenziale zu entdecken und sich zu entwickeln. Kulturelle Teilhabe erhöht somit die Chancen des Einzelnen zur Selbstverwirklichung. In Hinblick auf das Bestreben des Individuums, ein gutes Leben zu führen, ist dies ein großes Ziel.“ (ebd.)
Wenn unter der Vorstellung vom „guten Leben“ statt der üblichen egalitären Verteilungsgerechtigkeit eine Teilhabegerechtigkeit als Ziel verfolgt wird, die als angemessenes Format der gerechtigkeitstheoretischen Positionierung Kultureller Bildung gesehen werden kann, Zugangsbarrieren genau erkannt und menschenrechtsbasiert und damit inklusiv gehandelt wird, wenn also innerhalb des in diesem Beitrag skizzierten Rahmens beobachtet und befähigt wird, rückt dieses große Ziel entschieden näher. Dazu benötigt es eine Zurückweisung des Verständnisses von Chancengleichheit und zugleich einer Kritik des Standardverständnisses von Bildungsgerechtigkeit: Chancengleichheit, das hat sich gezeigt, kann nicht die unterschiedlichen Bedürfnisse und vorhandenen Fähigkeiten angemessen berücksichtigen, über die gleiche Verteilung von Ressourcen für Ungleiche wird Ungerechtigkeit geschaffen. Und das Standardverständnis von Bildungsgerechtigkeit besagt, dass Ungleichheiten im Bildungserfolg, die aufgrund von sozialen Ungleichheiten entstehen illegitim sind, während natürliche Ungleichheiten kein moralisches Problem darstellen (Giesinger 2007:373).
Orientiert an einer Vorstellung von einem guten Leben, im Sinne von Aristoteles, die einen gemeinsamen Bezugspunkt von Giesinger und Nussbaum darstellt, lassen sich die Vorzüge der Schwellen-Konzeption darstellen: Grundsätzlich handelt es sich um eine anti-egalitaristische Sicht. Es kommt also nicht vordringlich darauf an, dass alle gleichgestellt sind, sondern, dass jedes Mitglied einer Gesellschaft ein gutes Leben nach seinen Vorstellungen führen kann ohne dabei die Rahmenbedingungen aus dem Blick zu verlieren. Somit entsteht in dieser Perspektive kein grundsätzlicher Widerspruch zwischen einen Schwellenwert als Normsetzung, unterhalb dessen kein gutes Leben in Würde möglich ist, und einer Erweiterung von Möglichkeits- und Freiheitsspielräumen. Außerdem ermöglicht dieses Konzept natürliche und soziale Benachteiligung gleich zu behandeln und schließlich hat es den Vorteil, dass die Schwellen-Theorie die Bereitstellung besonderer Ressourcen für alle (schulisch) Benachteiligten rechtfertigen kann: „Alle Kinder sollen, wenn ihre Fähigkeiten dies überhaupt erlauben, auf das vorgegebene Niveau gebracht werden.“ (Giesinger 2007:377)
Giesinger sieht hier ein Problem, denn es muss nicht nur die Chance auf das Erreichen des Ziels gegeben werden, sondern auch das tatsächliche Erreichen eines Bildungsniveaus gesichert werden. Dies lässt sich aus mehreren Gründen kaum garantieren. Einen Ausweg bietet wieder die Perspektive von Nussbaum, denn im Fähigkeitenansatz wird der Fokus auf das Tätigsein gelegt und für Menschen mit Beeinträchtigungen besteht grundsätzlich keine andere Liste der Fähigkeiten oder ein anderer Schwellenwert als gesellschaftliches Ziel. Teilhabe ist und bleibt in dieser Hinsicht das Ziel – das sich auch als Involviertsein (im Sinne von Lehman-Wermser/Krupp s.o) beschreiben lässt.
Wie kann dies konkret aussehen? Um diese Frage zu veranschaulichen, komme ich zu meinem letzten Fallbeispiel. Es handelt sich dabei um ein höchst sensibles Thema, denn es geht dabei um die Erinnerungskultur angesichts des Tags des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar 2017. Der Deutsche Bundestag erinnerte in diesem Jahr erstmals an die Opfer der nationalsozialistischen Euthanasie-Verbrechen.
