Durch Kunst Bewusstsein und partizipative Räume in Côte d’Ivoire schaffen
Die Rolle von Künstler*innen und Kulturvermittler*innen in gesellschaftlichen Transformationsprozessen in der Region Westafrikas – Beiträge eines Seminars am Institut für Kulturpolitik der Universität Hildesheim
Abstract
Die aktuellen innenpolitischen Entwicklungen in Côte d’Ivoire geben erstmals Aussicht auf die Lösung eines Konfliktes, dessen Wurzeln weit in der Vergangenheit zurückliegen. Der symbolische Händedruck im Juli 2021 zwischen Alassane Outtara und Laurent Gbagbo, die zwei politischen Figuren, die seit den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2000 um die Macht konkurrieren, lässt auf ein neues Kapitel der ivorischen Innenpolitik hoffen. Jedoch haben bereits die durch Outtaras Amtsübernahme im Jahr 2020 ausgelösten gewaltsamen Auseinandersetzungen gezeigt, dass der Friedensprozess noch äußerst fragil ist. Die Angst vor erneuten Spannungen ist groß, denn die Regierungskrisen im Jahr 2000 und 2010/2011 haben maßgebliche Risse in der Gesellschaft hinterlassen. Der Bildende Künstler Ange Arthur Koua interessiert sich dafür, wie Kunst und Kulturelle Bildung diesem Aussöhnungsprozess Rechnung tragen können. Sein künstlerisches Schaffen und seine Aktivitäten im Bereich der Vermittlung schaffen Räume für Teilhabe und kritisches Nachdenken. Im Interview erzählt er, was ihn bewegt und warum seines Erachtens, ein friedlicher Verlauf der politischen Geschehnisse in Côte d’Ivoire nicht weg von Kunst und Kulturelle Bildung zu denken ist.
Noch Ende Oktober 2020 hatten die kontrovers diskutierte Amtsübernahme durch Präsident Alassane Outtara und die damit zusammenhängenden Unruhen große Angst vor einer erneuten Regierungskrise in Côte d’Ivoire ausgelöst. Sowohl nach den Präsidentschaftswahlen von 2000 als auch von denjenigen des Jahres 2010 folgten gewaltsame Auseinandersetzungen, die mitunter zeitweise zu einer Zweiteilung des Landes zwischen Norden und Süden führten. Zehn Jahre nach der Regierungskrise von 2010/2011, im Anschluss welcher der ehemalige Staatchef Laurent Gbagbo wegen Verbrechen gegen die Menschheit angeklagt wurde, zeichnet seine Rückkehr aus dem Exil nach dem Freispruch des Internationalen Streitgerichtshofes ein neues politisches Szenario. Der symbolische Händedruck zwischen Outtara und Gbagbo am 27. Juli 2021 lässt auf den Beginn eines Dialogs hoffen, doch wie Wendyam Hervé Lankoandé hingegen unterstreicht, stellt diese Annäherung noch keine Lösung des Konfliktes dar, solange die strukturellen Gründe der Gewalt nicht angegangen werden (vgl. Wendyam Hervé Lankoandé 2021).
Im Rahmen dieses Artikels soll erkundet werden, welche Rolle die Kulturarbeit im Hinblick auf die Förderung eines gesellschaftlichen Aussöhnungsprozesses in Côte d’Ivoire einnehmen kann. Zu diesem Zweck wird auf der Grundlage eines halbstrukturierten Interviews das künstlerische Schaffen des in Abidjan ansässigen Künstlers Ange Arthur Koua beleuchtet. Seine Werke und sein Engagement als Kulturvermittler eröffnen eine neue Perspektive auf die gesellschaftliche Rolle von Kunst und Kultur.
Ein kollektives Bewusstsein fördern
Murales, Porträts, Skulpturen, Jeans-Leinwände: Ange Arthur Kouas Werke sind so vielfältig. A.A. Koua ist Bildender Künstler, Kunstlehrer und Kulturvermittler. Für ihn sind diese Tätigkeiten unmittelbar miteinander verbunden. Ihm geht es darum, mit seinem Schaffen etwas zu bewirken: „Ich wüsste nicht meine Arbeit mit Worten zu beschreiben, aber ich bin jemand, der Kunst nutzen möchte, um Dinge zu verändern.“
Besonders kennzeichnend für die Kunst A.A. Kouas sind die großflächigen Leinwände aus Jeansstoff (Abb.:1). Der Künstler sammelt benutzte Jeans, schneidet, (ent)färbt, malt und näht diese aneinander. Daraus entstehen riesige Bilder, auf denen eine oder mehrere Figuren erkennbar sind.
