Drei Dimensionen Kultureller Bildung im Kontext von Fremdenfeindlichkeit

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von Dieter Kramer

Erscheinungsjahr: 2016

Antivölkisches und antirassistisches Grundwissen

Die „Allgemeine Erklärung zur kulturellen Vielfalt“ der 31. Generalkonferenz der UNESCO von 2001 „bekräftigt, dass Kultur als Gesamtheit der unverwechselbaren geistigen, materiellen, intellektuellen und emotionalen Eigenschaften angesehen werden sollte, die eine Gesellschaft oder eine soziale Gruppe kennzeichnen, und dass sie über Kunst und Literatur hinaus auch Lebensformen, Formen des Zusammenlebens, Wertesysteme, Traditionen und Überzeugungen umfasst“ (Röbke 1993:55). Diese Definition schließt Ethnizität als kulturelle Differenzierung ein.

Kultur ist dynamisch, sie verändert sich. Die Kultur, die man „hat“, ist im Prozess der eigenen Erziehung vermittelt worden, und man teilt sie in vieler Hinsicht mit anderen, die ähnliche Erfahrungen und Traditionen haben. „ Kulturen“ sind keine Subjekte. Deswegen darf man in der Kulturellen Bildung nie von einem Dialog der Kulturen sprechen – den gibt es nicht. Wenn man diese Formel verwendet, wird jedem aufgrund seiner „ethnischen“, „rassischen“, „nationalen“, „religiösen“ oder sonstigen Prägung ein entsprechendes Etikett zugeordnet: Du bist Moslem, oder Deutscher, und so weiter. Aber Menschen können vieles gleichzeitig sein, und nie sind sie unabänderlich in einem Käfig ihrer Prägungen und Vorurteile gefangen. Sie haben Spielräume und können diese nutzen. Es unterhalten sich nie Kulturen, sondern in einem interkulturellen Dialog (oder transkulturellen Gespräch) sind es immer Subjekte, Individuen, die in diesen Dialog eintreten, und ihr Verhalten ist nicht unabänderlich festgelegt.

Für Kulturelle Bildung ist ein „antirassistisches Grundwissen“, bezogen auf den Umgang mit verbreiteten nationalistischen (völkischen) und rassistischen Schlagwörtern und Klischees nützlich. Dazu ein Auszug aus einem Dokument, das 1999 zu Zeiten des Balkankriegs im Museum der Weltkulturen in Frankfurt am Main entstanden ist:

Kriege sind nicht ethnisch. Ethnos und Ethnizität im politischen Kontext aus der Sicht
der Ethnologen des Museums für Völkerkunde Frankfurt am Main (1999)

(Auszüge)

Alle Menschen sind Mitglieder einer spezifischen Gruppe, der eine bestimmte Lebensweise (Kultur) in facettenreichen Ausprägungen mehr oder weniger gemeinsam ist. Solche Gruppen werden als Ethnie oder Ethnos bezeichnet. Ihre jeweiligen Besonderheiten (auch ethnisch-kulturelle Identität genannt) gründen in historischen, geographischen und sozialen Rahmenbedingungen. Sie prägen sich aus in Sprache, Religion, Rechtsnormen, Werten, Standards und Symbolen. …

Ethnien sind nie homogene Gebilde. Die in ihnen lebenden Individuen haben je nach Geschlechts-, Klassen-, Schichten-, Altersgruppenzugehörigkeit stets je besondere Interessen und Motive. Diese Unterschiede bestimmen neben und mit der Zugehörigkeit zu ihrer Ethnie ihr Handeln. Es gibt daher auch keine homogenen ethnischen Gemeinschaften, mögen sie auch noch so klein sein. In allen gibt es koexistierende unterschiedliche kulturelle Ausprägungen z. B. der Altersgruppen, der Generationen, der Berufsgruppen oder anderer Subkulturen. Auch innerhalb vermeintlich einheitlicher Ethnien ist so die Herausforderung des Umgangs mit dem anderen beständig gegeben.

Es gibt folglich auch keine Reinheit für eine Ethnie, so wie es auch keinen Urzustand gibt, zu dem man zurückkehren könnte. Alle Ethnien und Kulturen unterliegen einem steten Wandel, wie auch Nationen sich kontinuierlich verändern. …

Unterschiedliche Ethnien, Kulturen und Religionsgemeinschaften haben in den gleichen Territorien bei funktionierender Staatsgewalt meist jahrhundertelang so produktiv miteinander gelebt, wie bei uns Katholiken, Lutheraner, Reformierte und Atheisten oder wie Preußen und Bayern.

