Erinnerung, Erfahrung, Erneuerung - Der transformatorische Bildungsbegriff im Kontext intergenerationaler Theaterarbeit

Artikel-Metadaten

von Sophia Grüdelbach, Simon Niemann

Erscheinungsjahr: 2025

Abstract

Der Artikel bringt die Sichtweisen einer Theatervermittlerin und eines Theaterwissenschaftlers zusammen, um zu beleuchten, wie intergenerationale Theaterarbeit als Praxis Kultureller Bildung transformatorische Bildungsprozesse eröffnet. Ausgangspunkt ist die Annahme, dass Bildung – im Anschluss an Hans-Christoph Koller – dort entsteht, wo Irritationen und Krisenerfahrungen bisherige Selbst- und Weltverhältnisse in Frage stellen. In diesem Spannungsfeld diskutieren wir die Relevanz ästhetisch-performativer Praxis und beziehen theoretische Konzepte von Koller, Judith Butler, Paul Ricœur, Ulrich Oevermann und Bernhard Waldenfels auf die konkrete Theaterarbeit des Stadtensemble Generationen in Osnabrück. Unsere Position ist durch unterschiedliche Erfahrungshintergründe geprägt: Aus wissenschaftlicher Perspektive eröffnen transformatorische Bildungstheorien einen begrifflichen Rahmen; aus theaterpädagogischer Praxisperspektive werden Gruppen- und Probenprozesse sowie exemplarisch eine Übung beschrieben, die kollektive Lern- und Bildungsprozesse sichtbar machten. Durch diese Verschränkung von Theorie und Praxis wird deutlich, dass Theaterarbeit Erfahrungsräume schafft, in denen Selbstwirksamkeit, Perspektivwechsel und die Erweiterung von Handlungsspielräumen möglich werden. Besonders die intergenerationale Zusammensetzung der Ensembles erweist sich als produktive Bedingung für Transformation: In der Begegnung mit Fremdheit – sowohl in den Geschichten anderer als auch in der eigenen Biografie – entstehen Resignifizierungen, die vertraute Bedeutungen neu sichtbar machen. Theater zeigt sich so als ästhetischer Freiheitsraum, in dem Bildungsprozesse sinnlich, relational und kollektiv erfahrbar werden. Der Artikel versteht intergenerationale Theaterarbeit daher nicht nur als künstlerische Praxis, sondern auch als gesellschaftlich notwendige Übung in Demokratie und als Labor für Perspektivenvielfalt.

Es ist Sommer und wir sitzen mit Wassermelonenstücken am Küchentisch in Osnabrück. Früher war es mal unser gemeinsamer WG-Tisch. Unsere Arbeit und unser gemeinsames Denken begann 2016 am Stadttheater Osnabrück und hält bis heute an. Sophia arbeitet seit 2016 als Theatervermittlerin am Theater und hat seit 2019 einen zusätzlichen transkulturellen Schwerpunkt. Simon ist nach seiner Promotion in Hildesheim wieder nach Osnabrück zurückgekommen und arbeitet heute unter anderem als Lehrbeauftragter an der Universität Osnabrück und als Kulturvermittler am Museumsquartier Osnabrück. Für diesen Artikel trennen wir unseren Blick auf Theorie und Praxis, verstehen diese Trennung aber gleichzeitig als einen künstlichen, wenn auch für diesen Artikel notwendigen Vorgang.

Das gemeinsame Denken, Diskutieren und Schreiben gibt uns die Möglichkeit, unsere Praxis zu reflektieren, Gemeinsamkeiten zu entdecken und diese in einen größeren Zusammenhang zu stellen. Dafür haben wir das Thema der intergenerationalen Theaterarbeit im Kontext transformatorischer Bildungsprozesse gewählt. Sophia schreibt aus der Perspektive der Leiterin des Stadtensemble Generationen am Theater Osnabrück und Simon aus der Perspektive als Wissenschaftler mit dem Forschungsschwerpunkt der kulturellen Vermittlung.

Während wir kurz vor unserer jeweiligen Sommerpause stehen, wollen wir uns für diesen Artikel gegenseitig mit jeweils einer Frage ausstatten und unsere Gedanken, Analysen und Ideen im Schreibgespräch weiterführen. Dabei begleitet uns die Frage, inwieweit intergenerationale Theaterarbeit als ein spezifischer Bereich der Kulturellen Bildung transformatorische Bildungsprozesse begünstigt.

Fragen an die intergenerationale Theaterarbeit und an die Theorie

Simon: Sophia, was meinst du, wenn du von intergenerationaler Theaterarbeit sprichst?

Sophia: Bevor ich meine Praxis beschreibe, möchte ich die Rahmenbedingungen zusammenfassen, in der die intergenerationale Theaterarbeit stattfindet: Das Stadtensemble Generationen des Theaters Osnabrück gründete sich 2001 und wurde zu dieser Zeit unter dem Namen Theater der Generationen angeboten. Der Namenswechsel mit der neuen Intendanz 2021/2022 sollte die weiteren sieben Theatergruppen mit dem Label Stadtensemble vereinheitlichen: Stadtensemble, ein Ensemble für und aus der Stadt.

Die offenen Gruppen mit verschiedenen Schwerpunkten in Tanz oder Schauspiel sind ein kontinuierliches Angebot für Menschen aller Altersgruppen und jeder Herkunft. Nicht ausgebildete Akteur*innen erarbeiten innerhalb einer Spielzeit eine Inszenierung, die fester Bestandteil des Spielplans ist und unter professionellen Bedingungen stattfindet. Jedes Jahr bilden ca. 18 Teilnehmende die Theatergruppe, eine Theaterfamilie, wie die Spielenden es selbst beschreiben. Alle mit dem gemeinsamen Ziel einer Aufführung am Ende der Spielzeit.

Erst durch die gemeinsame Leidenschaft für die Gruppe wird die Arbeit zu einem kollektiven Prozess. Als ich in der Spielzeit 2016/17 das Theater der Generationen übernahm, wurde mir schnell bewusst, welcher Theaterschatz mir hier anvertraut wurde.

