Vom Fake zur kollaborativen Imagination: Machtbeziehungen in Bildungsprojekten der Parafiktion
Abstract
Schwindeln, Täuschen und Fingieren als Mittel Kultureller Bildung? Künstlerisch-aktivistische Strategien der Parafiktion spielen mit ihrem Publikum, üben Diskurs- und Institutionskritik und stellen Selbstverständlichkeiten in Frage. Dabei eröffnen sie auch Imaginationsräume dafür, wie die Welt anders sein könnte. Ihre Bildungspotentiale aufgrund einer Einsicht in die (soziale) Konstruiertheit von Wirklichkeit werden in diesem Artikel kritisch befragt. Parafiktionen nutzen die Kräfteverhältnisse innerhalb eines Publikums und können dabei ihr transformatives Potential auch verspielen. Dass und wie die Kulturelle Bildung sich Strategien der Parafiktion in Projekten zunutze machen kann, zeigt der Artikel abschließend anhand eines Beispiels aus der Museumsvermittlung.
Wer täuscht wen, warum und wozu? Da das englische Wort Fake im deutschen Sprachgebrauch eine weite Verwendung findet, soll es im Folgenden zunächst um eine begriffliche Präzisierung gehen. Zwei Strategien der Parafiktion – das Fake und die kollaborative Imagination – sollen in Auseinandersetzung mit Fachdiskussionen aus der Kunst- und Kulturwissenschaft sowie der Kunstpädagogik präzisiert werden. Im zweiten Teil stehen dann erste Forschungsergebnisse zu Bildungspotentialen von Parafiktionen im Zentrum: Aus kunstpädagogischer Perspektive wurden die Bildungspotentiale in der Rezeption von Werken künstlerischer Strategien der Parafiktion bereits von Anne Zimmermann (2014) untersucht. Auch Helga Kämpf-Jansen (2001) hat in ihrem Konzept der Ästhetischen Forschung Anregungen dafür gegeben. Welche Potentiale aber haben die Strategien der Parafiktion für die Kulturelle Bildung? Auch die Produktion von Parafiktionen in Projekten der Kulturellen Bildung hat Bildungspotentiale, welche im abschließenden Teil exemplarisch anhand eines Vermittlungsprojektes im Museum aufgezeigt werden sollen.
Ursula Bogner
Ursula Bogner ist eine Person, deren historische Existenz ungesichert ist. Sie war eine deutsche Pionierin der elektronischen Musik der 1960er bis 1990er Jahre – das behaupten die Linernotes zweier Alben, die 2008 und 2011 als Kompilationen von Musik erschienen sind, welche Ursula Bogner zugeschrieben wird. Schon mit der Mediendiskussion zur ersten Veröffentlichung stand jedoch der Verdacht im Raum, dass Ursula Bogner selbst vielleicht auch keine historische Person gewesen sein könnte. Tatsächlich passt sie fast zu nahtlos in eine Linie von weiblichen elektronischen Musikpionierinnen, wie z.b. Delia Derbyshire, Daphne Oram und Else Marie Pade – Frauen, deren musikalisches Œuvre erst in den letzten fünfzehn Jahren Anerkennung und Würdigung fand. Warum hat es bislang keine Frau in den akademischen Kanon der elektronischen Musik in Deutschland geschafft? Ist die Geschichte von Ursula Bogner so unwahrscheinlich? Diplomierte Chemikerin, die Ende der 1960er Jahre eine Obsession für elektronische Musik entwickelte, die Aktivitäten um das Studio für elektronische Musik in Köln und die Musique Concrète verfolgte, sich ein eigenes Studio im Familienheim einrichtete, um zu experimentieren und Aufnahmen zu machen, die sie aber – mangels Bezug zu einer Musikszene – niemals veröffentlichte. Deshalb werden nun im Archiv immer weitere Aufnahmen von ihr gefunden – so die Geschichte (Jelinek 2008, 2011). Welche Diskurse werden über elektronische Musik in Deutschland geführt, welche Geschichten sind dabei für uns glaubhaft? Welche sind wünschenswert? Die historische Existenz der Person Ursula Bogner wird in diesem Projekt bewusst in der Schwebe gehalten – es gibt bislang keine Auflösung.