Weil durch Arbeitsmigration, Vertreibungen oder Flucht Ethnien sich fortwährend verändern, gibt es auch keine Position „Zwischen den Kulturen“ oder „Zwischen den Stühlen“. Was entsteht, sind neue eigenständige Lebensformen, die weder mit der Herkunfts- noch mit der Gastgeberkultur deckungsgleich sind. Nicht eine rückhaltlose Integration ist das Ergebnis, sondern eine allmähliche Veränderung der Kultur, wie sie in allen Phasen auch der deutschen Geschichte immer wieder stattgefunden hat. Weil die kulturelle Spezifik und die Unterscheidung von den anderen dazu beiträgt, den Zusammenhalt von Gemeinschaften zu stärken, werden sie vielfach bewusst gefördert: „Identitätsmanagement“ und „Ethnopolitik“ sind Bezeichnungen für den Versuch, die Mitglieder einer Gemeinschaft auf sie einzuschwören („Dein Volk ist alles, Du bist nichts“ war die Formel der Nationalsozialisten dafür). Der Eindruck wird erweckt, diese Zugehörigkeit sei unabänderliches Schicksal, und die Gemeinschaft sei ein unveränderliches Gebilde, gegründet durch mythische Helden in grauer Vorzeit. Solche bewussten Konstruktionen unterschlagen, dass Ethnien veränderlich, vielgestaltig und mehrdeutig sind.

Eine bestimmte ethnische Gruppe zu bevorzugen und ihr eine besondere Reinheit, Auserwähltheit, Authentizität oder Sendung zuzuschreiben bedeutet in aller Regel, Privilegien für diese Gruppe durch Benachteiligung und Diskriminierung anderer zu gewinnen. …

<Ende des Dokumentes>

Gern wird in Kreisen der „Alternative für Deutschland“ (AfD) und in nationalkonservativen Kreisen heute von „dem Volk“ oder von „den Leuten“ gesprochen: Aber damit wird unterschlagen, dass es in der Bevölkerung sehr große Unterschiede gibt (was sich ja auch bei den Wahlen zeigt: Kaum mehr als 20 Prozent der WählerInnen optieren für die AfD).

Sich von der Suche nach einem National- oder Stammescharakter als vorgegebener Größe verabschiedend, hat der Historiker Franz Steinbach schon 1926 die Prozessualität und Geschichtlichkeit entsprechender Erscheinungen hervorgehoben. Er schreibt zu den „als deutsche Stämme bezeichneten Einheiten“, ausgehend von der Sprach- und Dialekt-Ebene:

„Unter der Lupe exakter Wissenschaft hatten sich die Dialektgrenzen schon lange in sehr bewegliche Wort- und Lautlinien aufgelöst. Das bedeutete nichts besonderes, wenigstens für die Historiker, solange die Erklärung dafür in autonomen Sprachgesetzen gefunden wurde. Erst als die Dialektgeographie einwandfrei dargetan hatte, dass die sprachliche Entwicklung abhängig ist von der Geschichte des Landes, dass die Sprache von den politischen, kirchlichen, wirtschaftlichen Schicksalen der Sprecher beeinflusst wird, musste der Historiker aufhorchen.“ (Steinbach 1926:5) „Kulturzentren, Lebensräume und Verkehrsströme späterer Zeit ersetzen schon heute <1926> mit Sicherheit für viele Erscheinungen des Sprachbildes der Gegenwart die Wanderungen und Siedlungen germanischer Stämme. Wo bisher durch gewaltsame Völkerverschiebungen einer dunklen Geschichtsperiode hergestellte Zustände vermutet wurden, sehen wir nun Wachstum und Bewegung bis in die Gegenwart.“ (ebd.:6)

Daher gibt weder in Thüringen noch in Sachsen oder sonst wo kein einheitliches „Volk“, auch keine einheitliche Kultur oder Religion: Wie in der Vergangenheit mit Hugenotten, niederländischen Glaubensflüchtlingen, polnischen Bergleuten, Vertriebenen des 2. Weltkrieges und vielen anderen, so bildet sich heute zusammen mit den Flüchtlingen und ZuwandererInnen jenes „Volk“, von dem als vielfältiges „Staatsvolk“ laut Grundgesetz alle Staatsgewalt ausgeht.