Basierend auf dem Glauben der Akan, einem indigenen Volk östlich der Côte d’Ivoire, versteht A.A. Koua Textilien als lebendige Objekte. Bekleidungsstücke eines Verstorbenen werden unter den Akan entweder irgendwo aufbewahrt, wo sie nicht mehr berührt werden können oder verbrannt, weil geglaubt wird, dass die Seele in dem Textil gefangen bleibt und darin weiterlebt. Die Vorstellung ist also, dass Textilien nicht bloß als fremder Gegenstand auf dem Körper liegen, sondern im Laufe des Lebens Eins mit ihm werden.
Seine Vorliebe für Textilien richtet sich vor allem an Jeans, weil für ihn der Jeansstoff wie eine Art Gedächtnis funktioniert: Er absorbiert sowohl von außen als auch von innen und ist sehr widerstandsfähig. Aufgrund dieser Eigenschaften ist der Jeansstoff ursprünglich als Arbeitshose in Umlauf gebracht worden. Inzwischen ist es einer der populärsten Textilstoffe weltweit.
Im Interview erzählt A.A. Koua von einem Vorfall während einer seiner Ausstellungen. Einem Mann in Arbeitsbekleidung, der sich in die Ausstellung begeben wollte, sei aufgrund der verschmutzten Bekleidung der Eintritt in die Galerie verweigert worden. Der Künstler habe von dem Vorfall mit großer Enttäuschung im Nachhinein erfahren.
Durch seine Leinwände aus Jeansstoff möchte A.A. Koua auch einen Zugang für diejenigen schaffen, die sonst nicht vor Ort sind. Für ihn steht der Jeansstoff für Freiheit – die Fähigkeit soziale, physische und nationale Grenzen zu überwinden. Indem er verschiedene Jeansstoffe aneinandernäht, stellt A.A. Koua Verbindungen zwischen den Leben und den Erfahrungen verschiedener Menschen her. Seine Werke sensibilisieren für ein kollektives Bewusstsein und für eine Selbstwahrnehmung ausgehend von zwischenmenschlichen Beziehungen.
Ein weiteres Kunstwerk von A.A. Koua soll im Folgenden betrachtet werden. Es handelt sich um eine Reihe von Porträts, die im Rahmen der Ausstellung MANsonge in der Galerie Loui Simone Guirandou in Abidjan präsentiert wurden.
MANsonge, der Name der Ausstellung, die A.A. Koua zusammen mit Sess Esoh und Alberic Kouassi kuratiert hat, setzt sich aus zwei Wörtern zusammen: „MAN“, der Name eines Dorfes in der westlich-gelegenen Region Tonkpi, aus der eine besondere Maskenästhetik stammt, die als Inspiration für die westlichen künstlerischen Strömungen des Surrealismus und Expressionismus gedient hatte, und „songe“, was übersetzt die spirituelle Dimension bedeutet.
Masken sind traditionell keine künstlerischen Objekte, sondern spirituelle Entitäten, die eine präzise Funktion in der Gesellschaft ausüben. Mit der Kolonialisierung sind Praktiken und kosmologisches Wissen mit dem Erwerb der Masken verloren gegangen oder durch andere Objekte ersetzt worden. Die Ausstellung entstand deshalb vor dem Hintergrund einer Feldforschung in der Tonkpi Region, die zum Ziel hatte, die Herstellung der Masken näher zu erkunden. Dabei stellte sich heraus, dass an der Produktion einer Maske sehr viele Akteure beteiligt sind, die zu unterschiedlichen Zeiten und an unterschiedlichen Orten die Fertigung der Maske schrittweise vorantreiben. Die ursprüngliche Funktion der Masken spielte im Rahmen der Ausstellung weniger eine Rolle, als vielmehr die Frage, wie durch die künstlerische Perspektive die immaterielle Dimension von Masken im Hinblick auf die aktuelle Gesellschaft neu gedeutet werden kann.