Meist lege ich zwar das Jahresthema und den Spielort fest, diese werden aber erst durch das künstlerische Schaffen und durch die Biografien der Spielenden belebt. Innerhalb dieses Prozesses scheint alles möglich: Selbstverfasste Texte dienen als Grundlage der szenischen Arbeit, Spielorte geben die Atmosphäre vor und das Sammelsurium an Perspektiven wird mit Theatertexten verschnitten. Die nicht ausgebildeten Akteur*innen sind frei von traditionellen Theaterkonventionen und geben somit Impulse, die wir gemeinsam – Spielende, Leitende, Assistierende, Mitdenkende, Fragende und Fürsorgende – in eine künstlerische Form bringen. Wir werden dabei ein eigenes Theater. Über diese Theatergruppe habe ich vor wenigen Monaten ausführlich geschrieben (Grüdelbach 2025) und übernehme daher im Folgenden einige Inhalte aus meinem eigenen Text.

In solchen Räumen entsteht die Chance, sich von der ständigen Orientierung an Leistung und Produktivität zu lösen. Gleichzeitig laden sie dazu ein, uns gegenseitig in unseren Unterschiedlichkeiten wahrzunehmen – mit all den Perspektiven, Bedürfnissen und Erwartungen, die wir mitbringen. Die Basis des Arbeitens ist das, was einerseits die jeweilige Person in die Gruppe einbringen kann und andererseits sich gegenseitig zu sehen. Die innere Haltung, dass auch ich als Spielleitung mich in einem lernenden Prozess begebe, eröffnet Räume, die ein beidseitiges Wachsen zulassen.

Die genannten Aspekte der intergenerationalen Theaterarbeit heben sich für mich deutlich von den üblichen Produktionsabläufen am Stadttheater ab. Dort werden nicht nur Rollen durch ein festes Ensemble besetzt und Stücke samt Regieteams von der Schauspielleitung vorgegeben, auch die Probenzeit ist in der Regel auf sechs Wochen oder weniger begrenzt.

Simon, jetzt wo du mit deiner Sommerlektüre Bildung anders denken von Hans-Christoph Koller in den Urlaub fährst, gebe ich dir die Frage mit:  Was meinst du, wenn du von einem transformatorischen Bildungsbegriff sprichst?

Simon: Ich beziehe mich dabei auf Kollers Buch Bildung anders denken. Einführung in die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse (Koller 2018). Koller denkt darin die Bildungstheorie von Wilhelm von Humboldt weiter.

Für Humboldt ist Bildung ein Potenzial, das weniger von gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Anforderungen bestimmt wird als von individuellen menschlichen Anlagen, die es zu entfalten gilt. Damit kann und soll Bildung prinzipiell allen Subjekten zuteilwerden – ein Gedanke, der für das späte 18. Jahrhundert nicht selbstverständlich war. Koller greift diesen Gedanken auf und denkt ihn, inspiriert von Rainer Kokemohr weiter. Für Koller stellen sich Bildungsprozesse nicht automatisch ein und entfalten sich nicht in einer rein affirmativen Umgebung. Bildung wird von ihm verstanden als eine „Veränderung der grundlegenden Figuren des Welt- und Selbstverhältnisses von Menschen, die sich potenziell immer dann vollziehen, wenn Menschen mit neuen Problemlagen konfrontiert werden, für deren Bewältigung die Figuren ihres bisherigen Welt- und Selbstverhältnisses nicht mehr ausreichen“ (Koller 2018:15f.). Diese Neuausrichtung des Welt- und Selbstverhältnisses beschreibt das transformatorische Potenzial von Bildungsprozessen.

Um seine Ideen zum transformatorischen Bildungsbegriff weiter auszuführen, stellt er in vier Kapiteln unterschiedliche kulturwissenschaftliche Theorien vor, die sich mit folgenden Aspekten auseinandersetzen:

  1. Struktur jener Welt- und Selbstverhältnisse
  2. Problemlagen oder Krisenerfahrungen als Anlass für transformatorische Bildungsprozesse
  3. Transformationsprozesse selbst und die Entstehung von Neuem
  4. Empirische Analysen von Bildungsprozessen

Für unseren Artikel und die damit verbundene Fragestellung habe ich mich entschieden, Kollers Ausführungen zum transformatorischen Bildungsbegriff und jeweils eine der vorgestellten Theorien darzulegen und den Bezug zu unserem Thema herzustellen. Punkt 4 zur empirischen Analyse von Bildungsprozessen werde ich dabei aussparen, da er für die Beantwortung unserer Frage wenig zielführend ist. Es sei vorangestellt, dass Koller sich in seinen Ausführungen, bis auf wenige Ausnahmen, nicht explizit mit Theater oder Kunst auseinandersetzt. Er führt am Ende seines Buches zwar ein Praxisbeispiel an, fokussiert sich mit der Analyse von Jeffrey Eugenides‘ Roman Die Selbstmord-Schwestern jedoch auf die Textanalyse und die Gattung der Literatur.

Die Schnittstellen zum Theater im Bildungskontext, besonders zur Theatervermittlung, sind jedoch zahlreich und deine Perspektive aus der Praxis wird dies sicher noch einmal verdeutlichen.

Struktur der Welt- und Selbstverhältnisse

Koller beschäftigt sich in dem Kapitel zur „Theorie der Struktur jener Welt- und Selbstverhältnisse“ (Koller 2018:21ff.) mit der strukturellen Psychoanalyse von Jacques Lacan, mit Judith Butlers Konzept der Subjektivation, mit Pierre Bourdieus Habitus-Begriff und mit dem Konzept der narrativen Identität unter Bezugnahme auf Paul Ricœur, Klaus Mollenhauer und Jerome Bruner. Für die Frage nach dem transformatorischen Bildungspotenzial von intergenerationaler Theaterarbeit soll hier vor allem das Konzept der narrativen Identität kurz vorgestellt werden.