Parafiktion
Das Projekt Ursula Bogner gehört zur größeren Gruppe der Parafiktionen – das sind Verwandte der Fiktion, aber auch ein bischen außerhalb dieser Kategorie, denn sie haben einen Fuß im Realen. Parafiktionen sind laut der Kunstwissenschaftlerin Carrie Lambert-Beatty Projekte, bei denen sich „reale und/oder imaginäre Persönlichkeiten und Geschichten vermischen mit der Welt wie sie [tatsächlich aktuell und real] gelebt wird“ (2009:54; Übersetzung S.K. Menrath).
Parafiktionen werden spartenübergreifend von Künstler*innen und Aktivist*innen produziert, sowohl künstlerische Medien als auch Informationsmedien kommen hier zum Einsatz.
Zur Produktion von Parafiktionen gibt es unterschiedliche Strategien, ich möchte im Folgenden zwei unterscheiden – nämlich die kollaborative Imagination und das Fake.
Fake
Die Aktionen des US-amerikanischen Künstlerduos The Yes Men werden häufig als exemplarisch für Fakes beschrieben: Ihr bekanntestes Fake: Ein Repräsentant von Dow Chemicals erschien 2004 zu einem BBC World-Interview – zum 20. Jahrestag der Chemie-Katastrophe in Bhopal/Indien. In Bhopal waren Tausende Menschen gestorben oder erkrankt, ohne dass es eine angemessene Entschädigung gegeben hatte. Zum großen Erstaunen kündigte dieser angebliche Dow Chemicals Repräsentant im BBC-Fernsehinterview an, den Opfern großzügige Entschädigungen zahlen zu wollen. Es dauerte dann zwei Stunden (genau bis zum Dementi), bis die BBC herausfand, dass sie einem Fake aufgesessen war. Der Interviewte war kein Dow-Repräsentant, sondern ein Mitglied von The Yes Men. Er hatte mit seinem gewählten Jargon und der passenden Kleidung die Welt zwei Stunden lang glauben lassen, dass er eine Autorität bei Dow Chemicals sei und verlautbarte, dass die Chemie-Firma nun endlich ihrer Verantwortung nachkommen würde.
Mit der Entlarvung als Fake wurde dem Publikum deutlich vor Augen geführt, was als seriöser Sprechakt und erlaubte Diskurspraktik im Feld global agierender Unternehmen gilt. Der Kulturwissenschaftler Martin Doll (2012) analysiert Fakes mit Hilfe von Foucaults Studien zu Diskursformationen und der Verbindung von Macht und Wissen. Laut Doll (2012:413) zeigen Fakes auch, wie „sich Machtbeziehungen in Kommunikationsbeziehungen realisieren“. Dass Dow Chemicals nämlich zwei Jahrzehnte keine Entschädigung hatte zahlen müssen, verdankt die Firma durchaus ihren Imagestrategien, die u.a. über das Fernsehen Verbreitung fanden.
Bei seiner Aufdeckung kritisiert ein Fake die bestehenden Diskursregeln eines Feldes und eröffnet Freiheitsräume gegenüber den bereits praktizierten Machtbeziehungen. Das Besondere speziell am Fake ist dabei seine klar sequentielle Struktur – zunächst Täuschung, dann einige Zeit später Aufdeckung (vgl. Doll 2012:12ff.). Ich folge in dieser Definition über die temporale Dramaturgie dem Fake-Begriff des Kulturwissenschaftlers Doll, der sich von dem des Kunstwissenschaftlers Stefan Römer (2001), dem auch Zimmermann (2014) folgt, unterscheidet. Eine kurze Formel für das Fake lautet: „Fake = Fälschung + Aufdeckung/Dementi/Bekenntnis“ (autonome a.f.r.i.k.a.gruppe 1997:69). Ein etabliertes Muster (medienvermittelter) gesellschaftlicher Kommunikation wird entlarvt, indem ihr Tonfall und Stil nachgeahmt wird, um das Format schließlich einige Zeit später als Falschmeldung zu enthüllen. Auch The Yes Men schickten nach ihrem Auftritt eine Gegendarstellung an die Presse. Im Nachhinein ist das Fake dann auch als Dokumentation einsehbar – auf der Yesmen.org Website, in Filmen (z.B. The Yes Men 2003, 2009, 2014) oder Büchern (z.B. Bichlbaum/Bonanno, Spunkmeyer 2004).