Es ist trotz aller Schwierigkeiten wichtig, in der Auseinandersetzung mit völkischem oder ethnischem und rassistischem Denken argumentieren zu können. Wenig bringt es, mit groben Vokabeln („Mob“, „Pack“, „Dummheit“, „Faschisten“ usf.) aufzutreten. Wichtiger ist es, auf die einschlägigen Schlagworte reagieren zu können. Udo Voigt, langjähriger NPD-Vorsitzender und Europa-Abgeordneter seiner Partei, spricht wie manche andere z.B. von „Überfremdung“ und unterstellt damit die Existenz eines „Nicht-Fremden“, eines „Eigenen“. Aber das zu definieren wird unmöglich, wenn man nicht auf rassistische oder wesensbezogene Konstrukte zurückgreifen will, für die es in der Realität keine Entsprechungen gibt. Alles „Eigene“ ist Produkt von Geschichte und Entwicklung. Voigts „weißes Europa“ schließt heute schon in Wirklichkeit jahrtausendlange „Vermischung“ ein. Wer von „Überfremdung“ spricht, den sollte man fragen, wie er denn das Eigene definiert, und dann kann man darauf hinweisen, dass auch dieses Eigene sich zusammensetzt aus vielen Komponenten unterschiedlicher Herkunft, die mehr oder weniger zufällig zustande gekommen sind. Daher sollte man auch aufhören, von „Wurzeln“ oder „Entwurzelung“ zu sprechen: In der Persönlichkeitsentwicklung spielen frühe Erfahrungen eine Rolle, aber sie werden immer überlagert von späteren, und erst die Summe dieser Erfahrungen macht die Persönlichkeit aus.

Hinter dem Wunsch nach Grenzschließung und Flüchtlingsabwehr steht der Traum von der immerwährenden Prosperität in der Wachstumsgesellschaft. „Ausländerstopp“ zu fordern geht an den Problemen der demografischen Entwicklung und der Arbeitsmarktsituation völlig vorbei: Wenn in Deutschland der ökonomische Wohlstand einer Exportnation gesichert und die Überalterung der Gesellschaft eingedämmt werden sollen, dann braucht das Land Zuwanderung. Mehr Kinder pro Familie reichen längst nicht aus (Kaufmann 2006).

Etwas anderes kommt hinzu: Durch globale Handelsbeziehungen, Waffenlieferungen und nicht zuletzt durch einen Lebensstil, der die Ressourcen der Erde verbraucht, tragen viele Menschen in den reichen Gesellschaften dazu bei, in ärmeren Ländern den Wunsch nach einem sichereren Leben durch Migration nach Europa zu wecken. Und Waffenexporte gehören zu den Kriegen, die Menschen zur Flucht zwingen. Diese Zusammenhänge darf man nicht ausblenden.

Die Atlantik-Charta von 1941 versprach den Völkern das Recht, selbstbestimmt zu leben, gleichzeitig aber auch offenen Welthandel. Aber das Leben in der Würde der eigenen Kultur und freier Handel vertragen sich nicht immer. Im Dokument über vertrauensbildende Maßnahmen der KSZE-Schlussakte von Helsinki zwischen Ost und West (OSZE-Verträge) vom August 1975 versprechen die Staaten, „dass ihr Handel mit den verschiedenen Waren auf eine solche Weise erfolgen soll, dass auf den Inlandsmärkten für solche Waren und insbesondere den inländischen Erzeugern gleichartiger oder unmittelbar konkurrierender Waren keine ernstliche Schädigung – gegebenenfalls eine Marktstörung bzw. Marktzerrüttung – entsteht oder zu entstehen droht“ (Gasteyger 2005:277). Der Bericht der Weltkommission für Kultur und Entwicklung von 1995 wertet die Vielfalt der Kulturen nicht nur als dekoratives Element, sondern als angesichts der „Unwägbarkeiten der Zukunft unverzichtbare Zukunftsressource“, die auch vor der Gefährdung durch entgrenzten Wettbewerb geschützt werden muss (Unsere kulturelle Vielfalt 1996/97). Entsprechend ist auch die das „Übereinkommen über den Schutz und die Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen“ der UNESCO vom 20. Oktober 2005 zu werten.

