Entfalten statt liften! Bedürfnisse von Älteren in kulturellen Bildungsangeboten
Bei einer Fachveranstaltung des Instituts für Bildung und Kultur (ibk) zum Thema „Kultur und Alter“ brachte eine ältere Teilnehmerin die Potentiale von Kulturteilhabe im Alter auf den Punkt: „Entfalten statt liften!“ Es gehe nicht um Anti-Ageing, sondern um Selbst-Ausdruck, Lebensgenuss und Entfaltungsmöglichkeiten (ibk 2007:3,10). Wie Kulturelle Bildung für Ältere gestaltet sein sollte, um diesen Bedürfnissen gerecht zu werden, wurde in der gleichnamigen Untersuchung erforscht.
Hintergrund und Ausgangslage der Studie
Hintergrund der Untersuchung sind die demografischen und die daran geknüpften bildungspolitischen Entwicklungen, die bereits von vielen PädagogInnen zum Anlass genommen wurden, sich der wachsenden Zielgruppe der SeniorInnen zuzuwenden. In der Praxis gibt es bereits Konzepte und Erfahrungen mit der Kulturellen Bildung mit Älteren, zum Beispiel in Museen, Bibliotheken, Volkshochschulen, Musik- und Kunstschulen oder Einrichtungen der Altenhilfe. Hier wurden Erfahrungen gesammelt, wie didaktisch mit Älteren gearbeitet werden kann. Die Wissenschaft beschäftigt sich mit diesem Themenbereich bisher jedoch nur am Rande und liefert wenig Erkenntnisse, wie kulturelle Bildungsangebote für Ältere gestaltet werden sollten, um ihren Bildungsbedürfnissen und den Veränderungen des Lernens im Alter gerecht zu werden. Praktische und wissenschaftliche Erkenntnisse aus der Kulturpädagogik haben in der Regel ihren Fokus auf der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Über die Kulturarbeit mit SeniorInnen, die in Analogie von der Kulturgeragogik untersucht werden müsste, ist noch wenig bekannt.
Die Forschungsarbeit „Entfalten statt liften!“ wurde als Dissertation am Fachbereich Bildungswissenschaften an der Universität Duisburg-Essen mit dem Schwerpunkt der Erwachsenenbildung durchgeführt. Die Kulturgeragogik liegt aus Perspektive der Erwachsenenbildung auf der Schnittstelle von der Bildung im Alter und der kulturellen Erwachsenenbildung. Diese beiden Perspektiven sind unterschiedlich einzuordnen:
Die Bildung im Alter bzw. die Geragogik ist einzuordnen in die Auseinandersetzung mit Zielgruppen, deren Bildungschancen erhöht werden sollen. Seit den 1970er Jahren soll Weiterbildung unter dem Postulat „Bildung für Alle“ so gestaltet werden, dass alle Bevölkerungsgruppen an Weiterbildung teilhaben können. Es werden nun auch solche Zielgruppen in den Fokus gerückt, die nicht bzw. wenig an Weiterbildung teilnehmen oder die davon sogar ausgeschlossen werden. So gibt es zum Beispiel spezielle Bildungsangebote für Ältere, für Männer oder Frauen oder für Menschen mit Migrationshintergrund. Diskurse, die sich mit der Bildung Älterer beschäftigen, behandeln die Kulturelle Bildung – wenn überhaupt – nur am Rande. In der Erwachsenenbildung wird seit über zehn Jahren daran gearbeitet, Rahmenbedingungen zu schaffen, um Menschen in speziellen Lebenslagen zu Bildung zu ermutigen und dadurch Chancenungleichheit abzubauen (BMBF 2001:9). 2001 sollte hierzu mit dem Aktionsprogramm „Lebensbegleitendes Lernen für alle“ die allgemeine, politische, kulturelle und berufliche Weiterbildung insgesamt, auch für Ältere, gestärkt werden, denn: „Lebenslanges Lernen endet nicht mit dem Abschluss der Berufsausbildung. Weiterbildung ist in allen weiteren Lebensphasen notwendig“ (ebd.:3).
Die kulturelle Erwachsenenbildung ist einzuordnen in die Unterscheidung nach verschiedenen Inhalten von Lernaktivitäten. Kultur kann als ein Angebotsfeld neben Beruf, Politik oder Gesundheit betrachtet werden (Schlutz 2010:22). Die kulturelle Erwachsenenbildung wiederum hat selten den Fokus auf der Zielgruppe der Älteren.
Geragogik – Wissenschaftliche und politische Zusammenhänge
Die Geragogik beschäftigt sich in Wissenschaft und Praxis mit der Gestaltung von Lern- und Bildungsprozessen im Alter (Bubolz-Lutz et al. 2010:13). Sie kombiniert Erkenntnisse aus Gerontologie und Erwachsenenbildung.
Oberthema des 5. Altenberichts der Bundesregierung sind die Potentiale Älterer in Wirtschaft und Gesellschaft (BMFSFJ 2005). Potentiale Älterer, von denen die Gesellschaft profitieren kann, können sein: Expertenwissen, Handlungsstrategien, Kommunikationsfähigkeiten oder auch die Ressource Zeit. Hier ist entscheidend, dass nicht allein das Alter zu bestimmten Potentialen führt, sondern „die reflektierte Auseinandersetzung mit Entwicklungsanforderungen im Lebenslauf“ (Kruse 2006:12), also Bildungsprozesse. So wird auch im 6. Altenbericht die Forderung nach adäquaten Bildungsangeboten aufgestellt. Hier werden Alter und Älterwerden vor dem Hintergrund des demografischen Wandels und des Lebenslangen Lernens als zentrale Themen der Bildungspolitik benannt (BMFSFJ 2010:81).
Bildungsprozesse sind auch für die Älteren selbst bereichernd (Bubolz-Lutz/Kricheldorff 2011:21f.). Bildung fördert in jeder Lebenslage im Alter die Partizipation an der Gesellschaft (BMBF 2001:2). Sylvia Kade (2007) veranschaulicht, dass Bildung und freiwilliges Engagement für viele SeniorInnen sinngebend sind und die zur Verfügung stehende freie Zeit nach dem Austritt aus der Erwerbstätigkeit häufig genutzt wird, um die eigene Lebensqualität zu erhöhen. „Die Zeit der Kaffeenachmittage ist vorbei“ (Bubolz-Lutz/Kricheldorff 2011:21), Bildung im Alter bedeutet einen „Aufbruch in neue Welten, das inspirierende Miteinander von Alt und Jung, gemeinsames Engagement in Projekten, das Treffen von Gleichgesinnten und das Erörtern von Lebensfragen“ (ebd.). Bildungsprozesse Älterer unterstützen die aktive Beteiligung an gesellschaftlichen Entwicklungen. Weiterbildung im Alter hat zudem die Aufgabe, vorhandene Kompetenzen aufrechtzuerhalten oder zu erweitern (Gnahs/von Rosenbladt 2011:80).