Ein Fake ist eine Täuschung, deren Aufdeckung beabsichtigt ist – das ist seine Definition in der Kunstwissenschaft (Römer 2001) und dem Medienaktivismus (autonome a.f.r.i.k.a.gruppe 1997:69). Anders als bei einer Fälschung, die nämlich unentdeckt bleiben will, ist beim Fake die Aufdeckung von Anfang an mitgedacht und geplant, die Enthüllung ist konstitutiv für das Fake, denn erst sie bringt den gewünschten Effekt: dass die eigentlich impliziten Epistemologien von bestimmten Diskursen – die Regeln der Wissensproduktion –, die die Diskurs-Agent*innen vielleicht für selbstverständlich nehmen, expliziert werden. Auch wenn es zunächst nur um „minimale Umgestaltungen, Image-Korrekturen und Verschiebungen“ geht, eröffnen sich hier Handlungsspielräume zur „weiteren Infragestellung [von] Selbstverständlichkeiten“ und zur „Transformation“ von Machtbeziehungen (Doll 2012:415).
Kollaborative Imagination
Bei Ursula Bogner jedoch ist die Lage eine andere: Hier soll nicht mit maximaler Plausibilität für eine gewisse Zeit ein Publikum getäuscht werden, um ihm dann im Nachhinein seine unfreiwilligen Imaginationen vor Augen zu führen. Sondern hier imaginiert das Publikum wissend und reflexiv, aber fortlaufend im Zweifel über die Grenzen von Realität und Fiktion. Das ist bereits erkennbar an der Pressefoto-Veröffentlichung zu Beginn des Projekts:
Diese exzentrische bildliche Darstellung der Person Ursula Bogner hat bei doch einigen Rezipient*innen Zweifel gesät. Bis heute wird die Frage zur historischen Existenz von Ursula Bogner kontinuierlich in der Schwebe gehalten – auf Festivals, bei denen Ursula Bogners Musik präsentiert und interpretiert wird, gibt es weiterhin Diskussionen darüber, ob sie wirklich existiert hat oder nicht doch ein kollektiver Name ist, ein gemeinsames Pseudonym für mehrere Künstler*innen. Zumindest wird ihr Werk weiterhin von einer Mehrzahl von Personen wiederentdeckt und die Zweiflerei im Publikum am Leben erhalten. Ich nenne diese Strategie – in Absetzung vom Fake – eine kollaborative Imagination, weil hier im Einvernehmen mit dem Publikum imaginiert wird.
Kollaborative Imagination vs. Fake
Was unterscheidet das Fake von der Kollaborativen Imagination? Die Differenz liegt meiner Ansicht nach in der Bewusstheit der Imagination, die das rezipierende Publikum vollzieht. Die Zuschauer*innen bilden sich nicht aufgrund einer Täuschung etwas ein – also unbewusst und unfreiwillig wie beim Fake – sondern sie imaginieren bewusst und freiwillig. Diese Differenz kommt durch die unterschiedliche Dramaturgie zustande: Das Fake täuscht zunächst und deckt dann mit einem Schlag auf, die Kollaborative Imagination streut von Beginn an Zweifel beim Publikum und will durch Irritation zu einer gemeinsamen, kollaborativen Imagination anregen.
Der jeweilige Zeitpunkt der Reflexion spielt auch eine wesentliche Rolle für die Prozesse im Publikum: Beide Strategien arbeiten prinzipell mit Hilfe von Imaginationen bzw. Illusionen, die bewusst gemacht bzw. reflektiert werden. Das Fake aber entlarvt Illusionen im Nachhinein wohingegen die Kollaborative Imagination von Anfang an reflexive Imagination einsetzt - also bewusste Einbildungpraxen, die über sich selbst aufgeklärt sind (vgl. Kamper 1997).