Aufklärung reicht nicht aus

„Ihr seid noch immer da! nein, das ist unerhört!
Verschwindet doch! Wir haben ja aufgeklärt! …
Wir sind so klug, und dennoch spukts in Tegel.“

Das sagt der Proktophantasmist in der Walpurgisnach im ersten Teil des Faust von J. W. v. Goethe, und er will damit dem Hexentreiben Einhalt gebieten. Das funktioniert nicht, Aufklärung allein hilft weder gegen Hexen damals noch gegen EsoterikerInnen und VerschwörungstheoretikerInnen heute. Sie hilft auch nicht gegen Rassismus, Antisemitismus oder Fremdenfeindlichkeit, denn die entstehen, wenn in Zeiten der Veränderung mit Vorurteilen und Klischees abschottende Fremd- und Feindbilder aufgebaut werden.

Eine so gewonnene scheinbare Sicherheit des Denkens geben die Individuen ungern wieder auf. Die frustrierende Erfahrung, dass man nicht „herankommt“ an jemanden, der über ein festgefügtes System von Denkschablonen und Vorurteilen verfügt, bleibt niemandem erspart, der sich bei unterschiedlichen Auffassungen auf das Gespräch einlässt. Das gilt für Auseinandersetzungen zwischen Personen, bei denen Jähzorn das Argumentieren ersetzt, gilt aber auch für ganze Gruppen von Menschen, die sich hinter ihren Vorurteilen verschanzen. Oft begegnet man geschlossenen, argumentationsresistenten Denk- und Gefühlswelten, in denen es für alles Einwände / Entgegnungen gibt – oder, wie bei manchen Formen der religiösen Überzeugungen in den Offenbarungsreligionen, alle Zweifel zurückgewiesen werden, weil sie vom Teufel sind.

Solche Vorurteile haben lebensgeschichtliche Ursachen, denen man nachspüren kann. Europäische Ethnologie kann dies: Sie versucht, „die Lebensweisen (nicht nur Lebenslagen) von Gruppen oder einzelne Momente ihres Alltagsdenkens und -handelns möglichst konkret zu beschreiben“, und sie ist dabei, wie man hinzufügen muss, „auch an der ‚Innenperspektive‘ der Akteure und nicht nur den objektiven sozialen Funktionen ihres Handelns interessiert ist.“ (Warneken 2006:9/10:Fußnote 2). Bei solchen Forschungen begegnen die Forschenden den behandelten Gruppen mit „ethnologischem Respekt“ und mit Akzeptanz des „Eigensinns“ anderer Lebensformen. Das bedeutet keine Rechtfertigung, kein „Verständnis“ für solche Denkweisen, hilft jedoch die Motive zu begreifen, und dann können Anknüpfungsmöglichkeiten für ein Gespräch über gemeinsam interessierende Fragen gefunden werden.

Die Anerkennung des Anderen bedeutet nicht rückhaltlose Duldung. Vielfalt unter dem Mantel eines übergreifenden Werte-Konsenses („cross-cultural values“) zu akzeptieren ist eine bequeme Selbstverständlichkeit. Die eigentlich schwierige Aufgabe besteht dort, wo (noch) keine solchen Werte vorhanden sind. Beharrlich und mit langem Atem auch mit denen ins Gespräch zu kommen, die sich dem Dialog verweigern, das ist eine schwierige Aufgabe. Die Bereitschaft dazu signalisiert keine „Einbahnstraßentoleranz“, die selbst Toleranz übt, den anderen aber keine abverlangt. Vielmehr bekennt man sich zu der Relativität der eigenen Werte und gesteht anderen das Recht zu, auf ihren Werten zu bestehen.

Niemand muss im Alltag fremdenfeindliche und rassistische Vorurteile seiner Mitmenschen unwidersprochen lassen. Argumentationsversuche können freilich mit Zornausbrüchen beantwortet werden. Da braucht es gegebenenfalls auch Zivilcourage. Argumentieren ist, auch wenn Aufklärung allein nicht hilft, trotz aller Schwierigkeiten möglich, solange Gewalt ausgeschlossen ist – und deswegen ist das Gewaltmonopol des Staates Voraussetzung. Die NationalsozialistInnen waren unter anderem deswegen erfolgreich, weil sie Gegenargumente mit Terror beantworteten. Das macht auch in der Gegenwart hilflos. Aber gegen Gewalt hilft nicht Gegengewalt, sondern die Sicherung des Gewaltmonopols des Staates: Nur staatliche Institutionen sind befugt, Gewalt anzuwenden.