Bei dem Konzept der narrativen Identität stellt Koller den Identitätsbegriff von Klaus Mollenhauer voran. Dieser beschreibt Identität als „Einheit des Vielerlei“ (Koller 2018:34), als ein abstraktes Konzept, das es uns ermöglicht, unsere unterschiedlichen und teilweise widersprüchlichen Anteile zu einer Einheit zusammenzufügen. Deshalb, so Koller, ist „von Identität […] immer dann die Rede, wenn diese Einheit problematisch geworden ist.“ (Koller 2018:35). Durch „biografische Differenzerfahrungen“ (ebd.) und indifferente Erwartungen an soziale Rollen ist das Subjekt herausgefordert, seine Identität stets neu hervorzubringen. Eine Möglichkeit für die Schaffung von Einheit ist, laut Koller, die Praxis des Erzählens. Unter Bezugnahme auf die Erzähltheorie von Ricœur erläutert Koller einen Prozess der doppelten Erfahrung der „Einheit des Lebens“ (Koller 2018:37): erstens in der Erfahrung selbst und zweitens in der zeitlich versetzten Erzählung der Erfahrung, die es verlangt, die Erfahrung zu einem Ganzen zu bündeln und kommunizierbar zu machen (vgl. Koller 2018:38f.).

Koller schreibt dazu:

„Die Herausbildung narrativer Identität wäre in diesem Fall erst abgeschlossen, wenn ein Ich-Erzähler nicht nur die disparaten Elemente seines Lebens und die differenten Zustände seiner Person zu einer Einheit gebracht hat, sondern auch beim Erzählen seiner Geschichte(n) selbst zu deren Leser bzw. Zuhörer geworden ist, sich mit der präsentierten Figur identifiziert und so die ‚Einheit seines Lebens’ erfährt.“ (Koller 2018:39)

Aus dem Konzept der narrativen Identität geht hervor, dass das Selbst- und Weltverhältnis immer wieder neu hervorgebracht werden muss, in diesem Beispiel durch die Praxis des Erzählens. In solch einem performativen Moment erlebt sich das Subjekt als Subjekt und nimmt aktiv Einfluss auf den Moment des Erlebens. Die Ebene des Erzählens beinhaltet gleichzeitig immer auch eine*n Adressat*in, der*die dem Erzählten zuhört. Beschrieben wird hier mit Ricœur ein Grundelement des Theaters, das mit der aristotelischen Forderung nach Einheit und Nachvollziehbarkeit der Handlung die Nähe zum Konzept der narrativen Identität verdeutlicht. Ein weiteres Element, das in Hans Thies Lehmanns Theorie des postdramatischen Theaters als die Deutungsoffenheit der Zeichen beschrieben wurde (vgl. Lehmann 1999), verdeutlicht Koller unter Bezugnahme auf Jerome Bruner und der „Offenheit für Interpretation“ (Koller 2018:41) gut gebauter Geschichten. Das Erlebte und das Erzählte sind demnach nie deckungsgleich, sodass sich stets ein gewisser Grad der Verschiebung einstellt. Diese Differenz oder auch „Täuschung“ (ebd.) gehört, wie Brunner schreibt, ebenso zum Konzept der narrativen Identität wie auch zum Theater und hier im spezifischen Fall deiner Theaterarbeit, Sophia, zum biografischen Theater.

Wie ich deine Arbeit kenne, arbeitest du immer mit Stückentwicklungen. Die eigene Identität wird dabei zum Ausgangspunkt für das zu entwickelnde Stück. Wie würdest du das Konzept der narrativen Identität auf deine Arbeit übertragen?

Sophia: Danke für deine aufschlussreiche Zusammenfassung. Ich möchte bei der Beantwortung deiner Frage direkt auf die Erzähltheorie von Ricœur eingehen, da ich diese als sehr spannenden Punkt in Bezug auf die theaterpädagogische Arbeit finde. Dabei bleibe ich kurz bei dem Begriff der Identität und der Suche nach der Antwort auf die Frage „Wer bin ich?“. Diese Frage wird in der Theaterpraxis ergänzt durch „Wer bin ich in dieser Gruppe?“. Ich gehe davon aus, dass Identitäten wandelbar sind. Die Spielenden können sich also in dem Theaterkontext neu erleben, da sie sich ins Verhältnis zur Gruppe setzen.

In ihrem Buch Identitätskrise beschreibt Alice Hasters die Wandelbarkeit der Selbsterzählung treffend:

Das Schöne an Identität ist, dass wir unsere Geschichten über uns immer wieder neu erzählen können. Wir können Dinge, die in unserer Selbsterzählung zuvor als nebensächlich galten, zentral werden lassen und umgekehrt: (...) Diese Wandelbarkeit halte ich in Anbetracht der Weltlage für die wichtigste Eigenschaft unserer Identität.“ (Hasters 2023:8)

So entsteht über die Probenzeit hinweg eine Spieler*in-Identität und eine Gruppenidentität, die als kollektiver Motivator das Ziel klar vor Augen hat: die gemeinsame Aufführung. Innerhalb dieses Prozesses erzählen wir uns in der biografischen Theaterarbeit Geschichten, die uns selbst beschreiben. Das ausgewählte Thema gibt dafür die Rahmung. Die eigene Geschichte wird zum Bühnenmaterial und muss von den jeweiligen Spielenden freigegeben werden. Selbstverfasste Texte werden untereinander getauscht (so zeigte eine Szene der Produktion hdgdl (Theater Osnabrück 2022), in der es um die Vielschichtigkeit der Liebe geht, einen jüngeren Spieler und die älteste Spielerin, wie sie sich auf Tinder schreiben, aber nie begegnen). Diese selbstverfassten Texte werden im Prozess mit Theatertexten ergänzt, verfremdet und finden in den meisten Fällen auch eine*n neue*n Besitzer*in. Die Spielenden schauen somit auf ihre eigene Geschichte, ihr Erzähltes bekommt eine Interpretationsebene und wird durch ästhetische Mittel in einen theatralen Kontext übersetzt. Diesen Vorgang würde ich der Erzähltheorie von Ricœur als dritte Ebene hinzufügen wollen.