Bildungsprozesse in der Rezeption von Parafiktionen
Die Reflexion von Imaginationen und Illusionen kann Anlass für Bildungsprozesse sein. Lambert-Beatty (2009:77) spricht von „Verwirrung“, Zimmermann (2014:48ff.) benennt Momente der Irritation als Anlässe für Bildungsprozesse bzw. Transformationen. Was sind mögliche Bildungsprozesse in der Rezeption von Parafiktionen? Anlässe entstehen dann, wenn die Rezipient*innen ins Zweifeln geraten – und im Anschluss über ihre gewohnten persönlichen Wahrnehmungsroutinen, ihr individuelles Verstricktsein in bestimmte Diskurse oder über die Konstruiertheit gesellschaftlicher Wirklichkeit an sich reflektieren. Prozesse des Zweifelns sind allerdings empirisch kaum nachweisbar, da der Zweifel mit seiner Artikulation in Wort oder Handlung schnell dazu tendiert ganz zu verschwinden (Pelkmans 2013). Im Folgenden wird daher immer nur von der Möglichkeit von Bildungsprozessen, also Bildungspotentialen die Rede sein.
Transformatorische Bildungsprozesse
Zimmermann (2014:118ff.) stellt den Rezeptionsprozess von Parafiktionen in die Nähe von transformatorischen Bildungsprozessen. In Theorien transformatorischer Bildungsprozesse wird Bildung nicht als harmonische Ergänzung, sondern als grundlegende Infragestellung bisheriger „Welt- und Selbstverhältnisse“ (Koller 2012:15) gedacht. Anlass für Bildungsprozesse können Fremdheitserfahrungen sein, die der Pädagoge Hans-Christoph Koller (2012:85) mit dem Philosophen Bernhard Waldenfels auch als „paradoxe Irritation“ fasst – hier geht es um das Außerkraftsetzen oder in die Schwebe Bringen von Ordnungen. Solche Fremdheitserfahrungen können auch bei der Rezeption von Parafiktionen ausgelöst werden, wenn Wahrnehmungsroutinen irritiert werden und dadurch bestehende Wahrnehmungsstrukturen und Diskursregeln in die Schwebe gebracht, verschoben, transformiert werden.
Analytisch lassen sich hier allerdings zwei Aspekte herauskristallisieren. Einerseits der kognitive bzw. epistemologische Aspekt: Parafiktionen lassen die „Pluralität und Relativität von Erkenntnis und Wirklichkeit“ (Zimmermann 2014:119) deutlich hervortreten. Die impliziten Epistemologien der Rezipient*innen, ihre Verstrickung in bestimmte Diskurse können reflektiert werden. Wer eine Parafiktion rezipiert, bekommt laut Lambert-Beatty (2009:78f.) geradezu ein „Training“ in Skeptizismus und Zweifel. Damit ist kein Zweifel im radikalen und relativistischen Sinne gemeint, etwa dass der Verlust einer universellen Wahrheit betrauert würde, sondern ein Training in sorgfältiger Quellenbefragung, im Befragen von Autorisierungprozessen und von Strukturen und Prozeduren des Wissens. Hier wird also etwas trainiert, was als zentrale Fähigkeit in der Wissens- und Informationsgesellschaft gilt.
Neben diesem kognitiv-epistemologischen Aspekt erwähnen aber sowohl Zimmermann (2014:49ff., 129) als auch Lambert-Beatty (2009:77) auch emotionale Aspekte: nämlich Irritation, Beunruhigung und Verwirrung. Diese Emotionalität entsteht dadurch, dass mit der Aufdeckung der Täuschung beim Fake auch die eigenen Erfahrungen negiert und durchkreuzt werden. Durch die emotionale Involviertheit im Rezeptionsprozess sieht Zimmermann (2014:75) Ähnlichkeiten zu Prozessen ästhetischer Erfahrung – gerade die strukturelle Negativität sei „ursächlich für die Emotionalität von Erfahrungsprozessen“.
Es lässt sich also zunächst feststellen, dass die Rezeption von Parafiktionen – in einer Spannbreite von Fakes bis Kollaborativen Imaginationen – Bildungsprozesse auslösen kann: Anlass für eine Veränderung des Welt- und Selbstverhältnisses gibt die beunruhigende, irritierende Erfahrung, bei der Rezeption einer Parafiktion auf die Pluralität und Relativität von Erkenntnis und/oder Wirklichkeit aufmerksam gemacht worden zu sein.