Für das gewaltfreie Miteinander in einer gemeinsamen Lebenswelt tragen alle Verantwortung – die Alternative wäre irgendwann Bürgerkrieg oder gewaltsame Verfolgung von Minderheiten. Sobald man dies akzeptiert und sich auf ein Gespräch einlässt, werden erste Ansätze für kulturübergreifende Werte (zunächst sind es nur Formen des Vorgehens) geschaffen – ein in den internationalen Beziehungen als „Wandel durch Annäherung“ nicht unbekanntes Phänomen.

Wenn es um die Voraussetzungen dieses Dialogs geht, lohnt die Erinnerung an Diskurs-Erfahrungen der Vergangenheit. Das gemeinsame Grundsatzpapier von SED und SDP von 1987 (Der Streit der Ideologien 1987) war bei beiden Partnern (Kontrahenten) angefochten, aber es wurde schon damals auch als Modell für den Dialog mit dem Islam betrachtet. Es ähnelt den mühsamen Formelkompromissen, mit denen Offenbarungsreligionen sich voneinander abgrenzen und verständigen. Dieses Modell des Dialogs kann in einigen Aspekten durchaus auf Kulturen übertragen werden: Vor dem Hintergrund gemeinsamer Überlebensinteressen (bezogen auf Frieden, Biosphäre, Überwindung des Hungers) wollten damals die unterschiedlichen System von Ost und West „lernen, miteinander zu leben und gut miteinander auszukommen“. Sie entwickelten dazu eine „Kultur des politischen Streits und des Dialogs“ trotz formulierter fundamental divergierender Positionen. Voraussetzung und Ansätze für diese „Kultur des politischen Streits“ waren, dass beide ihre wechselseitige Existenz „ohne zeitliche Begrenzung“ akzeptierten. Beide „müssen einander Entwicklungsfähigkeit und Reformfähigkeit zugestehen“. Zwar ist „Einmischung in die inneren Angelegenheiten“ nicht zugelassen, aber „Kritik, auch in scharfer Form“ gilt nicht als Einmischung.

Vor ähnlichen Aufgaben stehen heute die unterschiedlichen Gemeinschaften und politischen Blöcke. Mit einem Zitat des islamischen Mystikers Rumi schließt der von Kofi Annann herausgegebene Text „Brücken in die Zukunft“: „Draußen hinter den Ideen von rechtem und falschem Tun liegt ein Acker. Wir treffen uns dort.“ (Annan et al. 2001:235). Bei dem Aufklärer Voltaire heißt es, nachdem lange vergeblich nach einem glücklichen Menschen in der „besten aller Welten“ gesucht wurde, bezogen auf den immer noch suchenden Hauslehrer: „‘Wohl gesprochen‘, erwiderte Candide. ‚Nun aber müssen wir unsern Garten bestellen.‘“