Die Stärkung von Weiterbildung für Ältere ist weiterhin von Bedeutung, da die Weiterbildungsbeteiligung Älterer im Vergleich zu jüngeren Altersgruppen trotz des Aktionsprogramms auch heute noch deutlich geringer ist. 2005 nahmen 1,5% der 65- bis 79-Jährigen an Weiterbildung teil, im Vergleich dazu waren es 17,6% der 35- bis 49-Jährigen (siehe Sonderauswertung Mikrozensus 2005 des Statistischen Bundesamts 2007, in: DIE 2008:37). Im Zeitvergleich ist die Teilnahme Älterer an Weiterbildung aber leicht ansteigend und wird voraussichtlich weiter zunehmen (ebd:36f.). Gründe hierfür werden in der Verlängerung der Lebensarbeitszeit gesehen und auch darin, dass sogenannte bildungsgewohnte Menschen in die höheren Altersklassen aufrücken.
Hinzu kommen die Entwicklungen im demografischen Wandel: Die absolute Anzahl der Älteren steigt an, da die Lebenserwartung der Menschen wächst und jüngere Ältere aus den geburtenstarken Jahrgängen in die oberen Altersklassen nachrücken. Gleichzeitig nimmt auch der Anteil der Älteren an der Gesamtbevölkerung zu, da ein deutlicher Geburtenrückgang zu verzeichnen ist und die Bevölkerungszahl insgesamt abnimmt.
Angesichts dieser Veränderungen steht die Erwachsenenbildung vor der Aufgabe, sich an diesen starken, bildungsrelevanten Altersgruppen zu orientieren und entsprechende Bildungsangebote vorzuhalten. Um dem gerecht werden zu können, muss sie sich damit auseinandersetzen, unter welchen Bedingungen das Lernen Älterer gefördert oder auch verhindert werden kann. Ältere werden allerdings in empirischen Studien bislang meist nur am Rande betrachtet. Bis auf wenige Ausnahmen wird in vielen Untersuchungen das Erwerbsaustrittsalter als obere Altersgrenze der ProbandInnen gesetzt. Bildungsdiskurse befassen sich in erster Linie mit Schulen, Hochschulen und beruflicher Bildung (Stang 2005:305). Die EdAge-Studie bildet hier eine der wenigen Ausnahmen und untersucht das Bildungsverhalten von 65- bis 80-Jährigen (vgl. Tippelt et al. 2009).
Ekkehard Nuissl (2009:95) stellt fest, dass es erstaunlich sei, dass sich die Weiterbildung nur allmählich mit den Bildungsinteressen und -barrieren Älterer auseinandersetzt, obwohl die demografische Entwicklung schon lange bekannt ist. Ältere sind Erwachsene. So könnte die Vermutung angestellt werden, Erkenntnisse aus der Erwachsenenbildung ließen sich problemlos auf Ältere übertragen. Es bestehen zwar Gemeinsamkeiten in theoretischen Konzepten und in der disziplinären Verortung (Kolland 2011:02-5), doch bedarf es einer gesonderten Betrachtung dieser Zielgruppe. Beispielsweise verändert sich die Lernfähigkeit im Alter und gesundheitliche Belastungen wirken sich auf Lernprozesse aus (ebd.). Hier sind Erkenntnisse aus der Nachbardisziplin Gerontologie hilfreich.
Soll die Lernaktivität Älterer gesteigert werden, auch um die Potentiale Älterer besser nutzen zu können, bedarf es einer bildungspolitischen Handlungsstrategie, die altersrelevante Forschung und barrierefreie Bildungsangebote fördert (Friebe 2009:5ff.). Die Auseinandersetzung mit den Bildungsinteressen und -barrieren dieser heterogenen Gruppe der Älteren, der Didaktik, der Angebotsstruktur und der Professionalisierung ist notwendig (ebd.). Hier liegen bereits einige Erkenntnisse vor – jedoch wird nicht auf die Besonderheiten in bestimmten Angebotsfeldern – wie der Kulturellen Bildung – eingegangen. Eine Auseinandersetzung mit den heterogenen Bildungsinteressen und -barrieren Älterer würde eine Grundlage für die dringend erforderliche Qualifizierung der pädagogisch Tätigen bieten, damit diese alterssensibel handeln können. Fortbildungsangebote, die die Lehrenden bezüglich der Betreuung und Beratung Älterer qualifizieren oder didaktische Prinzipien thematisieren, sind bislang noch rar (Nuissl 2009:95, 100f.).
Kulturelle Erwachsenenbildung – wissenschaftliche und politische Zusammenhänge
Der vorletzte Bildungsbericht hat das Schwerpunktthema „Kulturelle Bildung im Lebenslauf“ (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2012). Der Bericht geht von dem „politisch unumstrittenen Konzept“ aus, dass Kulturelle Bildung „einen unverzichtbaren Bereich der Allgemeinbildung darstellt“, in dem Kinder, Jugendliche und Erwachsene ihre Persönlichkeit entfalten und diese in gesellschaftliche Zusammenhänge einbringen (ebd.:196). Der kulturellen Erwachsenenbildung kommt angesichts gesellschaftlicher Entwicklungen für das Lebenslange Lernen eine steigende Bedeutung zu. Richard Stang (2005:305) bezeichnet neben der Arbeit insbesondere Kultur und Bildung als persönlichkeitskonstituierende Elemente. Die zunehmende Diskontinuität von Biografien sowie die Globalisierung und Mediatisierung haben zur Folge, dass die Identitätsentwicklung „zu dem gesellschaftlichen Projekt der Zukunft“ (ebd.:306) wird. Eine Beschränkung auf das Feld der beruflichen Arbeit wäre hier fatal (ebd.). Kultur und Bildung spielen eine große Rolle, da sie die Identitätsentwicklung stärken können. So gilt es, Arbeit, Kultur und Bildung in gleichem Maße zu fördern. Stang nennt folgende Aufgaben der kulturellen Erwachsenenbildung: gestalterische Fähigkeiten und Kreativität fördern, für verschiedene Formen künstlerischen Ausdrucks und für soziokulturelle und interkulturelle Lebenszusammenhänge sensibilisieren sowie kulturelle und kommunikative Kompetenzen erweitern (ebd.). Dabei entfalten sich Schlüsselqualifikationen und fachübergreifende Kompetenzen der beruflichen und arbeitsplatzbezogenen Qualifizierung. Inhalte und Methoden der Kulturellen Bildung erhalten somit zunehmend Bedeutung, auch in der beruflichen Bildung.
Die kulturelle Erwachsenenbildung zieht Erkenntnisse aus der Kulturpädagogik heran. Die Kulturpädagogik hat die Aufgabe, Menschen in ihrer Persönlichkeitsbildung zu unterstützen, soziale, kommunikative und kreative Fähigkeiten zu stärken (ebd.: 2003:10; 2010:176). Wie auch in der kulturellen Kinder- und Jugendbildung können in der Erwachsenenbildung Methoden der Kulturellen Bildung eingesetzt werden, um allgemeine Bildungsziele zu erreichen. Die Kulturelle Bildung ist somit „ein zentrales Element des lebenslangen Lernens“ und auch bildungsbereichsübergreifend zu verstehen (ebd.:2005:310).