Mit dem Fokus auf die irritierende Erfahrung wird allerdings nur die individuelle Dimension einer Selbst-Bildung von Subjekten in den Blick genommen. Müssen Bildungsprozesse in Parafiktionen aber nicht auch als relationales Geschehen verstanden werden, bei dem die Kräfteverhältnisse im Publikum eine Rolle spielen?
Bildungsprozesse als relationales Geschehen zwischen Subjekt und Fremdem
Bernhard Waldenfels (1997:45ff.) weist darauf hin, dass die Begegnung mit dem Fremden in unterschiedlichen Formen bewältigt werden kann: erstens indem eine Antwort auf das Fremde gegeben wird, zweitens mit Absorption oder Aneignung des Fremden oder gar drittens mit kompletter Ablehnung oder Abwehr. Die Begegnung mit dem Fremden muss also keine kreative, neue Antwort auslösen, sondern wenn hier Bildung geschieht, dann responsiv: das Potential dafür liegt nicht allein im Subjekt, sondern im Zwischenraum zwischen Subjekt und dem Fremden (Koller 2012:86).
Das Bildungspotential in Parafiktionen ist nämlich auch abhängig davon, in welcher Diskursformation das einzelne Subjekt positioniert ist und wie dieser Diskurs in Machtbeziehungen zu anderen Diskursen steht. Der Widerstreit verschiedener Diskursformationen ist ja ein taktisches Element bei Parafiktionen und die spezifische Positionierung innerhalb dieser Diskurse kann ganz konkrete Auswirkungen auf die Bildungspotentiale einzelner Rezipient*innen haben.
Denn Rezipient*innen von Fakes werden nicht nur angeregt und epistemologisch destablisiert, sondern manche von ihnen werden auch bloßgestellt oder gar gedemütigt. Einige werden ungefragt zu Hauptdarstellern in einem epistemologischen Lehrstück für besser Informierte.
Zum Beispiel der im Bild von hinten sichtbare BBC-Moderator, der im Interview vom angeblichen Dow-Repräsentanten getäuscht wurde. Dieser BBC-Moderator wurde als primärer Rezipient getäuscht – so wie wohl die meisten damaligen Live-Zuschauer*innen. Wir hingegen schauen ihm heute, 14 Jahre später, als wissende sekundäre Rezipient*innen über die Schulter und beobachten seine primäre Rezeption aus der sicheren Distanz der Dokumentation heraus. Wir sind mit viel mehr Wissen ausgestattet, eine geradezu allwissende Position im Vergleich zu diesem direkten, primären und zunächst gutgläubigen Rezipienten des Fakes. Eine solche primäre Rezeption mit gutgläubigen Beobachtenden, die getäuscht werden, braucht das Fake aber, um überhaupt wirksam zu sein (Menrath 2011). Irgendjemand muss tatsächlich getäuscht werden und dessen epistemisches Ringen ist es dann, das uns Anlass für Bildungsprozesse gibt. Hier sei noch einmal auf die temporale Dramaturgie von Fakes verwiesen: durch die sequentielle Struktur – erst Täuschung dann Aufdeckung – werden hier verschiedene Rezipient*innengruppen voneinander getrennt.
Das heißt aber auch, dass wir niemals alle gleich getäuscht werden, sondern unsere Rezeptionsposition gegenüber Fakes hängt von unserem individuellen Zugang zu Wissen ab. Einerseits davon, ob wir zeitlich primär oder sekundär auf das Fake treffen. Ob wir gutgläubig oder skeptisch zum Fake kommen, hängt aber auch davon ab, ob wir z.B. Zugang zum Internet haben, um auf mögliche Zweifel zu stoßen oder sie auszuräumen, ob wir die Produktionsroutinen globaler Nachrichtensendungen kennen – also von unserer Medienkompetenz und auch von individuell-biografisch oder kulturell bedingtem Zugang zu Wissen. Lambert-Beatty (2009:77) spricht sogar von „Klassen“ von Rezipient*innen, denn nicht selten verlaufen die Grenzen zwischen ihnen entlang von geopolitischen Linien. So wurde schon mehrfach darauf hingewiesen, dass die Hinterbliebenen und Opfer des Bhopal-Unglücks in Indien selbst auch zu denen gehörten, die das Fake zunächst glaubten – und sich falsche Hoffnungen machten. Schließlich mussten sie erfahren, dass es doch wieder keine Entschädigungen für sie geben würde – wofür sich The Yes Men später bei den Bhopal-Hinterbliebenen allerdings auch entschuldigt haben (Beatty 2009:66f.). Manchmal werden auch unterschiedliche Rezipient*innen in der primären Rezeption von Fakes gegeneinander ausgespielt: das gutgläubige Publikum wird dann im Prozess zum Statisten – und seine Naivität gibt den Anlass für Reflexionsprozesse der besser Informierten.