In der Serie, die jeweils aus acht betitelten Reihen und zwei bis fünf nummerierte Bilder besteht, bildet A.A. Koua das Porträt verschiedener mythologischen Gestalten vor einem eintönigen Hintergrund ab. Alle Reihen tragen als Titel den nativen Namen der kosmologischen Figuren – mit Ausnahme von Einem. Das einzige Bild mit einer französischen Benennung trägt den Titel „L´africain d´aujourd´hui“ (übersetzt: „Der Afrikaner von heute“) (Abb.: 2). Geschnitzt auf der Stirn ist ein Auge zu erkennen.
Das Porträt macht deutlich, wie durch die künstlerische Perspektive, rituelle Objekte neue Bedeutung gewinnen: Sie stiften Identität jenseits nationaler Grenzen und ethnischer Unterschiede. Auch darin liegt für A.A. Koua die Relevanz einer Rückgabe der in der Kolonialzeit seitens der europäischen Kulturinstitutionen erworbenen Objekte, nicht in der Wiederherstellung ihrer ursprünglichen Funktion.
Die Ausstellung MANsonge befasste sich im weitesten Sinne mit der kulturellen Identität, ein Thema womit sich A.A. Koua oft beschäftigt und das nicht nur im postkolonialen Kontext von Bedeutung ist. Gerade vor dem Hintergrund des durch die ausgrenzende nationale Identitätspolitik des damaligen Präsidenten Henri Konan Bédié ausgelösten ethnischen Konfliktes, spielt die Auseinandersetzung mit der kulturellen Identität im Hinblick auf den Aussöhnungsprozess eine wichtige Rolle.
Partizipative Räume schaffen
Landesweit konzentrieren sich die kulturellen Strukturen in der Hauptstadt Abidjan. Aufgrund der prekären öffentlichen Förderung im Kulturbereich entscheiden privat finanzierte Kunstgalerien oft darüber, was als Kunst gilt und welche ästhetischen Formen gefördert werden sollen. Viele Künstler*innen würden wegen mangelnder Anerkennung ihren Beruf aufgeben, erklärt A.A. Koua.
Einen Auftrag für eine Ausstellung akzeptiert der Künstler mittlerweile nur unter der Bedingung, dass ihm künstlerische Freiheit gewährleistet wird: „Ich möchte keine Werke kreieren, weil ich dazu aufgefordert werde. Ich möchte Werke aus meinem Gefühl herausschaffen.“
In seiner Arbeit engagiert sich A.A. Koua vor allem für den Ausbau einer lokalen Kunstszene in Abobo, ein Viertel am Rande des Zentrums Abidjans, was auch als „Bagdad City“ bezeichnet wird. In diesem „hostilen“ Ort, wie A.A. Koua ihn beschreibt, ist der Künstler aufgewachsen. Dieser Ort hat ihn zur Kunst bewegt: „Ohne dieses Viertel wäre ich heute nicht Künstler.“ In Abobo hatte sich die Gewalt im Zuge der Regierungskrise von 2010 besonders dezidiert gezeigt, alleine aus diesem Viertel waren mehr als 200.000 Menschen geflohen.
Als Einwanderer*innenquartier bekannt, zeichnet sich Abobo durch eine verhältnismäßig geringe Alphabetisierungs- und Beschäftigungsrate im formellen Sektor aus. Der Mangel an Bildungseinrichtungen und die prekäre Infrastruktur stellen ein fruchtbares Terrain für politische Manipulation dar, wogegen laut A.A. Koua mit Kunst entgegengewirkt werden kann und soll: „Ich versuche mich dieser Bevölkerung anzunähern, damit sie versteht, dass es nicht nur um Politik geht […], sondern um viele Dinge, vor allem um die Selbstakzeptanz als Mensch. Wenn man sich selbst als Mensch akzeptiert, wenn man sich seines Potenzials bewusst ist, hat man meiner Meinung nach bereits einen großen Schritt für seine Umgebung, für sein Land getan.“
Durch künstlerische Interventionen im öffentlichen Raum und kulturbildende Aktivitäten, bemüht sich der Künstler, die Einwohner*innen für Kunst, als eine Form der gesellschaftlichen Teilhabe, der Kulturellen Bildung und der öffentlichen Repräsentation zu sensibilisieren.