Die Erwachsenenbildung hat sich jedoch in der Vergangenheit zu Ungunsten der Kulturellen Bildung entwickelt, da die Qualifizierung für den Arbeitsmarkt priorisiert wurde. Angeboten der kulturellen Erwachsenenbildung wird häufig der Bildungsaspekt abgesprochen und sie werden auf Bastelkurse oder Beschäftigungsangebote begrenzt – in erster Linie von NichtnutzerInnen Kultureller Bildung (ebd.:306). Hinzu kommt, dass die Förderrichtlinien der Erwachsenenbildungsgesetze zu Ungunsten der Kulturellen Bildung verändert wurden (Ermert 2011:21). Kulturelle Bildung wird zunehmend geringer subventioniert, die Gebühren für Kurse werden erhöht und auf die Teilnehmenden umgelegt, da es sich hierbei um keine Angebote der Grundversorgung handelt (Stang 2005:307f.).
Kulturgeragogik – Einordnung und Konsequenzen der Untersuchung
Die kulturelle Erwachsenenbildung und die Geragogik werden nun unter der Überschrift Kulturgeragogik zusammen betrachtet. In Analogie zur Kulturpädagogik entwickelt sich derzeit an der Fachhochschule Münster die Disziplin Kulturgeragogik, die Erkenntnisse aus Geragogik und kultureller Erwachsenenbildung verbindet und sich mit der Didaktik, Methodik und den Inhalten des Lernens älterer Menschen in der Kulturellen Bildung auseinandersetzt.
Kulturgeragogik ist sowohl in der Kulturpädagogik als auch in der Geragogik jeweils nur ein Teilbereich. In der Kulturpädagogik ist die Zielgruppe der Älteren, in der Geragogik ist der kulturelle Inhalt ein Sonderthema, das häufig nur am Rande behandelt wird. Studien zu Kultureller Bildung im Alter gibt es nur vereinzelt.
Die Zielgruppe Ältere scheint zunehmend an Bedeutung für Fachverbände in der Kulturellen Bildung zu gewinnen. Der Deutsche Kulturrat wurde mit der Umsetzung der dritten „Konzeption Kulturelle Bildung“ durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung in ausgewählten Handlungsfeldern beauftragt (vgl.Deutscher Kulturrat 2005, 2009). Eines dieser Handlungsfelder ist der demografische Wandel und somit auch die Kulturelle Bildung für SeniorInnen. Das Thema steht damit auf der Agenda, weil es als gesellschaftlich relevant angesehen wird. So wird beispielsweise gefordert, entsprechend der Förderung kultureller Kinder- und Jugendbildung gemäß des Kinder- und Jugendplans, auch den Bundesaltenplan als Förderinstrument Kultureller Bildung im Alter zu etablieren (ebd.:402; Deutscher Bundestag 2007:405).
Es gibt weitere Postulate, dass sich die Kulturelle Bildung für SeniorInnen weiterentwickeln muss (Deutscher Kulturrat 2006, 2007; Ders./BAGSO 2009; Dreyer/Hübl 2007; Deutscher Musikrat 2007; Verband deutscher Musikschulen 2014). Mit Blick auf die demografischen Veränderungen wird gefordert, dass Kulturanbieter sich künftig damit auseinandersetzen, wie sie in Angeboten der Kulturellen Bildung stärker die Bedürfnisse Älterer berücksichtigen können, entsprechende Formate und Programme konzipieren und dafür die besonderen Bedingungen des Lernens von SeniorInnen didaktisch und methodisch aufgreifen können (Ermert 2006:5). Es wird gefordert, die Professionalisierung in der Kulturellen Bildung analog zur Erwachsenenbildung voranzutreiben (Zimmermann 2006:3).
Eine Studie zum Bildungsverhalten Älterer (Schröder/Gilberg 2005) zeigt, dass SeniorInnen gern Angebote mit künstlerisch-kulturellem Inhalt wahrnehmen und das Interesse eher groß ist. Kunst-, Musik-, Konzertveranstaltungen und Museumsbesuche führen die Themenbereiche an. Auch im „KulturBarometer50+“, einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage des Zentrums für Kulturforschung, wurde insgesamt ein großes Interesse Älterer an künstlerisch-kreativen Bildungsangeboten geäußert (Keuchel/Wiesand 2008:119). Dieses große Interesse könnte dazu führen, dass kulturelle Bildungseinrichtungen trotz demografischer Entwicklungen zukünftig besser ausgelastet sind (ebd.). Allerdings wird in der Trendanalyse des Deutschen Instituts für Erwachsenenbildung der Fachbereich „Kultur – Gestalten“ aufgrund der abnehmenden Belegungszahlen als Verlierer bezeichnet (Ambos 2010:107). Für die Zielgruppe „Ältere Menschen“ ist der prozentuale Anteil der adressatenspezifischen Kurse im Bereich „Kultur – Gestalten“ in Volkshochschulen ohnehin gering. Hinzu kommt, dass dieser Anteil abnimmt, 2001 lag dieser bei 9,6% der Angebote für ältere Menschen im Bereich „Kultur – Gestalten“ (Pehl/Reitz 2003), im Jahr 2010 bei 7,3% (Reichart/Huntemann 2011:42).
Bei klassischen Kultureinrichtungen ist der Anteil der älteren Bevölkerung im Publikum im regulären Programm verhältnismäßig hoch. Im Durchschnitt wird der Besucheranteil der über 65-Jährigen auf 23% geschätzt. Bei Mehrspartenhäusern (51%) und Orchestern (45%) ist der Anteil überdurchschnittlich hoch (Keuchel/Weil 2010:123f.). Im Vergleich dazu: Derzeit sind 21% der Bevölkerung über 65 Jahre (Statistisches Bundesamt 2011:7). Allerdings richten die Kultureinrichtungen nur sechs Prozent ihrer Bildungsveranstaltungen speziell an SeniorInnen (ebd.:125). Ältere spielen für klassische Kultureinrichtungen bislang also eher eine Rolle als Publikum, weniger als Zielgruppe von Bildungsangeboten. Der Ausbau künstlerisch-kreativer Bildungsangebote seitens der klassischen Kultureinrichtungen wird empfohlen (Keuchel/Weil 2010:129).
Methodische Grundlegung
Grundlage, um qualitativ hochwertige Angebote für SeniorInnen mit entsprechend zielgruppengerechten Konzepten zu entwickeln, sind Erkenntnisse zu ihren Bedürfnissen in der Kulturellen Bildung. Ziel der Untersuchung war es daher, eine Antwort auf die Forschungsfrage zu finden: Welche Bedürfnisse haben SeniorInnen im Hinblick auf kulturelle Bildungsangebote?
Operationalisierung
Diese Forschungsfrage erfordert die Operationalisierung der Begriffe „SeniorInnen“, „kulturelle Bildungsangebote“ sowie „Bedürfnisse“.