Die Aufführung folgt in den meisten Fällen keiner linearen Erzählung. In ihrer Collagenhaftigkeit fächert sie das Thema des Abends auf und das Publikum kann sich selbst in dem Gezeigten wiederfinden. Können wir bei dem Prozess des Zeigens und der Zeug*innenschaft durch das Publikum nicht auch von einer vierten Ebene sprechen? Ich lasse die Frage als Gedankenentwurf offen.

In unserer Analyse und in der Annäherung an den Begriff transformatorischer Bildung erscheint mir besonders die Erfahrung von Selbstwirksamkeit bedeutsam – jene Erfahrung, die entsteht, wenn die eigenen Themen im theatralen Raum verhandelt und sichtbar werden. Die Spielenden erfahren, dass ihre Geschichte es wert ist, erzählt und in Szene gesetzt zu werden. Indem ihre Darstellung andere berührt und zur Selbstreflexion anregt, entsteht eine Resonanzbeziehung, in der individuelle Erfahrung in kollektive Bedeutung überführt wird. Dieser Moment lässt sich im Sinne transformatorischer Bildung als ein Erfahrungsraum beschreiben, in dem neue Selbst- und Weltbezüge möglich werden.

Es lässt sich festhalten, dass Bildungsprozesse insbesondere in jenen Momenten verortet sind, in denen Teilnehmende ihre Handlungsspielräume erweitern und die Fähigkeit zum Perspektivwechsel ausbilden.

Die Kraft des Theaters wird erfahrbar. Ganz im Sinne von Bruner geht es darum, durch „gut gebaute Geschichten“ (Koller 2018:41) einen Raum für unterschiedliche Deutungen zu geben. Durch die Offenheit der Interpretation kann ich die Welt als wandelbar erleben und erfahre im besten Falle, was es bedeutet, Mehrdeutigkeit zuzulassen. An dieser Stelle möchte ich nochmals Hasters zitieren, die zwar nicht von theatralen Räumen ausgeht, aber von der Kraft der Erzählung über uns selbst. So schreibt sie in Identitätskrise:

Man verabschiedet das Schwarz-Weiß-Denken, die Binarität, die Linearität, räumt Schubladen unserer Sprache auf, baut neue, haut alte kaputt. Man akzeptiert, dass die Geschichten, die wir uns in der Vergangenheit erzählt haben, auf die Gegenwart einwirken, mit all den Fehlern und den Triumphen. Wir können sie nicht einfach ignorieren und müssen wohl oder übel auf ihr aufbauen. Doch auch das bietet immer noch einiges an Freiheit, einiges an Optionen. Es kommt eben darauf an, wie wir die Geschichten weitererzählen.“ (Hasters 2023:205)

Ganz im Sinne von Hasters Buchitel kann Identität mit diesem Vorhaben auch zur (produktiven) Krise werden, weil sie instabil und brüchig wird. Diese Krisenhaftigkeit betrifft nicht nur Identität, sondern ebenso das Theater selbst. So schreibt Heiner Müller „Theater ist Krise“ (Müller 2008/1995:810f) und meint damit auch die innere Krise: Theater ist immer unvollendet, ein riskanter Prozess zwischen Text, Körper und Publikum.

Simon, findet sich der Begriff der Krise auch bei Koller wieder, denn ohne Krise gibt es keine Transformation, oder?

Anlass transformatorischer Bildungsprozesse

Simon: Ja richtig, anders als bei Humboldt braucht es bei Koller immer einen Anlass für den Bildungsprozess  in Form einer Krise oder Irritation. Um zu verdeutlichen, welche Anlässe zu transformatorischen Bildungsprozessen führen können, stellt Koller neben dem Moment des Erzählens drei Theorien vor, die sich diesem Moment des Krisenhaften oder Problembehafteten widmen. Diese sind Jean-François Lyotards Philosophie des Widerstreits, Günter Bucks Konzept der negativen Erfahrung und Bernhard Waldenfels‘ Konzept der Erfahrung des Fremden. Da das Fremde oder Andere und vor allem der kreative Umgang damit in Form von Verkörperung, Widerständigkeit oder als Material in der Theaterpädagogik bereits viel besprochen wurde (vgl. u.a. Westphal 2014), soll von den drei Beispielen die Theorie von Waldenfels genauer betrachtet werden.

Waldenfels beschreibt das Fremde als etwas, das sich „dem Zugriff der Ordnung, vielleicht sollte man besser sagen: einer gegebenen Ordnung entzieht“ (zitiert nach Koller 2018:80). Ausgangspunkt für seine Ausführungen ist der Erfahrungsbegriff, der aus phänomenologischer Perspektive beschreibt, dass etwas als etwas in Erscheinung tritt. Erfahrungen finden immer in einem Kontext oder in einer Ordnung, einem Ordnungssystem, statt. Diese Ordnung hat direkten Einfluss auf die Erfahrung. Die meisten würden sicher zustimmen, dass es einen Unterschied macht, ob mir ein Glas zu Hause in meiner Wohnung herunterfällt oder während eines wichtigen Meetings bei der Arbeit. Die Erfahrung mit dem Fremden entzieht sich eben diesen Ordnungssystemen und erregt deswegen unsere Aufmerksamkeit. Koller betont dabei, dass Waldenfels sich in seinen Ausführungen nicht mit dem Fremden an sich auseinandersetzt, sondern wie das Fremde sich als Fremdes zeigt. Diese Setzung macht deutlich, dass das Fremde eines Ortes, einer Sache oder einer Person dieser nie grundsätzlich eingeschrieben ist, sondern das Fremde erst zum Fremden gemacht wird, und zwar durch eine menschengemachte Ordnung.

Damit ist eine Paradoxie in Bezug auf das Fremde beschrieben, die Koller wie folgt formuliert: „Etwas erscheint uns auf eine bestimmte Weise, und gerade weil oder insofern es uns auf diese Weise erscheint, erscheint es zugleich als sein Gegenteil. […] Das Fremde zeigt sich, indem es sich uns entzieht“ (Koller 2018:82f.). Im Kontext von Bildungsprozessen, die immer auf das sich bildende Subjekt verweisen, kann dies, so Koller, auch bedeuten, dass „Menschen auch sich selbst fremd werden können“ (Koller 2018:83).