Auf der symbolischen Ebene Vorurteile überwinden

Arbeitsformen der Kulturellen Bildung können dazu beitragen, mit neuen Erfahrungen und Erlebnissen die eigenen Vorurteile infrage zu stellen, etwa (um nur ein Beispiel zu nennen) im „Bildergespräch“ im Museum (Sprigath). In der Alten Pinakothek in München hängt ein Bild von Matthias Grünewald (um 1460 – 1528), gemalt um 1521: „Die Heiligen Erasmus und Mauritius“. Der Legende nach wurde der christlich gewordene Hauptmann Mauritius mit seiner thebäischen Legion unter Diokletians Mitkaiser Maximinian Ende des 3. Jh. n. Chr. von Ägypten über Rom nach Gallien verlegt. Weil die ChristInnen sich dem Kaiserkult verweigerten, wurden sie in Acaunum beim heutigen westschweizerischen Sankt Moritz (St. Maurice) sämtlich enthauptet, angeblich 6666 Mann (Poeschel 2005:266/267). Im Magdeburger Dom wird Mauritius in einer Skulptur von 1250 mit negroiden Gesichtszügen dargestellt. In dem Grünewaldschen Gemälde befindet sich der dunkelhäutige Mauritius mit lebhafter Gebärde im Gespräch mit dem Bischof Erasmus. Mauritius wirkt selbst in seiner eisernen Ritterrüstung, freilich einer mit ausgeprägter Wespentaille, als quirliger Afrikaner, dem gegenüber Erasmus in seiner überladenen Bischofstracht und mit seinem unzugängliche Überlegenheit ausstrahlenden Gesicht borniert, blasiert, pedantisch erscheint. Das sind Eindrücke, die von anderen relativiert werden können – der Kunstkritiker, Schriftsteller und Diplomat Wilhelm Hausenstein interpretiert ganz anders: Es „ist eine religiöse Disputation geschildert, in welcher Sankt Mauritius lebhaft, ja erregt das Wort führt, während Sankt Erasmus in wahrhaft vollkommener Ruhe die Argumente des anderen empfängt oder auch abprallen lässt – voll zurückhaltender Klugheit, die aus den zuwartenden Blicken erfahrener Augen vorsichtig hervorscheint.“ (Hausenstein 1947:36)

Ehe man eine solche autoritative Interpretation akzeptiert, muss man das Bild selber wirken lassen und den unbefangenen Betrachtern ermöglichen, ihre Eindrücke wiederzugeben. Vorstellen kann man sich, dass ein jüngeres Publikum von heute in diesem Bild ganz Anderes sieht als der Katholik Wilhelm Hausenstein; es identifiziert sich vielleicht eher mit Mauritius.

Von Aneignung kann man sprechen, wenn Menschen prüfen, warum Werke der Kunst von Gestern für sie heute noch wichtig sind. Der vielfach in Plastik und Malerei dargestellte Martin von Tours, ein um 316 geborener Sohn eines römischen Offiziers, zerteilt seinen Offiziersmantel und gibt die Hälfte davon einem Bettler. Er hebt er damit die strenge Kleiderordnung der Feudalgesellschaft auf. Damit ist er nicht nur ein Symbol für einen, der in der in Arm und Reich gespaltenen Gesellschaft Solidarität übt. Indem er seinen Mantel zerteilt, fügt er damit symbolisch auch die Gesellschaft wieder zusammen. Er akzeptiert den Bettler als Menschen und als einen, der in seiner Rolle mit eigener Würde wichtig bleibt, weil er Anlass für gute, Gott wohlgefällige Taten ist. Damit ist er auch Symbol dafür, dass Gerechtigkeit ein offenes Thema ist, aber auch eines für die Überwindung der Standesschranken, der Rassenschranken und anderer Ausschließungen. Sankt Martin und der Bettler können so Anlass sein für ein Gespräch über Gerechtigkeit, über das Leben in eigener Würde und ähnliche Themen.

Wenn man über die Befindlichkeiten von Menschen auf der Flucht und der Suche nach Asyl reden will, kann man ein Bild wie Claude Lorrain: „Landschaft mit der Flucht nach Ägypten“ (Gemäldegalerie Dresden) oder Joachim Patinier „Landschaft mit Flucht nach Ägypten“ in der Städelschen Galerie in Frankfurt am Main zum Anlass nehmen.

Bezieht man sich im Bildergespräch auf eine der häufigen Darstellungen der Anbetung der Könige, so sind alle drei das Christuskind verehrenden Herrscher Ausländer, und einer davon ist meist ein Schwarzer. Damit sind sie ein dankbares Motiv in der „multikulturellen“ Einwanderungsgesellschaft. Ohnehin sind die in vielen Fällen christlich getauften Fremdenfeinde von heute daran zu erinnern, dass viele der Heiligen der katholischen Kirche aus Regionen stammen, aus denen heute Flüchtlinge und ArbeitsmigrantInnen kommen (Nikolaus aus der Türkei, Augustinus aus Algerien usf.).

In den Symbolwelten der christlichen Glaubenslehre können heute ganz neue Dimensionen entdeckt werden: Ist der Gekreuzigte nicht auch ein Bild all jener geschundenen Menschen, von denen die durch Krieg und Staatsterror verursachten heutigen Fluchtbewegungen zeugen, und die den Bürgerkriegsflüchtlingen, AsylbewerberInnen und vielen MigrantInnen gegenwärtige Erfahrung ist?