SeniorInnen
Die Bandbreite der Lebensphase Alter ist sehr groß, sie umfasst verschiedene Generationen, Kohorten und Milieus: Die sogenannten fitten Älteren, die gerade in den Ruhestand gegangen sind, und die hochaltrigen Menschen, ggf. mit demenziellen Beeinträchtigungen, bei denen ganz andere Aspekte eine Rolle spielen, umreißen dabei nur zwei Extreme. Altern vollzieht sich biologisch, kognitiv, psychisch und sozial und bezeichnet einen multikausalen und multifaktoriellen Prozess vom Beginn des Lebens bis zum Lebensende. Ab wann jemand „SeniorIn“ bzw. alt ist oder als alt wahrgenommen wird, ist daher nicht eindeutig zu definieren bzw. umfasst eigene Diskurse in verschiedenen Fachdisziplinen.
Für die Studie „Entfalten statt liften!“ musste dennoch eine Definition zugrunde gelegt werden. Es wurde der Abschluss der Berufs- und Familienphase als Beginn des dritten Lebensalters festgelegt, da durch den Wegfall beruflicher und familiärer Verpflichtungen eine neue Lebensphase beginnt. Um FrührentnerInnen aus dieser Definition auszuschließen, wurde eine Mindestaltersgrenze von 60 Jahren festgesetzt, was angemessen erschien, da das durchschnittliche Erwerbsaustrittsalter in Deutschland zum Zeitpunkt der Erhebung im Jahr 2009 bei 62,2 Jahren lag (Eurostat 2011).
Das vierte Lebensalter sollte aus der Untersuchung ausgeschlossen werden, da aufgrund körperlicher Einschränkungen und abnehmender Mobilität die Teilnahme am öffentlichen Leben häufig schwieriger ist und Lernen zunehmend „im eigenen Lebensraum“ stattfindet (Bubolz-Lutz 2004:4). Mit zunehmender Abhängigkeit von anderen Personen und verminderter Selbstständigkeit erlangen Faktoren eine Bedeutung, die in der Untersuchung nicht näher betrachtet werden sollten.
So wurde folgende Arbeitsdefinition als Grundlage formuliert: Wenn der Begriff „SeniorInnen“ verwendet wird, werden hierunter Menschen über 60 Jahren nach Abschluss der Berufs- bzw. Familienphase verstanden, sofern sie über so gute körperliche und geistige Ressourcen verfügen, dass sie nicht auf Hilfe zur Bewältigung des Alltags angewiesen sind. Zur besseren Handhabbarkeit für die empirische Untersuchung wurde eine obere Altersgrenze von 85 Jahren festgelegt.
Der Begriff SeniorInnen wurde gewählt, da er vom Wortstamm her zunächst neutral und wenig stigmatisierend (lat. senior: älter) ist und gegenüber vielen anderen Begriffen den Vorteil einer guten Lesbarkeit trotz grammatikalischer Angleichungen hat. Gleichwohl ist bekannt, dass einige ältere Menschen sich mit diesem Begriff wenig identifizieren oder ihn ablehnen.
Kulturelle Bildungsangebote
In der Literatur lässt sich keine allgemeingültige Definition Kultureller Bildung ausmachen. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass sich der Kulturbegriff historisch gewandelt hat und eine Pluralität des Begriffs existiert (vgl.Fuchs 2008b). Kulturelle Bildung ist ein Sammelbegriff unterschiedlicher Sparten, Kontexte und Anbieter. So umfasst der Begriff Kulturelle Bildung unter anderem die musikalische, theatrale, literarische und bildend-künstlerische Bildung sowie die ästhetische, musische und soziokulturelle Bildung (ebd. 2009:8ff.). Zudem werden Diskurse über den Kulturbegriff in verschiedenen Disziplinen geführt: in der Philosophie, Soziologie, Kulturwissenschaft, Kulturwirtschaft, der Kulturpädagogik oder der Ethnologie (zur Übersicht der Kulturbegriffe aus Perspektive verschiedener Disziplinen vgl. ebd. 2008). Insbesondere die Sicht der Kulturpädagogik als erziehungswissenschaftliche Disziplin ist in diesem Zusammenhang von Interesse.
Indem der Mensch sich, seine Umwelt und die Gesellschaft reflektiert, entwickelt er die Fähigkeit zu kultureller Teilhabe, die sich positiv auf die gesellschaftliche Teilhabe auswirkt. Damit ist Kulturelle Bildung Teil von Allgemeinbildung. Diese Auseinandersetzung geschieht im „Medium der Künste und ihrer Hervorbringungen“ (Ermert 2009). Dies können zum Beispiel Literatur, Theaterstücke oder Gemälde sein.
Kulturelle Bildungsarbeit hat die gleichen Ziele wie allgemeine Bildungsarbeit, strebt diese aber durch den Einsatz „künstlerische[r] Methoden und Arbeitsformen“ an (Fuchs 1994:37). Im Kinder- und Jugendplan werden einige Bereiche dieser Arbeitsformen benannt: Bildende Kunst, Film, Fotografie, Literatur, elektronische Medien, Musik, Rhythmik, Spiel, Tanz, Theater, Video u.a. (BMFSFJ 2009:786). So gibt es innerhalb der allgemeinen Kulturpädagogik spezielle Formen: Theaterpädagogik, Spielpädagogik, Musikpädagogik, Tanzpädagogik, Rhythmikpädagogik, Literaturpädagogik, Medienpädagogik oder Kunstpädagogik (Fuchs 2008b:169).
Künstlerische Arbeitsformen umfassen zweierlei: die eigene kulturelle Aktivität sowie die Reflexion über künstlerische Ausdrucksformen (Stang 2003:10). Es geht zum einen um das eigene Tun, zum anderen um die Auseinandersetzung mit Kunst und Kultur. Diese Unterscheidung spiegelt die Differenzierung „Bildung in den Künsten“ und „Bildung durch die Künste“ nach Anne Bamford (2010:94) wider. „Bildung in den Künsten“ bezeichnet den Kompetenzerwerb zum Verständnis und zur Ausübung künstlerischer Tätigkeiten in den verschiedenen Kunstsparten. „Bildung durch die Künste“ ist die Beschäftigung mit künstlerischen Inhalten und deren Aussagen über die Welt.
Den Definitionen Kultureller Bildung liegen weite bzw. enge Kulturbegriffe zugrunde. Weite Kulturbegriffe umfassen gesellschaftliche Erscheinungen, Verhaltensmuster, Wertvorstellungen, Normen. Kultur im engeren Sinn wird verstanden als die Künste und ihre Vermittlungsstrukturen. Die Übergänge sind dabei fließend (Ermert 2009). Wenn Kultur als ein Angebotsfeld der Weiterbildung betrachtet wird, wird sie oft pragmatisch in einem engeren Sinne verstanden. Gegenstände eines weiten Kulturverständnisses wie Gesundheit, Erziehung oder Fremdsprachen werden meist nicht im Fachbereich Kultur geführt (Schlutz 2010:22f.).