Die zentrale Frage, die aus Waldenfels‘ Konzept resultiert, ist die Frage nach dem Umgang mit dem Fremden. Hierbei formuliert Waldenfels drei Möglichkeiten: Ein Umgang mit dem Fremden soll, so Waldenfels, erstens, ohne die Gleichsetzung des Fremden mit dem Feind oder zweitens, ohne die Aneignung des Fremden auskommen. Vielmehr gilt es drittens, eine responsive Antwort auf den „Anspruch des Fremden“ (Koller 2018:84) zu finden. Koller schreibt: „Neues entsteht [...] als kreative Antwort auf Fremdansprüche in jenem Zwischenraum zwischen Subjekt und Fremdem“ (Koller 2018:85). Wie genau dieser Zwischenraum zwischen Subjekt und Fremdem gefüllt wird und was das Neue sein kann, das darin entsteht, erläutert Koller jedoch nicht. Vielleicht gibt uns deine Arbeit, Sophia, mit den Mitteln des Theaters eine Antwort darauf.

An dem Konzept des Fremden nach Waldenfels wird deutlich, dass Krisenerfahrungen oder Problemlagen, die den Anlass für transformatorische Bildungsprozesse liefern, nicht ausschließlich negativ sein müssen, sondern durchaus eine produktive Irritation darstellen können, die zu einer kreativen Antwort auf die Fremdheitserfahrung führen kann. Folgt man der Argumentation Kollers, kann man festhalten, dass transformatorische Bildungsprozesse stets das Andere brauchen und sich nicht singulär vollziehen.

Die Theaterpraxis, die ich von dir, Sophia, kenne, findet immer kollektiv statt, wie du eben mit deinem Begriff der Gruppenidentität schon ausgeführt hast. Zusätzlich hatte ich beim Schreiben dieses Absatzes einige deiner Stücke im Kopf, weil das Fremde oder Andere dort in einem sinnlichen und ästhetischen Rahmen erfahrbar wird. Gibt es konkrete Situationen aus deinem Probenprozess, die dir zu Waldenfels’ Konzept des Fremden einfallen?

Sophia: In der Auseinandersetzung mit Waldenfels’ Konzept erinnere ich mich an eine Probensituation. Dort wurde für mich deutlich, dass gerade die Zusammensetzung der Gruppe – intergenerational und transkulturell – den Teilnehmenden die Erfahrung ermöglicht, im Gegenüber auch eine eigene Fremdheit in sich selbst zu entdecken. Dabei ist ihr So-Sein die Grundlage, von der aus wir arbeiten. In unterschiedlichen Biografien, in Rollen oder durch andere Generationen, begegnen wir uns im Fremden und reagieren darauf künstlerisch. Es geht in den Probenprozessen nicht darum, das Fremde aufzulösen, sondern genau darum, den Zwischenraum zu finden, in dem wir auf das Fremde reagieren können und sich somit unser Bild von uns und der Welt verändert. Dieser Prozess ist weder von den Spielenden planbar noch von mir in den Proben angesetzt – es passiert uns.

Den Aspekt der Aneignung in Waldenfels’ Theorie würde ich mit Blick auf die Theaterarbeit anders bewerten. Im Theaterprozess spielt Aneignung durchaus eine zentrale Rolle: Wir eignen uns die Geschichten unserer Mitspielenden an, lassen uns von anderen Inszenierungen inspirieren oder greifen auf Fremdtexte zurück. Dabei geht es ausdrücklich nicht um kulturelle Aneignung, sondern um ein produktives Aufnehmen und Weitergestalten von Impulsen der Gruppe.

Um Waldenfels´ Konzept des Fremden in unserer Arbeit weiter zu untersuchen, bleibe ich bei der Produktion hdgdl (Theater Osnabrück 2022), in der sich das Ensemble mehrere Monate mit verschiedenen Dimensionen von Liebe auseinandergesetzt hat. Durch die verschiedenen Generationen und durch Material, welches von Spielleitung, Dramaturgie, Regieassistenz dazu kam (z.B. Texte aus dem Buch Radikale Zärtlichkeit von Şeyda Kurt [Kurt 2021]), wurde eine traditionelle Vorstellung von Beziehungsformen hinterfragt. Man könnte annehmen, das Thema eröffnet eine Kluft „Alt gegen Jung“ durch Diskussionsgrundlagen wie beispielsweise traditionelle und offene Beziehungsformen. Diese Befürchtung hat sich nicht bewahrheitet, eher entstand eine Fürsorge innerhalb der Gruppe und das Zeigen von Verletzlichkeiten war möglich. Um ein Beispiel dafür zu geben, wie eine Annäherung an das Thema ermöglicht wurde, möchte ich im Folgenden eine Übung beschreiben, die ich im ersten Drittel der neunmonatigen Probenzeit angeleitet habe. Mein Anliegen war es, die Gruppenidentität zu stärken, ein vertieftes Kennenlernen zu ermöglichen und zugleich eine gemeinsame Basis für das weitere Arbeiten am Thema zu schaffen.