Für mich stellt das nicht im Allgemeinen ein ethisches Problem dar wie für diejenigen, die argumentieren, dass Vertrauen als ein „absolutes soziales Gut“ (Bok 1999:26, Übers. Menrath) nicht erschüttert werden dürfte. Vielmehr denke ich, dass Verunsicherung nur bis zu bestimmten Grenzen produktiv ist für Bildungsprozesse: wenn die für das Lernen „konstitutive Unbestimmtheit [...] bestimmte Grenzen überschreitet, löst sie Angst, letztlich Flucht und Vermeidungsreaktionen aus“ (Hölscher 2015:219).
Der oben gezeigt BBC-Journalist ist sicher emotional zu stark involviert – nämlich bloßgestellt und mittlerweile vermutlich entlassen –, um überhaupt offen für Bildungsprozesse in diesem Zusammenhang zu sein. Uns sekundären Rezpient*innen aber bleibt die sachlich-analytische, alles überblickende Reflexion der vor uns ausgebreiteten Diskursstrukturen als Anlass für eigene Bildungsprozesse.
Die Betrachterpositionen in Parafiktionen sind vielfältig (Lambert-Beatty 2009:79) – je nach Diskurs, in dem wir positioniert sind. Der Widerstreit verschiedener Diskursformationen kann Anlässe für Bildungsprozesse geben; problematisch wird es allerdings, wenn der Widerstreit nicht offen und radikal plural bleibt, sondern hierarchisiert wird. Das stellt meiner Ansicht nach ein strukturelles Problem des Fake dar – hier werden die unterschiedlichen Betrachterpositionen – zumindest in letzter Konsequenz – nicht als gleichwertig inszeniert. Obgleich das Fake bestimmte Wissensformationen und ihre jeweiligen Legitimationen kritisiert und destablisiert, überschreitet es die Vorstellung eines letztgültigen Wahrheitsanspruches nicht: denn nach der Phase des Zweifelns oder der Täuschung wird das Fake ja aufgedeckt – hinter der Täuschung schält sich wieder eine ultimative Wahrheit heraus, nachgeliefert durch das Dementi. Trotz bester Intentionen aktiviert das Fake daher meiner Ansicht nach ein zweifelhaftes, letztlich beschränktes Konzept vom Widerstreit der Wissens- und Diskursformationen. Auch sein transformatorischer Effekt wird daher fragwürdig. Das Fake lässt alle Teilnehmenden an ihrem Platz, die Kritiker*innen, das gutgläubige und das skeptische Publikum. Am Ende wird doch wieder eine klare Hierarchie zwischen ihnen etabliert oder vorhandene Diskursstrukturen gar reproduziert (Menrath 2011).
Die Kollaborative Imagination hingegen will das Publikum zur bewussten Mitarbeit, zu eigenen Imaginationen anregen. Hier gibt es keine schlagartige Aufdeckung und so auch keine sekundäre Rezeption, durch die unterschiedliche Rezipient*innen klar hierarchisiert werden könnten (Menrath 2013).
Parafiktion in Projekten der Kulturellen Bildung
Wie können die Bildungspotentiale der künstlerischen Strategien der Parafiktion aber nun in Projekten der Kulturellen Bildung genutzt werden? Bislang wurde von Bildungspotentialen im Anschluss an die Rezeption von Werken der künstlerischen Strategie Parafiktion gesprochen. Was aber, wenn solche künstlerischen Aktionen in Projekten Kultureller Bildung selbst aktiv produziert werden?