Inhalte kultureller Erwachsenenbildung hängen – wie auch bei der kulturellen Kinder- und Jugendbildung – vom jeweils engen oder weiten Kulturverständnis ab. In der Volkshochschul-Statistik wird beispielsweise nicht der Begriff der Kulturellen Bildung verwendet, der Fachbereich wird „Kultur – Gestalten“ genannt. In den Erläuterungen zur Volkshochschul-Statistik findet man Hinweise auf das zugrunde gelegte Verständnis von Kultur. Unter den Fachbereich „Kultur – Gestalten“ werden folgende Inhalte gefasst: Literatur/Theater, Theaterarbeit/Sprecherziehung, Kunst/Kulturgeschichte, Bildende Kunst, Malen/Zeichnen/Drucktechniken, Plastisches Gestalten, Musik, Musikalische Praxis, Tanz, Medien, Medienpraxis, Werken, Textiles Gestalten, Textilkunde/Mode/Nähen. Es handelt sich also um ein enges Kulturverständnis, denn in erster Linie werden Kunstformen, Kulturtechniken und Kunsthandwerk aufgeführt. Sobald gesellschaftliche Aspekte in den Vordergrund rücken, werden die Angebote unter dem Programmbereich „Politik – Gesellschaft – Umwelt“ geführt (DIE o.J.:6).
Als Grundlage wurde folgende Arbeitsdefinition formuliert: Wenn in der Untersuchung von kulturellen Bildungsangeboten für SeniorInnen gesprochen wird, werden hierunter Angebote verstanden,
- die im Ausschreibungstext darauf hinweisen, dass sie sich ausdrücklich und ausschließlich an SeniorInnen in altershomogenen Gruppen richten, dass die Teilnehmenden selbsttätig-kreativ partizipieren und in erster Linie Kompetenzen zum Verständnis und zur Ausübung künstlerischer Tätigkeiten erwerben sollen (Bildung in den Künsten),
- die einen engen Kulturbegriff mit Beschränkung auf die Kunstsparten Musik, Theater, Tanz, Literatur, Medien oder Bildende Kunst zugrunde legen,
- die in einer Organisation durch eine Lehrperson angeleitet werden und nicht zu einem formalen Bildungsabschluss führen (non-formales Lernen).
Bedürfnisse
Mit dem Begriff der Bedürfnisse orientierte sich die Untersuchung an den Teilnehmenden bzw. der Zielgruppe. Zielgruppenorientierung als didaktische Planung bzw. Teilnehmerorientierung als didaktisches Handeln hat zum Ziel, dass sich die Teilnehmenden selbst in den Lernprozess einbringen können. Voraussetzung hierfür ist es, sie ernst zu nehmen und ihre Bedürfnisse zu kennen (Siebert 2009:108). Ein Bedürfnis ist „ein Antriebsmoment, das in der Identität, der Trieb- und Motivationsstruktur des Menschen verankert ist“ (Schlutz 2006:41). Mit dem subjektiven Begriff „Bedürfnis“ wurden die Teilnehmenden in den Fokus gerückt. „Der Begriff TNO [Teilnehmerorientierung, Anm. K. d. G.] beinhaltet Erwartungen und Unterstellungen über das, was ein/e Teilnehmer/in will und kann“ (Siebert 2009:108). Damit erteilt Siebert den Lehrenden die Aufgabe, sich ein Urteil über die Lernenden zu machen. In dem Forschungsprojekt sollten die SeniorInnen selbst darüber Auskunft geben, was sie wollen, können und erwarten.
Ihre Bedürfnisse wurden bezüglich des Lernens (Lernanlässe, Lernziele, Lernprozess), des Lehrens (Planung, Durchführung, Evaluation) sowie der Kompetenzanforderungen (inhaltlich, pädagogisch, fachlich), die sie an Lehrende stellen, betrachtet.
Vorgehensweise der Erhebung
Um Antworten auf die Forschungsfrage zu finden, wurde eine Befragung durchgeführt. Als Erhebungsmethode wurde ein qualitativer Zugang über das leitfadenorientierte Experteninterview gewählt (Gläser/Laudel 2004). Hauptgrund für diese Methode bestand darin, dass das Themenfeld bislang wenig systematisch erforscht worden ist. Das Experteninterview ist eine weiche Erhebungsmethode, über die ein erster Feldzugang angestrebt wurde und die Voraussetzungen für eine Strukturierung des Felds liefern sollte. Statistikbasierte Erklärungsstrategien erschienen für die Forschungsfrage nicht geeignet, da eben die Grundlagen für die Konstruktion einer solchen Untersuchung nicht existierten.
Das Untersuchungsfeld umfasst kulturelle Bildungsangebote für Ältere. Aus dem breiten Feld dieser Bildungslandschaft (vgl. de Groote/Nebauer 2008) wurden konkrete Angebote ausgewählt, die als Fälle in der Befragung untersucht wurden. Anhand der Aussagen zu einem konkreten Angebot in der Vergangenheit sollten die Bedürfnisse von SeniorInnen in kulturellen Bildungsangeboten herausgearbeitet werden. Von der Thematisierung eines konkreten Bildungsangebots sollte die Wahrscheinlichkeit erhöht werden, dass sich die Befragten an ganz bestimmte Situationen erinnern, diese aus ihrer Sicht rekonstruieren, analysieren und hieraus Schlussfolgerungen ziehen, sodass die gestellten Fragen nicht zu abstrakt, sondern konkret zu beantworten waren.
Als ExpertInnen wurden sowohl SeniorInnen, die an mindestens einem kulturellen Bildungsangebot für ihre Zielgruppe teilgenommen haben, als auch DozentInnen solcher Angebote recherchiert. Die älteren Teilnehmenden konnten in den Interviews ihre Sichtweise erläutern, erlebte Situationen reflektieren und interpretieren. Die Interviews mit ihnen waren zentral, da die subjektiven Bedürfnisse herausgestellt werden sollten. Die DozentInnen konnten zwar keine validen Aussagen über die Bedürfnisse der Älteren treffen, dennoch verfügen sie über ein Kontextwissen über die Zielgruppe und kulturelle Bildungsangebote. Sie konnten das Wissen ihrer Profession und mit ihrer Erfahrung deuten und somit Hinweise geben, welche Aspekte in kulturellen Bildungsangeboten für SeniorInnen von Bedeutung sein könnten, die wiederum in den Interviews mit den Älteren aufgegriffen werden konnten.
Um möglichst verschiedene Einflussfaktoren bei den Antworten zulassen zu können, wurden die ExpertInnen auf Grundlage des Forschungsstands gestreut. In der Stichprobe der SeniorInnen wurden Typen mit den Variablen Geschlecht, Alter und Institution, in der sie ein kulturelles Bildungsangebot besucht haben, gebildet. Die DozentInnen wurden nach den Feldern differenziert, in denen sie tätig sind: Soziales und Gemeinwesen, Kunst und Kultur sowie (Erwachsenen-)Bildung (vgl. ebd.). Zudem sollten bei beiden Gruppen die verschiedenen Kunstsparten Musik, Tanz, (Tanz-)Theater, Medien, Literatur und Bildende Kunst vertreten sein. Ziel dieser Streuungen war es, verschiedene Bereiche und möglichst verschiedene Motive und/oder Interessen abzudecken. Die Auswertung zielte nicht auf eine Gegenüberstellung der Bereiche oder Typen, da eine qualitative Befragung dies nicht leisten kann. Befragt wurden zwölf SeniorInnen sowie sechs DozentInnen.