Er möchte dadurch Abobo eine Stimme verleihen, die sich über das stereotypisierte Bild eines Armenviertels heraushebt und das gesellschaftliche Bewusstsein der Einwohner*innen stärkt: „Ich wollte, dass Abobo nicht mehr als dieser Ort wahrgenommen wird, in dem es nur Konflikte gibt, also begann ich in Abobo zu arbeiten, Aktivitäten zu unternehmen, die diesem Ort mehr oder weniger ein neues Bild verliehen haben.“
Damit schafft der Künstler neue Räume für die Kunstszene in Abidjan und leitet zugleich ein demokratisches, partizipatives und politisches Verständnis für Kunst ein: „Ich versuche immer die Leute dazu zu bringen, mir Fragen zu stellen, so dass, wenn ich antworte, eine kleine Debatte entsteht. Auf diese Weise tauschen wir uns über Ideen aus.“
„Kunst ist stärker als Politik"
In der kollektiven Vorstellung würde Kunst immer noch mit Malerei und Staffelei assoziiert werden. Seinen Schüler*innen vermittelt A.A. Koua eine Definition von Kunst, die über die künstlerische Technik hinausgeht: „Künstler ist nicht nur der, der zeichnet. Künstler ist derjenige, der eine Seele hat, der alles um sich herum verändern kann, unter anderem auf der Ebene der Gesten, der Mentalität.“ Er möchte Schüler*innen mit dem künstlerischen Prozess vertraut machen durch Ausstellungsbesuche, Lektüre und Referenzen. Ihm ist wichtig, dass die Schüler*innen Fragen stellen und durch den Unterricht ein Raum für Reflexion und Diskussion geschaffen wird.
In seinem Studium an der École Nationale des Beaux-Arts ist A.A. Koua mit den klassischen Kanonen der Ästhetik – „le Beau“ („Das Schöne“) – vertraut gemacht worden. Schon früh wusste er, dass es ihm durch seine Kunst wichtiger ist, diese Schönheitsideale zu hinterfragen, als ihnen zu entsprechen: „Kunst geht über das Ausstellen und die Befriedigung des Auges hinaus. Kunst ist für mich etwas sehr, sehr starkes.“
Die Dozent*innen und mehrere Galerien hielten noch am Anfang seines Werdeganges seine Werke für „unausstellbar“. Heute sind es hingegen dieselben Galerien, die seine Kunstwerke ausstellen. Für A.A. Koua ist Künstler zu sein weitaus mehr, als nur auszustellen und schöne Sachen zu schaffen: „Ich bin immer auf der Suche nach Dingen, die zum Hinterfragen bewegen, die tiefer in das Bewusstsein der Menschen eindringen.“
Wichtige Referenzen für den Künstler selbst sind der ghanaische Künstler Ibrahim Mahama und der ivorische Künstler Ernest Dükü. Beide beschäftigen sich mit der immateriellen Dimension der Objekte und mit dem „Verborgenen“ der Geschichte.
Das künstlerische Schaffen ist für A.A. Koua immer mit einer gesellschaftlichen Verantwortung verknüpft: „Kunst ist stärker als die Politik […] sie baut und sie zerstört, je nachdem wie sie genutzt wird.“
Er sieht in seiner künstlerischen und kulturvermittelnden Tätigkeit einen Weg, den Aussöhnungsprozess ausgehend von der Gesellschaft zu bewegen. Andere Künstler*innen möchte er auch dafür sensibilisieren, denn viele seien sich nicht darüber bewusst, wie stark ihre Arbeit eigentlich sei.
Zentral für A.A. Koua ist, durch die Kulturarbeit Menschen für ein kollektives Bewusstsein zu sensibilisieren, Räume des Dialogs und der gesellschaftlichen Teilhabe zu schaffen. Sowohl die Aufarbeitung des Konfliktes als auch die gesellschaftlichen Aussöhnungsprozesse werden es langfristig erfordern, dass gemeinsame Visionen in Bezug auf die kulturelle Identität und die Gesellschaft neu ausgehandelt werden. In diesem Sinne stellen Kunst und Kulturelle Bildung Wege dar, diese gesellschaftlichen Prozesse auch jenseits des politischen Willens zu fördern.