Dass Kunst „zugunsten einer anderen Wahrheit [...] lügen darf“ hat bereits Helga Kämpf-Jansen (2001:275) innerhalb kunstpädagogischer Diskurse etabliert: „Täuschungen und Fälschungen“ sind „verschiedene Modi der Wirklichkeitserfahrung, transformiert in die Wirklichkeit von Kunst“ und ihr Bildungspotential sieht Kämpf-Janssen (2001:131) darin, dass sie „altbekannte Wahrnehmungen auf[brechen], irritieren und [...] die Notwendigkeit eines anderen Blicks [...] evozieren, von dem aus letztlich eine neue Erfahrung der Welt, ein Sich-in-Beziehung-Setzen zu unterschiedlichen Wirklichkeiten [...] wie ein anderes Sich-Selbst-Begreifen möglich wird“. In künstlerischer Kunstvermittlung werden Strategien der Parafiktion als praktizierte künstlerische Arbeitsweise im Rahmen des Kunstunterrichts (vgl. Peters/Heinisch/Natorp 2006) bzw. der Hochschulpraxis (z.B. Seitz 1998) bereits eingesetzt. Die Bildungspotentiale für die Projektbeteiligten bei der Produktion von Parafiktionen sind ähnliche wie für die Rezeption beschrieben: hier wird „erarbeitetes Wissen irritiert“ und „ein Stück Konstruktivismus-Forschung betrieben und sich damit der Einsicht geöffnet, dass diese, unsere Welt nicht einfach gegeben ist, sondern dass wir sie herstellen, mit Gegebenheiten umgehen, sie performativ erspielen und somit auch verändern können“ (Seitz 1998:80). Abgesehen vom Kunst-Kontext stellt sich nun auch die Frage, wie diese Strategien beispielsweise im Kontext der Museumsvermittlung verfangen.
Vermittlungsprojekt Phantominseln
Das Vermittlungsprojekt „Phantominseln“ habe ich 2012/13 am Übersee-Museum Bremen mit Studierenden aus einem Seminar der Universität Oldenburg durchgeführt (zur Konzeption s. Menrath 2012). Als Projektabschluss wurde die Vitrine zur Insel „Crespo“ im Museum präsentiert.
Crespo ist eine Phantominsel (vgl. Stommel 1984), auf Seekarten jahrzehntelang fälschlicherweise verzeichnet, und eigentlich vollkommen imaginär bzw. nur als Repräsentation auf Karten existent. Die Vitrine spielte mit der Behauptung, Zeugnis für die Existenz von Crepso zu sein: Ein Buckelgong aus der ethnologischen Sammlung des Hauses wurde als Fundstück von der Insel deklariert. Seine Kultur- und Mediengeschichte hat die Vitrine mittels Texten mit treffenden kulturhistorischen und musikethnologischen Argumenten sowie einer von uns selbst erstellten Audioaufnahme bezeugt: Eine*r möglichen Rezipient*in sollte die Vitrine die institutionalisierten Diskurse der Repräsentation von „Anderen Kulturen“ im ethnologischen Museum vor Augen führen. Zunächst waren jedoch wir im Projekt die ersten, impliziten Rezipient*innen: wir mussten die Strukturen der Repräsentation im ethnologischen Museum bewusst und kritisch nachvollziehen, um glaubwürdige Ausstellungstexte und eine Audioaufnahme zu erstellen, die erst auf den zweiten Blick oder beim zweiten Hören Zweifel erzeugen durften.
Als Bildungspotentiale bei der Produktion von Parafiktionen in der Kulturellen Bildung lassen sich aus dieser Projekterfahrung ableiten: Selbstreflexion der (sozial oder kulturell) bedingten Wahrnehmungsmuster, Sensibilisierung für die Pluralität von Wissens- und Diskursformen, Reflexion des formellen Kontexts (in diesem Fall des Museums) sowie eine hohe Motivation für Recherche, denn nur gesättigt von der Realität lässt sich etwas imaginieren: um eine glaubhafte Vitrine zu erstellen, mussten wir vorher gründlich recherchieren.
Ziel des Projektes war es, die Institutionen der kulturellen Repräsentation im ethnologischen Museum bewusst nachzuvollziehen. Die Aufgabe von Vermittlung im kulturhistorischen Museum ist es meiner Ansicht nach eben auch, genau die Brüchigkeit bestehender musealer Ordnungen hervorzuheben und Lücken gerade nicht zu schließen, sondern Auseinandersetzungen offen zu halten. Wenn sich Museen als Räume des Austauschs und der Verhandlung (Clifford 1997) verstehen, schafft das Verwerfungen auch über die Deutungshoheit über ihre Objekte.