Zur Datenaufbereitung wurden die Interviews digital aufgenommen und wortgetreu transkribiert. Die Auswertung des entstandenen Materials erfolgte durch die qualitativen Techniken Zusammenfassung und Strukturierung – Techniken der qualitativen Inhaltsanalyse nach Philipp Mayring (2008:559ff.). Vorteil dieser Auswertungsmethode ist, dass der Kontext von Textbestandteilen einbezogen werden kann, dass latente Sinnstrukturen gedeutet werden können, markante Einzelfälle analysiert werden können und „das, was im Text nicht vorkommt“, berücksichtigt werden kann (Mayring 2002:114). Relevante Textstellen wurden paraphrasiert, interpretiert, generalisiert und reduziert. Welche Textstellen dies sind, wurde durch sinnerfassendes Lesen, Zergliederung des Textes nach Sinnabschnitten, Kodierung und Auswahl von Textstellen bestimmt (Nuissl 2010:90). Anhand weiterer Textstellen im Material wurden die Aussagen überprüft.
Durch Konstruktion und Einsatz von Interviewleitfäden sowie durch die Thematisierung ähnlicher Gegenstände wurde bei der Auswertung der Interviews eine Kategorisierung der Antworten angestrebt. Durch theoretische Überlegungen wurde deduktiv ein erstes Kategoriensystem entwickelt, das den Interviewleitfäden zugrunde lag. Bei der ersten Kodierung von Textstellen wurden Kategorien teilweise überarbeitet und aus dem Material heraus induktiv weitere Kategorien erstellt und vorhandene verändert. Mithilfe von weiterem Material wurden die Kategorien rückgekoppelt und überarbeitet, bis das Kategoriensystem gesättigt war, anhand dessen die Auswertung der Interviews vorgenommen und die Forschungsfrage beantwortet wurde.
Ergebnisse und Implikationen – Konsequenzen für die Didaktik, die Professionalisierung und die Wissenschaft
Didaktik
Die Ergebnisse der Untersuchung bieten viele Ansätze, die auf einer makro- und einer mikrodidaktischen Ebene aufgegriffen werden können: Auf einer makrodidaktischen Ebene wurde beispielsweise herausgestellt, welche Aspekte eine Rolle spielen, um ältere Teilnehmende für kulturelle Bildungsangebote zu gewinnen. Bildungseinrichtungen sind bemüht, mit ihren Angeboten, Themen und Ausschreibungstexten neben einer gesellschaftlichen Bildungsaufgabe auch das Interesse von potenziellen Teilnehmenden anzusprechen. Aber allein ein interessantes Programm reicht nicht aus, um bei Erwachsenen bzw. SeniorInnen den Impuls auszulösen, daran auch teilzunehmen. Die Anbieter befinden sich in einer Suchbewegung, den Lernbedürfnissen potenzieller Teilnehmender gerecht zu werden. Auch die potenziellen Teilnehmenden befinden sich in einer Suchbewegung, wenn sie ein Bedürfnis nach Weiterbildung haben. Erst wenn die Suchbewegung der potenziellen Teilnehmenden auf die der Anbietenden trifft, kommt es zur Teilnahme an einem kulturellen Bildungsangebot (vgl. Tietgens 1982:127f.).
Diesbezüglich wurde deutlich, dass die Suchbewegung der Anbietenden nach Teilnehmenden eine größere Rolle spielt als die Suchbewegung der SeniorInnen nach einem passenden Angebot. Beispielsweise kann die Information über ein Angebot ein Bildungsbedürfnis bei SeniorInnen hervorrufen. Keine und keiner der Befragten hat zunächst ein bewusstes Bildungsbedürfnis gehabt (zum Beispiel: Ich möchte Malen lernen) und dann nach etwas Passendem gesucht, sondern die Information über ein Angebot hat ein Bedürfnis geweckt und dazu angeregt, zum Beispiel Aktivitäten, die aufgrund familiärer oder beruflicher Verpflichtungen aufgegeben werden mussten, nun im Alter wieder aufzunehmen. Anbieter können demnach Bildungsbedürfnisse wecken. Hier liegt sicher ein Unterschied zu anderen Themen der Bildung für Ältere vor, denn in anderen Bereichen kann es eher erforderlich sein, ein Angebot zu suchen. Wenn zum Beispiel jemand von seinem Arzt empfohlen bekommt, ein Angebot zur Gesundheitsbildung wahrzunehmen, kann ein manifestes Bildungsbedürfnis vorliegen, aufgrund dessen man sich auf die konkrete Suche begibt.
Die Beratung spielte bei den befragten SeniorInnen eine geringe bis keine Rolle. Keine bzw. keiner hat sich im Vorfeld extern beraten lassen. Hier könnten Anbieter offensivere Beratungen anbieten, denn eine transparente Weiterbildungslandschaft erleichtert den Zugang zu einem Angebot.
Diese zwei Aspekte bestätigen, dass sich die Bewerbung und Vermarktung von Angeboten lohnt. Wenn Anbieter in ihrer Suchbewegung nach potenziellen Teilnehmenden diese Aspekte berücksichtigen, gehen sie auf die Bedürfnisse der Zielgruppe ein, und ein Zusammentreffen der Suchbewegungen wird wahrscheinlicher, zum Beispiel durch das Aufgreifen von Motiven oder Kriterien zur Auswahl eines Angebots sowie die Verwendung eines attraktiven Titels, der den Bedürfnissen von SeniorInnen gerecht wird.
Viele der befragten SeniorInnen haben das Bedürfnis nach altershomogenen Angeboten geäußert, aber auch Vorzüge altersheterogener Gruppen genannt. Wenn man weitere SeniorInnen befragen würde, würden wahrscheinlich auch weitere Argumente für altersheterogene Angeboten deutlich. Für die praktische Bildungsarbeit wurde deutlich, dass beide Angebotsformate ihre Berechtigung haben und parallel existieren sollten.
Auf einer mikrodidaktischen Ebene ist es von Bedeutung, die Bedürfnisse, wie den Wunsch nach Mitbestimmung, zu berücksichtigen und die Inhalte an den Interessen der heutigen SeniorInnen auszurichten. Sie nehmen freiwillig an diesen Bildungsangeboten teil. Wenn ihre Bedürfnisse nicht berücksichtigt werden, gibt es keinen Grund, weiterhin teilzunehmen.
Vielfach wird ein biografischer Bezug von Seiten der Altersbildung postuliert. Dieser wurde auch in den durchgeführten Interviews genannt. Doch sind viele Ältere auch neugierig, wollen etwas Neues lernen und haben den Wunsch nach völlig neuen Erfahrungen. Zudem sehen die befragten Teilnehmenden die Kulturelle Bildung als Möglichkeit, kognitiv gefordert zu werden. Im Alltag werden sie nicht mehr gefordert, haben aber dieses Bedürfnis. So stellen sie hohe Ansprüche an die kulturelle Aktivität, was unter Umständen auch damit zusammenhängt, dass sie aufgrund ihres Alters viele Vorerfahrungen einbringen können und ggf. sogar länger als die DozentInnen in dieser Kunstsparte aktiv sind.