Die Übung, die ich als Liebeslebenslinie bezeichnete, war angelehnt an eine Skalierung: Sie begann mit dem Geburtsjahr der ältesten Spielerin (1944) und endete im aktuellen Jahr der Produktion (2022). Diese beiden Jahreszahlen schrieb ich auf DINA4-Blätter und legte sie an die Enden eines Seils. Die Teilnehmenden erhielten Stift und Papier mit der Aufgabe, das Seil um weitere Jahreszahlen zu ergänzen. Jede Zahl stand für ein persönliches Erlebnis zum Thema Liebe. Nachdem alle mindestens eine, höchstens drei Jahreszahlen beigetragen hatten, gingen wir gemeinsam die Linie entlang, hielten an den Stationen inne und hörten die dazugehörigen Geschichten. So entfaltete sich eine beeindruckende Vielfalt an Erfahrungen – Schmerz, Freude, Verlust und Glück –, die sich wie in einem Kaleidoskop immer wieder neu zusammensetzten. Am Ende beschrieben die Spielenden die Linie als etwas, das sich wie eine große gemeinsame Biografie anfühlte. Durch diese Übung konnte ich erleben, welche Erfahrungen der Gruppe innewohnen und welche Aspekte spannend für die Bühne sein könnten. Innerlich kuratierte ich die Geschichten und konnte in der nächsten Probe mit einer weiteren Aufgabe daran anknüpfen. Teilnehmende, die im ersten Moment keine Berührungspunkte mit dem Thema einer Geschichte hatten, setzten sich damit kreativ auseinander, eigneten sich Lebenserfahrung an und setzten künstlerisch erste Ideen um. So konnte in der Begegnung mit dem Fremden und Unbekannten Neues entstehen. Eine Erzählung aus dem Zweiten Weltkrieg kann eine genauso fremde Erzählung sein wie nach einem Date geghostet zu werden oder die Geschichte vom Tod eines geliebten Menschen (vgl. Anmerkung). Themen wie Queerness, Pronomen oder Sexualität waren Teil des Probenprozesses. Dabei mussten Begriffe – unabhängig vom Alter – erklärt und gemeinsam verstanden werden. Entscheidend ist, einen diskriminierungssensiblen Raum zu schaffen und diesen bewusst zu pflegen. Das gelingt jedoch nicht durch Momente des Ausstellens, Abfragens oder durch belehrende Vorträge, sondern durch eine offene Haltung: Wir lernen voneinander, gerade weil wir unterschiedlich sind. Zugleich bleibt wichtig zu betonen, dass trotz vielfältiger Perspektiven Stimmen fehlen und Themen unsichtbar bleiben – auch weil Theater nach wie vor ein exklusiver, von Barrieren geprägter Ort ist. Neue Zugänge zu schaffen und Teilhabe zu ermöglichen, ist daher nicht nur meine Motivation, sondern eine Aufgabe für die Institution Theater und die Kulturpolitik insgesamt.

Ich erfahre in jeder Probe, wie die intergenerationale Zusammensetzung der Gruppe neue Lernräume schafft. Die Spielenden sehen sich als kreative Partner*innen und verinnerlichte Vorurteile einer bestimmten Generation gegenüber werden in der Arbeit hinfällig. Wir verlassen unsere Peers und Bubbles. Lebenserfahrene Spielende profitieren von der Perspektive jüngerer Generationen und umgekehrt. An dieser Stelle möchte ich die spielenden Perspektive einbringen und zitiere Otti Schollek:

„Wir kommen nicht für den Selbstzweck einer intergenerationalen Begegnung zusammen, nicht für eine Mediation zwischen Generationen. Wir kommen, weil wir das Theater lieben, und wir kommen für einen gemeinsamen Umgang mit der Welt. Meine Realität hat sich verändert, seit diese Gruppe Teil von ihr ist.“ (zitiert nach Grüdelbach 2025:20)

Im Anschluss an Koller lässt sich intergenerationale Theaterarbeit somit als ein transformatorischer Bildungsprozess begreifen. In der ästhetischen Praxis entstehen neue Welt- und Selbstbezüge nicht durch die bloße Begegnung der Generationen, sondern durch die gemeinsame schöpferische Auseinandersetzung. Bildung vollzieht sich hier als Veränderung von Wahrnehmungs- und Deutungsmustern, die über individuelle Lerngewinne hinaus auch die gemeinsame Wirklichkeit der Gruppe neu gestaltet.

Auch wenn der Prozess in der Theaterarbeit extrem wichtig ist, gibt es ja meistens auch ein Produkt in Form einer Aufführung. Dafür generieren wir, wie schon beschrieben, neues Spielmaterial. Simon, welche Rolle spielt das Neue bei Koller?

Entstehung des Neuen in transformatorischen Bildungsprozessen

Simon: Im transformatorischen Bildungsprozess ist es ein zentraler Aspekt, dass sich der Ausgangszustand des Subjekts von seinem Zustand unterscheidet, wenn der Bildungsprozess abgeschlossen ist. Das Neue entsteht in genau diesem Zwischenraum.

In dem Konzept der responsiven Reaktion bzw. kreativen Antwort bei Waldenfels haben wir ja schon eine Möglichkeit kennengelernt. In seinem Kapitel zur „Entstehung des Neuen in transformatorischen Bildungsprozessen“ (vgl. Koller 2018:101ff.) hebt Koller unter Bezugnahme auf Ulrich Oevermann eine wichtige Grundvoraussetzung für die Entstehung des Neuen hervor. Oevermann spricht davon, dass Bildungsprozesse Freiheitsspielräume brauchen, um stattfinden zu können. Dafür nennt er zwei Beispiele:

„Bildungsprozesse brauchen zeitliche und inhaltliche Freiheitsspielräume, wie sie für Traum und Kunst kennzeichnend sind, d.h. die Ausschaltung bewusster Kontrolle psychischer Tätigkeiten (wie im Traum) sowie die Ausschaltung der strengen Rationalitäts- und Effektivitätskriterien anderer professioneller und sonstiger Tätigkeitsfelder (wie in der Kunst).“ (Koller 2018:120)

Die Kunst wird hier als Ort neuer Rationalitäts- und Effektivitätskriterien gekennzeichnet. Um sich auf etwas Neues einlassen zu können, muss ich meinen „Seins-Modus“ (Maset 1995:22.), wie es Pierre Angelo Maset nennt, ändern. Ein Raum, der dadurch bestimmt ist, dass Handlungs- und Denkfreiheit besteht, ist dafür eine notwendige Voraussetzung. Durch deine Praxisperspektive, Sophia, haben wir einen sehr guten Eindruck bekommen, was damit gemeint sein kann.