Sebastian Urbanski las während der Gedenkveranstaltung im Deutschen Bundestag aus einem Brief von Ernst Putzki, der 1945 in der Tötungsanstalt Hadamar ermordet worden ist und im Rahmen der musikalischen Darbietung spielte Felix Klieser auf seinem Horn, begleitet von dem Klavierspieler Moritz Ernst Kompositionen von Norbert von Hannenheim, dessen Werk von den Nationalsozialisten als „entartet“ eingestuft wurde.
Auf diese Weise errang diese eindrucksvolle Gedenkveranstaltung eine ganz besondere Würde und Bedeutung, denn die Künstler spielten als Künstler und dennoch auch als Menschen, die in der Zeit des Nationalsozialismus potenzielle Opfer der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik geworden wären. Dies wird als produktives Spannungsfeld erfahrbar, dennoch wirkt diese Ambivalenz (zentrales Strukturmerkmal in diesem Themenfeld: Sauter et al. 2016) nicht verstörend, sondern zeigt eindrücklich auf, was es bedeuten kann, wenn sich menschliche ästhetisch-kulturelle Fähigkeiten oberhalb der Schwelle des guten Lebens in Freiheit entfalten können (http://www.bundestag.de/presse/pressemitteilungen/2017/pm-170120-euthanasie/489350 http://www.bundestag.de/mediathek/?videoid=7064751).
In diesem Beitrag habe ich aufgezeigt, dass im Hinblick auf Teilhabegerechtigkeit in der Kulturellen Bildung sowohl methodisch-empirische Forschungslücken als auch theoretische Unzulänglichkeiten bestehen, die dringend aufzuarbeiten sind. Dazu kann der Ansatz der Verwirklichungschancen eine geeignete Grundlage darstellen, um als eine Reflexionsfolie zu wirken, wie die im Menschen angelegten Fähigkeiten wirksam werden können, wenn sie unabhängig von zugeschriebenen oder faktischen Differenzlinien eine Entfaltung erfahren. Für die empirische Forschung bedeutet diese Reflexion die Notwendigkeit einer fokussierten und reflektierten Perspektive auf besonders vulnerable Gruppen und Diskriminierungserfahrungen im Zugang zur Kulturellen Bildung. Hier ist mehr und vor allem systematische Forschung notwendig. Ein inklusives Rahmenkonzept für Kulturelle Bildung verabschiedet das bislang übliche Konzept der Verteilungsgerechtigkeit/Chancengleichheit und orientiert sich an Befähigungen, die es zur Förderung der Teilhabegerechtigkeit genau zu identifizieren und im Bildungsprozess kontinuierlich zu erweitern gilt. Ein Schwellenwert ist dabei die normative Grenze für eine Bewertung in gerecht oder ungerecht.
Auf diese Weise akzentuiert sich auch die Theoriepolitik: Amartya Sen hat plausibel aufgezeigt, wie eine Idee der Gerechtigkeit, die implizit auch im Diskurs über Inklusion enthalten ist, zu einer Theorie der Gerechtigkeit transformiert werden kann. Er greift in diesem Zusammenhang explizit auf die Tragweite der Menschenrechte (Sen 2013:382ff.) zurück und weist hinsichtlich der Pluralität von gerechtigkeitstheoretischen Ansätzen auf ein wichtiges Unterscheidungskriterium hin: Wie viel Freiheit wird ermöglicht?
Die von Sen bevorzugte Theorie der Gerechtigkeit, die im Fähigkeiten Ansatz (Capability Approach) entwickelt wird, fragt nicht – wie üblicherweise – nach den idealen sozialen Regelungen oder den geeigneten Institutionen. Sen sagt dazu: „Diese Theorie [der Gerechtigkeit] muss vielmehr davon ausgehen, dass Gerechtigkeit nicht indifferent gegenüber dem Leben sein darf, das Menschen tatsächlich führen können.“ (Sen 2013:47)
Mit diesem Perspektivenwechsel auf Gerechtigkeit wird es, so stellt Sen fest, leichter, „zu verstehen, warum es wichtig ist, offenkundigem Unrecht in der Welt vorzubeugen, statt nach dem vollkommen Gerechten zu suchen.“ (ebd:49)
Der gegenwärtige Inklusionsdiskurs kann in diesem pragmatisch gewendeten Sinne eine große Chance darstellen, die Thematik Inklusion, Gerechtigkeit und Menschenrechte zu vertiefen und als Anfrage an die Reichweite, Wirkung und (Un-)Möglichkeiten Kultureller Bildung zu formulieren.