Darüber hinaus stellen die SeniorInnen mit zunehmendem Alter Veränderungen und Einschränkungen an sich fest, die sich nicht nur auf den Lernprozess auswirken, sondern die auch didaktisch zu berücksichtigen sind. Diese sind einerseits positiv, wenn zum Beispiel eine größere Disziplin als bei Kindern erkannt wird. Veränderungen im Alter können andererseits aber auch negativ sein, wenn zum Beispiel Konzentrationsschwierigkeiten festgestellt werden – wie es auch Studien der Gerontologie und Geragogik bestätigen (vgl. Sommer/Künemund/Kohli 2004:18). DozentInnen der Kulturellen Bildung stehen dann vor der Aufgabe, die Teilnehmenden zu fordern, aber nicht zu überfordern. Andere Einschränkungen beziehen sich auf körperliche Beeinträchtigungen, die die Ausübung einer kulturellen Aktivität behindern können, wenn zum Beispiel die Folgen von Arthrose das Führen eines Pinsels beeinträchtigen. Diese Einschränkungen können zwar nicht ausgeglichen werden, doch können Prioritäten verlagert werden: Die Teilnehmenden stellen zum Beispiel nicht mehr das Ergebnis einer Malerei im Vordergrund, sondern die Freude am Malen. Einschränkungen können kompensiert werden, indem die SeniorInnen sich von DozentInnen stärker helfen lassen. Andere Einschränkungen, wie die nachlassende Konzentrationsfähigkeit, machen mehr Übung und mehr Zeit für den Lehr-/Lernprozess erforderlich. Auch wenn Kulturelle Bildung von einigen Befragten eher als Freizeitbeschäftigung gesehen wird, wird Lernen dennoch als positiver Nebeneffekt registriert.
Interessant ist auch, dass für einige der befragten SeniorInnen die Präsentation von Produkten in den kulturellen Bildungsangeboten von Bedeutung ist, also zum Beispiel die Aufführung eines erarbeiteten Tanztheaterstücks oder die Erstellung eines Buchs. Kulturelle Bildungsangebote eignen sich zur Schaffung von solchen Produkten. Diese Produkte haben für die befragten SeniorInnen einen persönlichen Wert, dem teilweise gerade mit zunehmendem Alter eine Bedeutung zugeschrieben wird. Die Präsentation motiviert sie zu mehr Ernsthaftigkeit und Leistung, was im Alter häufig nicht mehr gefordert wird. Sie stärkt das Gemeinschaftsgefüge und das Selbstwertgefühl. Durch die Rückmeldung von anderen Personen zu den Produkten steigt diese Bedeutung noch, da hierdurch der Erfolg des Lehr-/Lernprozesses bestätigt wird. Die SeniorInnen stellen aber auch Ansprüche an die Produkte und ihre Präsentation: Sie möchten hochwertige künstlerische Produkte erzeugen und distanzieren sich damit von Bastelangeboten ohne Bildungsanspruch. Auf mikrodidaktischer Ebene bedeutet das, dass es wichtig sein kann, auf ein Ziel hinzuarbeiten und dass Möglichkeiten für die Präsentation der Ergebnisse geschaffen werden.
Professionalisierung
In der Kulturellen Bildung sind unterschiedliche Professionen tätig, zum Beispiel MuseumspädagogInnen, MedienpädagogInnen, TheaterpädagogInnen, MusikpädagogInnen und viele andere mehr, denn der Begriff KulturpädagogInnen ist nicht geschützt. Die Ergebnisse der Befragung können in die Professionalisierung und Qualifizierung von diesen verschiedenen Lehrenden in der Kulturellen Bildung einfließen, um die Angebote auf mikro- und makrodidaktischer Ebene besser an den Bedürfnissen von SeniorInnen auszurichten. Einer der befragten DozentInnen erzählte beispielsweise, dass er in seinem Musikstudium keine Kenntnisse zum Singen im Alter erworben hat. Schwerpunkt lag auf der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Durch Beobachtung hat er sich über viele Jahre selbst damit auseinandergesetzt, wie sich die Stimme verändert, zum Beispiel das Nachlassen der Stimmkraft, das Nachlassen der Tiefe der männlichen bzw. der Höhe der weiblichen Stimme. Das ist natürlich sehr mühsam. Wenn man solche Themen in die Studiengänge aufnehmen würde, müssten viele Erfahrungen nicht jedes Mal von Neuem gemacht werden und die pädagogische Arbeit könnte von vornherein professioneller gestaltet werden.
Mit den Weiterbildungen „Kulturgeragogik“ und „Musikgeragogik“ an der Fachhochschule Münster in Zusammenarbeit mit dem Kompetenzzentrum für Kultur und Bildung im Alter (kubia) im ibk, der Weiterbildung „Kunstgeragogik“ an der Bundesakademie Wolfenbüttel sowie der „Weiterbildung zur künstlerischen Betreuungskraft“ des International Institute for Subjective Experience and Research sind erste Schritte der Professionalisierung für die Kulturelle Bildung für Ältere gemacht worden. Es gilt, diese angesichts der demografischen Entwicklungen weiterzuentwickeln, zu stärken und langfristig in grundständige Studiengänge zu integrieren. Kulturpädagogische Einrichtungen, die ihre Angebote bislang auf Kinder und Jugendliche fokussieren, können von kulturgeragogischem Wissen profitieren. Hierdurch könnte die Teilhabe von SeniorInnen erhöht werden, die pädagogische Tätigkeit verbessert und Lernprozesse könnten effektiver werden.
Wissenschaft
Kulturelle Bildung ist aus der Kinder- und Jugendbildung heraus entstanden und auch heute liegt Schwerpunkt in der Wissenschaft noch auf jüngeren Zielgruppen. Derzeit wird an der Fachhochschule Münster ein „Masterstudiengang Kulturgeragogik“ entwickelt. Dieser wird eine wichtige Grundlage für die Weiterentwicklung und Stärkung der wissenschaftlichen Disziplin Kulturgeragogik bilden. Für AbsolventInnen bzw. Promovierende ergeben sich noch viele offene Forschungsfragen, die sich auch aus der dargestellten Untersuchung ableiten lassen.
Bei der dargestellten Untersuchung handelt es sich um eine qualitative Befragung mit einer relativ kleinen Fallzahl. Ziel war es, Handlungsmuster zu identifizieren und eine Theorie zu generieren, die in folgenden (quantitativen) Untersuchungen überprüft oder vertieft werden können. Es werden beispielsweise sehr viele Motive genannt, an kulturellen Bildungsangeboten teilzunehmen. Über die Prioritäten der Motive kann keine Aussage getroffen werden. Viele der Motive spiegeln sich bei den Bedürfnissen an anderer Stelle wider, wie zum Beispiel das Motiv nach sozialen Kontakten, deren Bedeutung im Lehr-/Lernprozess ebenfalls beschrieben wird. Interessant wäre, welche Motive die größte Bedeutung haben, um diese besonders im Lehr-/Lernprozess aufzugreifen. Zudem könnten mit größeren Fallzahlen auch Unterschiede in den Kunstsparten herausgestellt werden. Eine These lautet, dass es in Zusammenhang mit der Kunstsparte steht, ob SeniorInnen lieber Kurse mit jüngeren oder etwa gleichaltrigen Lehrenden besuchen. Bei Angeboten in den Bereichen Tanz und Theaterspielen scheinen jüngere DozentInnen keine Rolle zu spielen, bei Angeboten der Medienbildung werden sie sogar erwartet. Schreibkurse werden hingegen präferiert, wenn Lehrende älter bzw. in etwa gleichaltrig sind, da sie oder er über mehr Lebenserfahrung verfügt und so niedergeschriebene Geschichten oder Emotionen besser nachvollziehen kann.