Koller beschäftigt sich im Kontext der Entstehung von Neuem mit neuen Sinnentwürfen im Prozess hermeneutischer Erfahrungen bei Hans-Georg Gadamer und mit neuen Lesarten im Kontext der dekonstruktiven Lektüre bei Jaques Derrida. Ein Begriff, der für unsere Fragestellung besonders hilfreich sein kann, ist der Begriff der „Resignifizierung“ (Koller 2018:131) von Judith Butler. Resignifizierung beschreibt „eine Wiederholung, die das Wiederholte in einen anderen Kontext rückt und so in seiner Bedeutung verändert“ (ebs.). Da, wo es bei Butler z.B. um die performative Hervorbringung von Geschlecht durch permanente Wiederholung geht, öffnet sich das Konzept im Kontext von transformatorischen Bildungsprozessen hin zu zahlreichen anderen Tätigkeitsfeldern. Für Koller kann das Transformationsgeschehen selbst als Resignifizierung verstanden werden, indem Welt- und Selbstbezüge durch sprachliche oder andere Praktiken bereits bestehende Figuren aufgreifen, wiederholen und variieren (vgl. Koller 2018:134). Das Neue entsteht hier also nicht aus dem Nichts, sondern bezieht sich immer auf etwas Bestehendes. Damit berührt der Begriff der Resignifizierung einen zentralen Punkt in der Debatte um das schöpferische Potenzial der Kunst. Das Konzept von Künstler*innen als Genies wird in den letzten Jahrzehnten immer mehr ersetzt durch ein Verständnis von künstlerischer Arbeit als eine Form der kreativen Variation und Umwandlung von bereits Bestehendem. Die künstlerische Praxis selbst oder die Ergebnisse werden dadurch jedoch nicht abgewertet. Damit einhergehend findet auch eine Enthierarchisierung und Demokratisierung von Kunst statt, da künstlerische Praxis nicht mehr einigen Wenigen vorbehalten ist.

Butler spricht in ihrem Konzept der Resignifizierung von der „Wiederaufführung“ (zitiert nach Koller 2018:131) von Figuren des Welt- und Selbstbezugs. Beim Theaterspielen findet doch eigentlich genau das statt. Fällt dir dazu ein Praxisbeispiel ein?

Sophia: Schauen wir dafür auf ein weiteres Praxisbeispiel, um eine Szenenentwicklung besser zu verstehen. Ausgangspunkt ist oft eine Schreibaufgabe, die Textmaterial generiert. Mit Mitteln des kreativen Schreibens entsteht ein erster Entwurf, der anschließend an eine Gruppe weitergegeben wird. Diese für die Probe zusammengesetzte Gruppe verfremdet ihn interessengeleitet – manchmal bleibt nur ein einziges Wort des Originals übrig. Mithilfe ästhetischer Mittel wie Tanz, Musik, Requisiten, Kostüm oder Improvisation wird daraus eine erste Szene geprobt.  Dieser Zwischenstand wird der Gruppe präsentiert. Manchmal gibt es Raum für Feedback („Was habe ich gesehen? Was hat mich berührt? Was habe ich nicht verstanden?“). Diese Proben brauchen einen geschützten Raum, denn durch Ausprobieren erfahren wir, wohin der Prozess führen kann.

Im Probenprozess werden frühe Spielideen verworfen oder mit neuen Szenenentwürfen kombiniert. Mit der Zeit wächst das Vertrauen in das eigene kreative Schaffen. Erfahrene Spieler*innen unterstützen unerfahrene. Am Ende findet nur ein Bruchteil des gesammelten Materials seinen Weg auf die Bühne. Diese Aushandlungsprozesse in der Gruppe erfordern kooperative Strategien.

Bildungsprozesse zeigen sich hier, indem die Gruppe das Arbeiten mit Textmaterial neu erlernt und erfährt, wie Texte sich verändern und für die Bühne durch ästhetische Mittel transformiert werden. Ich werde dem Probenprozess in diesem Artikel nicht ganz gerecht, zu viel bleibt unerwähnt. Vielleicht lässt es sich trotzdem erahnen, welche Beziehungsarbeit und künstlerische Verantwortung dem Berufsfeld der Theatervermittlung innewohnen.

Oevermanns Konzept verstehe ich als grundlegende Voraussetzung für Theaterarbeit, insofern diese stets aus einem spielerischen und offenen Impuls hervorgeht. Der Theaterraum eröffnet dabei einen spezifischen Erfahrungsraum, in dem Irritationen nicht abgewehrt, sondern produktiv aufgegriffen werden können (vgl. Übung Liebeslebenslinie). Probenprozesse schaffen somit einen Freiheitsraum, der sich den üblichen Logiken von Effizienz und Rationalität entzieht und es ermöglicht, das Hervorgebrachte als ästhetisches Material zu begreifen.

Butler beschreibt mit ihrem Konzept der Resignifizierung einen Prozess, der sich unmittelbar auf die Theaterpraxis übertragen lässt. Gerade im biografischen Theater zeigt sich dies besonders deutlich: Wenn biografisches Textmaterial innerhalb der Gruppe getauscht und von anderen Spieler*innen aufgegriffen wird, erhält die ursprüngliche Erzähler*in einen neuen Blick auf die eigene Geschichte. Das Bekannte erscheint im Spiel plötzlich in einem anderen Licht. Damit wird sichtbar, was zuvor verborgen blieb.

Dieser Prozess ist möglich, weil Theater – anders als viele gesellschaftliche Felder – nicht nach Effizienz und Zweckmäßigkeit funktioniert, sondern nach ästhetischen Kriterien. Sein spielerischer und zweckfreier Charakter schafft einen offenen Raum, in dem Bedeutungen nicht festgelegt sind, sondern sich wandeln dürfen. Unterschiedliche Körper, Stimmen und Perspektiven verändern im Spiel die Geschichten, die sie verkörpern, und überführen sie in einen bedeutungsoffenen Raum.

Resignifizierung knüpft damit auch an die Idee der narrativen Identität an: Wir verstehen uns selbst immer wieder neu, indem wir unsere Geschichten erzählen, wiederholen und in veränderten Formen aufführen. Kunst erinnert uns daran, dass die Dinge nicht so sein müssen, wie sie sind – und dass eine andere Realität denkbar ist. Diese Erfahrung, gemeinsam getragen in der Gesellschaft, ist heute nötiger denn je.