Wir haben im Projekt das Objekt Buckelgong aus der ethnologischen Sammlung bewusst umgedeutet und behauptet, dass es ein Fundstück von der Insel Crespo sei. Ein großer Teil der Diskussionen im Projekt ging daher darum, was wir mit der neu und selbst ergriffenen Deutungshoheit über das Objekt Buckelgong denn nun genau anfangen wollten. Unsere ästhetische Forschung zum Buckelgong, seiner Geschichte und zugehörigen Musikpraxis, hat uns natürlich – wie jedem Forschenden – eine gewisse Machtposition verliehen: wie damit umzugehen kristallisierte sich in der Frage: Wie präsentieren wir unsere Ergebnisse – als Fake, das schlagartig enthüllt und den uninformierten Rezipient*innen ihre Naivität vor Augen führt? Oder als offene Fiktion mit der großen Überschrift „Phantominsel“? Oder als Kollaborative Imagination, die Zweifel im Publikum streut, aber in der Uneindeutigkeit verbleibt und Zuschauer*innen/-hörer*innen möglicherweise aktiviert? Wir haben uns für letzteres entschieden: Für die abschließende Präsentation vor dem Publikum als Museumsvitrine wurden Artefakte und Argumentationen sowohl für als auch gegen die faktische Existenz von Crespo in die Vitrine aufgenommen, also zum Beispiel eine Seekarte von 1867, in der Crespo verzeichnet ist, aber auch das Datum ihrer Tilgung aus den Karten – als sie zur Phantominsel deklariert wurde. Außerdem die von uns selbst erstellte Audioaufnahme, ein angeblicher Archivfund, dessen Soundspur jedoch so eklatante Fehler aufwies, dass sie Verdacht erregen sollte. Wir wollten also Verwirrung stiften, haben aber nie eindeutig Position bezogen, ob Crespo nun existiert oder nicht.
Die Phantominsel Crespo versteht sich als kritisches Vermittlungsprojekt. Kritische Vermittlung hat – beeinflusst von den Cultural Studies und der New Museology der 1970/80er Jahre – seit den späten 1990er Jahren als kritische Praxis die Museen erreicht. Das Projekt hat die Institution Ethnologisches Museum zum Thema gemacht, an den aktuellen kritischen Museumsdiskurs herangeführt und wollte die klare Trennung zwischen Produzent*innen und Rezipient*innen zugunsten einer Neuverhandlung in der Kollaborativen Imagination auflösen. Dabei haben sich nicht nur die Produzent*innen im Projekt fortlaufend an den Grenzen ihres eigenen Verstricktseins in bestimmte Diskurse bewegt, sondern auch die Grenzen zu einem Wissensstand des (realen oder impliziten) Publikums ausgelotet. Als transformativ angelegtes Projekt wollte es Museen „als veränderbare Organisationen“ (Mörsch 2009:10) begreifen, aber auch die durch die Vitrine selbst geschaffene Bildungssituation für Besucher*innen des Museums kritisch unter die Lupe nehmen. Wenn „das Begehren zu verstehen nicht gestillt, sondern offen gehalten [wird, kann] Nachdenken und Kommunikation in Gang [gesetzt werden]“ (Seitz 1998:80). Diesen Dialog allerdings offen und plural zu gestalten, stellt hohe und je nach Kontext unterschiedliche Anforderungen an die Inszenierung. So wurde auch der durch das Phantominsel-Projekt entstandene Wissensvorsprung der Projekt-Teilnehmenden vor den Vitrinen-Rezipient*innen und damit das in der Bildungssituation neu geschaffene Ungleichgewicht im Projekt selbst kritisch reflektiert. Projekte der Kulturellen Bildung, die sich künstlerisch-aktivistische Strategien der Parafiktion zu eigen machen und mit einem Publikum spielen, sollten den eigenen transformativen Anspruch auch selbstkritisch hinterfragen und im Bildungsprojekt zum Thema machen.