Interessant wäre auch herauszufinden, ob es Unterschiede bezogen auf die verschiedenen Kunstsparten gibt. Kulturelle Bildung umfasst vielfältige Aktivitäten: Tanzen, Malen, Musizieren, Gestalten, Theaterspielen und vieles mehr. Es wird vermutet, dass beispielsweise Wirkungen Kultureller Bildung auch aufgrund der unterschiedlichen Handlungs- und Wahrnehmungslogiken der Künste nicht pauschal, sondern spezifisch für einzelne Künste untersucht werden müssten (Ermert 2011:22; Liebau 2010:14). So gibt es auch unterschiedliche didaktische Herangehensweisen der einzelnen Künste, die es im Einzelnen für den Umgang mit SeniorInnen zu überprüfen gilt.
Die Interviews mit den Lehrenden wurden in der vorliegenden Untersuchung nur ergänzend geführt. Ihre konkreten Bedürfnisse genauer zu untersuchen, wäre ebenfalls von Interesse, um deren persönliche Weiterbildungsbedürfnisse im Umgang mit einer älteren Zielgruppe zu untersuchen. Mit solchen Erkenntnissen könnten Weiterbildungen mit dem Schwerpunkt „ältere Lernende“ konzipiert, an den Bedürfnissen der DozentInnen ausgerichtet und ihnen zugänglich gemacht werden. So äußerte ein Dozent zum Beispiel das Weiterbildungsbedürfnis, Strategien zu lernen, wie man mit Krisen aufgrund der älteren Teilnehmerschaft umgeht. Aus seiner Arbeit als Musiker ist er es bisher nicht gewohnt, in relativ kurzer Zeit mit vielen Todesfällen und damit Verlusten in seinem Chor umzugehen. Bei der Arbeit mit SeniorInnen werden Lehrende häufiger mit solchen Ereignissen konfrontiert. Zudem bemängelte er auch: Ihm fehlten nicht nur Kenntnisse über den Umgang mit der Stimme im Alter, sondern er bedauerte auch, dass entsprechende Fachliteratur noch nicht vorhanden ist, ebenso weist die Notenliteratur erhebliche Mängel auf. Die Verlage, die Noten für Seniorenchöre herausgeben, seien „auf dem Niveau von vor 15 Jahren“ (de Groote 2013:233). Hier würden noch zu viele Klischees vorherrschen, an welchen Liedern ältere Menschen Interesse haben. So füllen diese Notenbücher häufig ausschließlich Volkslieder, doch weiß der Dozent aus Erfahrung, dass solch eine Auswahl nicht immer gern angenommen wird. Derartige Bereiche spartenspezifisch zu vertiefen, könnte Lehrenden in der Kulturellen Bildung für Ältere von vornherein Sicherheit in ihrem Handeln geben. Wenn solche Weiterbildungsbedürfnisse oder Beratungsbedürfnisse bekannt wären, könnte sich die Erwachsenenbildung hiermit verstärkt auseinandersetzen.
Weitere Forschungsbedarfe ergeben sich aus der vorgenommenen Operationalisierung der Begrifflichkeit Kulturelle Bildungsangebote für SeniorInnen. Die Operationalisierung führte mit sich, dass bestimmte Aspekte nicht beleuchtet werden konnten, die jedoch in nachfolgenden Untersuchungen betrachtet werden könnten. Beispielsweise wurden ausschließlich SeniorInnenbefragt, die an altershomogenen Gruppen teilgenommen haben, in denen sie selbsttätig-kreativ, nicht rein rezeptiv tätig sind. Einzelangebote wurden vernachlässigt. Die Untersuchung von Angeboten, die diese anderen Aspekte berücksichtigen, führt möglicherweise zu anderen Motivlagen, zu Unterschieden im Lehr-/Lernprozess etc., die die Professionalisierung der jeweiligen DozentInnen wiederum vorantreiben würde.
Die befragten SeniorInnen beschreiben die DozentInnen als Anleitende, Unterstützende, Moderierende und Lernbegleitende. In den Interviews wurde der Fokus auf pädagogische Aspekte gelegt, da die Untersuchung aus Perspektive der Erwachsenenbildung vorgenommen wurde. Für die Qualität Kultureller Bildung ist sowohl eine pädagogische als auch eine ästhetische Qualität erforderlich (Liebau 2010:16). „[D]ie Vermittler müssen selbst entsprechende künstlerische Bildungsprozesse erfahren haben, um vermitteln zu können“ (ebd.) Lehrende in der Kulturellen Bildung fungieren als PädagogInnen, aber eben auch als KünstlerInnen. Eine Untersuchung mit dem Fokus auf die künstlerische Profession der Lehrenden in der Kulturellen Bildung für SeniorInnen würde über dieses Zusammenspiel Aufschluss geben und Hinweise auf Erfordernisse bezüglich der künstlerischen Qualität liefern.
Fazit
Für SeniorInnen bedeutet die Teilhabe an Kultureller Bildung, sich zu entfalten, ihre Persönlichkeit weiterzuentwickeln, und nicht sich zu liften, das Alter zu verdrängen oder gar die ewige Jugend anzustreben. Auch für die Gesellschaft sind „gerade die sozialen, kreativen und kommunikativen Potenziale der kulturellen Erwachsenenbildung [...] perspektivisch von großer und wachsender Bedeutung“ (Deutscher Bundestag 2007:400). Die Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ bemängelt, dass die deutsche Politik in erster Linie arbeitsmarkt- und berufsbezogene Bildung fördere (ebd.). Es gelte, die Kulturelle Bildung für Erwachsene sowie SeniorInnen weiterzuentwickeln (ebd.:224), die Qualität kultureller Erwachsenenbildung durch Aus- und Fortbildung sowie Zertifizierung der PädagogInnen zu sichern und eine Kulturpädagogik für Erwachsene an den Hochschulen zu verankern (ebd.:400).
Das Forschungsprojekt „Entfalten statt liften!“ ist als erster Schritt in diese Richtung zu verstehen. Mit der Kenntnis der Bedürfnisse von SeniorInnen können Anbietende Kultureller Bildung diese aufgreifen, ihr Angebot daran ausrichten, die pädagogische Tätigkeit verbessern und Lernprozesse könnten effektiver werden – im Endeffekt kann das auch die Teilnehmerzahlen erhöhen. Darüber hinaus kann ein Wissen darüber in die Professionalisierung von Lehrenden in der Kulturpädagogik einfließen, deren Studium bisher eher an der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen orientiert ist.