Gemeinsames Fazit

Der Sommer ist vorbei und wir sind beide wieder in Osnabrück. Durch das gemeinsame Sprechen, Denken, Schreiben und Lesen haben wir unsere Perspektiven angenähert und Theorie und Praxis zusammengeführt. Dabei stand die These im Vordergrund, dass intergenerationale Theaterarbeit als ein spezifischer Bereich der Kulturellen Bildung transformatorische Bildungsprozesse begünstigt.

Unsere Analyse der intergenerationalen Theaterpraxis hat gezeigt, dass Bildungsprozesse nicht automatisch stattfinden, sondern durch spezifische Bedingungen und Erfahrungen ausgelöst werden. Transformatorische Bildung, wie sie Koller beschreibt, entsteht, wenn Teilnehmende mit neuen Problemstellungen oder Irritationen konfrontiert werden, die ihre bisherigen Welt- und Selbstverhältnisse herausfordern. Das Theater bietet dafür einen einzigartigen Erfahrungsraum: Die Kombination aus spielerischer Freiheit, ästhetischen Mitteln und kollektiver Arbeit ermöglicht, dass Teilnehmende ihre eigenen Perspektiven reflektieren, sie mit denen anderer in Beziehung setzen und dadurch neue Sinn- und Deutungsmuster entwickeln.

Intergenerationale Gruppen verstärken diesen Effekt: Durch das Miteinander von jungen und lebenserfahrenen Spieler*innen entsteht eine produktive Begegnung mit Fremdheit – sowohl in den Geschichten der anderen als auch in der eigenen Wahrnehmung. Spielende erleben Selbstwirksamkeit, lernen Perspektivenwechsel und erweitern ihre Handlungsspielräume, während sie gemeinsam Bedeutungen verhandeln und transformieren.

Das Konzept der Resignifizierung von Butler beschreibt präzise, was in diesem Prozess geschieht: Bestehendes Material wird wiederholt, verändert und in neuen Kontexten sichtbar, wodurch vertraute Inhalte in einem anderen Licht erscheinen und neue Erfahrungen ermöglicht werden. Ebenso verdeutlicht die Erzähltheorie Ricœurs, dass Identität und Weltverhältnis performativ hergestellt werden – im Theater werden Geschichten erzählt, verkörpert und von anderen reflektiert, wodurch ein kontinuierlicher Prozess der Selbst- und Gruppenbildung entsteht.

Letztlich zeigt die intergenerationale Theaterarbeit, dass Bildungsprozesse nicht nur individuell, sondern auch kollektiv transformativ wirken können. Die Gruppe wird selbst zum Lernraum, in dem kreative Aneignung und ästhetische Freiheit zentrale Rollen spielen. Bildungsprozesse in diesem Sinne sind nicht abstrakt, sondern erfahrbar, sinnlich und relational – und sie verdeutlichen, dass die transformatorische Kraft von Bildung in der Praxis gelebt und gestaltet werden muss.

Verwendete Literatur

  • Grüdelbach, Sophia (2025): Generation what?! In: ixypsilonzett. Zeitschrift für darstellende Künste und junges Publikum. Winterheft 2024/25, 01/2025, S.18-19. https://tdz.de/publikation/xyz-2501 (Letzter Zugriff: 28.09.2025).
  • Hasters, Alice (2023): Identitätskrise. München: hanserblau.
  • Koller, Hans-Christoph (2018): Bildung anders denken. Einführung in die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse. 2., aktualisierte Auflage. Stuttgart: Kohlhammer.
  • Kurt, Şeyda (2021): Radikale Zärtlichkeit. Hamburg: HarperCollins.
  • Lehmann, Hans-Thies (1999): Postdramatisches Theater. Frankfurt am Main: Verlag der Autoren.
  • Maset, Pierangelo (1995): Ästhetische Bildung der Differenz. Kunst und Pädagogik im technischen Zeitalter. Radius-Verlag, Stuttgart,.
  • Müller, Heiner (2008): Theater ist Krise. Arbeitsgespräch vom 16. Oktober 1995. In: Werke. Hrsg. von Frank Hörnigk. Bd. 12: Gespräche 3: 1991–1995. Hrsg. von Frank Hörnigk. Redaktionelle Mitarbeit: Kristin Schulz u.a. Frankfurt/M.: Suhrkamp. S. 792–811.
  • Theater Osnabrück / Stadtensemble Generationen (2022): hdgdl: Eigenproduktion zum Thema Liebe. Juni 2022.
  • Westphal, Kristin (2014): Fremdes in Bildung und Theater/Kunst. In: Deck, Jan / Primavesi, Patrick (Hrsg.): Stop Teaching! Neue Theaterformen mit Kindern und Jugendlichen. Bielefeld: transcript. S. 125–138.

Zitieren

Gerne dürfen Sie aus diesem Artikel zitieren. Folgende Angaben sind zusammenhängend mit dem Zitat zu nennen:

Sophia Grüdelbach, Simon Niemann (2025): Erinnerung, Erfahrung, Erneuerung - Der transformatorische Bildungsbegriff im Kontext intergenerationaler Theaterarbeit. In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE: https://www.kubi-online.de/artikel/erinnerung-erfahrung-erneuerung-transformatorische-bildungsbegriff-kontext (letzter Zugriff am 10.11.2025).

DOI gesichert

Dieser Artikel wurde dauerhaft referenzier- und zitierbar gesichert unter https://doi.org/10.25529/RPKZ-RD06.

Veröffentlichen

Alle Texte dieser Website – also ausgenommen sind Bilder und Grafiken – werden (sofern nicht anders gekennzeichnet) unter Creative Commons Lizenz cc-by-nc-nd 4.0 (Namensnennung-Nicht kommerziell-Keine Bearbeitungen 4.0 International) veröffentlicht. CC-Lizenzvertrag

Herunterladen

Dieser Artikel als PDF:

PDF erzeugen

Teilen