So können viele der traditionellen Motive der ästhetisch-kulturellen Gestaltung durch das Gespräch in neue Zusammenhänge gestellt werden. Auch literarische Gestaltungen, Zeugnisse der Architektur, der Musik und historische Relikte (eingeschlossen die archäologischen Objekte, die von Wanderungsbewegungen und Handelsbegegnungen zeugen) können dabei helfen, mit Fremden und Fremdheit auf sinnlich-emotionaler Ebene in Kontakt zu kommen. Es geht dabei nicht um Sehen lernen (wie es die Kunstpädagogik oft allgemein als ihr Ziel versteht) oder um Grundwissen zur Kunst- oder Kulturgeschichte, erst recht nicht Aufklärung oderum politische Bildung (da mag die „Fachdebatte“ ganz andere Ansätze haben), das wäre ein grobes Missverständnis. Vielmehr sind die symbolischen ästhetisch-kulturellen Gestaltungen Anlass, machzudenken über eigene Befindlichkeiten, Vorurteile und Klischees. Wenn es damit gelingt, die festgefügten Denkschablonen blickdichter und argumentationsresisitenter Denkwelten zu relativieren, kann der Weg zum Gespräch (und Nachdenken) über die Verantwortung für das Zusammenleben, über die Werte des gemeinsame Lebens ansatzweise geöffnet werden.

Verwendete Literatur

  • Annan, Kofi et al. (2001): Brücken in die Zukunft. Ein Manifest für den Dialog der Kulturen. Eine Initiative von Kofi Annan. Frankfurt am Main: S. Fischer.
  • SPD/SED (1987): Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit. Vorwärts Nr. 35 v. 29. August 1987, S. 31-34
  • Gasteyger, Curt (2005): Europa zwischen Spaltung und Einigung. Darstellung und Dokumentation 1945 – 2005. Überarbeitete Neuauflage. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung.
  • Hausenstein, Wilhelm (1947): Begegnungen mit Bildern. München/Frankfurt am Main: Piper/Büchergilde Gutenberg.
  • Kaufmann, Franz-Xaver (2006 ): Schrumpfende Gesellschaft. Vom Bevölkerungsrückgang und seinen Folgen. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
  • Kramer, Dieter (2016): Fremde gehören immer dazu. Fremde, Flüchtlinge, Migranten im Alltag von Gestern und Heute. Vorwort: Peter Feldmann, Oberbürgermeister von Frankfurt am Main. Marburg: Jonas.
  • Museum für Völkerkunde Frankfurt a. M. (2000): Kriege sind nicht ethnisch. Ethnos-Papier des Museum für Völkerkunde Frankfurt am Main. In: Berliner Blätter. Ethnographische und Ethnologische Beiträge (Berlin), H. 21/2000, 95/96.
  • Poeschel, Sabine (2005): Handbuch der Ikonographie. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
  • Röbke, Thomas (1993): Zwanzig Jahre Neue Kulturpolitik. Erklärungen und Dokumente 1972-1992 (Edition Umbruch, Bd. 1). Hagen/Essen: Kulturpolitische Gesellschaft/Klartext.
  • Sprigath, Gabriele (1986): Bilder anschauen, den eigenen Augen trauen. Bildergespräche. Marburg/L.: Jonas.
  • Steinbach, Franz (1962): Studien zur westdeutschen Stammes- und Volksgeschichte. 1. Aufl. Jena 1926, Nachdruck Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
  • Deutsche UNESCO-Kommission (Hrsg.) (2006): Übereinkommen über Schutz und Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen. Magna Charta der Internationalen Kulturpolitik. Bonn: Deutsche UNESCO-Kommission.
  • UNESCO (1997): Unsere kulturelle Vielfalt. Bericht der "Weltkommission Kultur und Entwicklung" (Kurzfassung). Deutsche UNESCO-Kommission Bonn.
  • Warneken, Bernd Jürgen (2006): Die Ethnographie popularer Kulturen. Eine Einführung. Wien u.a.: Böhlau.

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Dieter Kramer (2016): Drei Dimensionen Kultureller Bildung im Kontext von Fremdenfeindlichkeit. In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE: https://www.kubi-online.de/artikel/drei-dimensionen-kultureller-bildung-kontext-fremdenfeindlichkeit (letzter Zugriff am 14.09.2021).

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