Diversity, Transkulturalität und Identität
Kulturelle Bildung, die den Anspruch hat, auf Menschen und gesellschaftliche Prozesse der Gegenwart zu reagieren, muss sich stets in ihrem Selbstverständnis wie in ihrer Fokussierung überprüfen. Umso notwendiger ist diese, wenn sie sich in einem gesellschaftlichen Kontext bewegt, der rascher Veränderung unterworfen ist. Diese Notwendigkeit potenziert sich, wenn ihr Subjekt junge Menschen im Prozess ihrer Identitätsfindung sind. All dies trifft auf Kulturelle Bildung im Kontext von Multi- und Transkulturalität zu, wobei dies keinesfalls zu beschränken ist auf von Migranten dominierte Gesellschaftssegmente; die deutsche, ja die globale Gesellschaft ist in hohem Maße geprägt durch Kulturtransfer unterschiedlicher Art und in unterschiedlichem Maße und damit von Heterogenität – nicht zuletzt, weil die Subjekte, die sie ausmachen, in ein Netz von transkulturellen Prozessen eingebunden sind und sich einer statischen Einordnung entziehen.
Identität: Zwischen Heimat und Kosmopolitisierung
Das Verständnis von Heimat als einem statischen, geografisch festzumachenden Identifikationspunkt ist obsolet geworden. Wie so viele Menschen ist auch die Heimat auf die Wanderschaft gegangen und in ihrer Konstruktion als Erinnerungs- oder Sehnsuchtsprojektion vielfältig und sich ständig verändernd angelegt: Reflex weltweiter gewünschter oder erzwungener Migration. Heimat, zu der ja auch Symbole gehören, die diese repräsentieren, wird zu einem fluiden, manchmal auch nur imaginären Konzept (Grgic 2013:248). Daraus resultieren Fragen, die Rückbeziehung auf kulturelles Erbe, auf das „Echte, Ursprüngliche, Traditionelle“, auf den der Transfer eines Stückchens Kultur, das Heimat und „roots“ repräsentiert, betreffen: In welchem Maße sind sie Orientierungs- und Lernziel, sind sie geeignetes Material für Identitätskonstrukte?
Migration hat sich seit dem Beginn der Arbeitsimmigration nach Deutschland verändert, natürlich auch die Gesellschaften, aus denen heraus und in die hinein Migration erfolgt. Jahrzehntelang ging man von Einwanderergruppen aus bestimmten Ländern aus (ganze Berufsgruppen, Gruppen aus Dörfern oder Landstrichen, Familienverbünde, von Naturkatastrophen oder Bürgerkrieg Betroffene) , oft gefördert durch Staatsverträge, die sich hier als Gruppen oder Communities zusammenfanden und sich manchmal auch als „Migrantenselbsthilfeorganisationen“ ermutigten, ihre Rechte zu formulieren und einzufordern, jedoch auch, um sich der eigenen Identität in der Herkunftsgruppe zu vergewissern. Das ist anders geworden: Die Migrationsforschung beobachtet, dass – in Korrespondenz zu Globalisierung - Migration sich nicht mehr in großen mehr oder weniger organisierten (ethnischen oder regional definierten) Großgruppen, sondern in individualisierten Wanderungen vollzieht. Die Diversifizierung der Zuwanderung korrespondiert mit Individualisierungstendenzen innerhalb moderner Industriegesellschaften.
„Die Heterogenisierung der Zuwanderung betrifft neben der Verteilung von Migranten auf Herkunftsländer noch weitere Dimensionen, wie die Motivationen der Zuwanderer, den aufenthaltsrechtlichen Status, das schulische und berufliche Qualifikationsniveau, sprachliche Kompetenzen, religiöse Orientierungen, Aufenthaltsdauer sowie Art und Charakter der Beziehungen ins Herkunftsland. Auch diese Faktoren beeinflussen Erfahrungen, Einstellungen und Lebenschancen von Zuwanderern, verlaufen aber quer zu der Einteilung von Migranten nach ihren Herkunftsländern. Gleichzeitig findet ein generationaler Differenzierungsprozess der Nachkommen von Migranten statt.“ (Nieswand 2010:2)
Diese Veränderungen von Migration wie von Gesellschaft hatten die Entwicklung von migrantischer Super-Diversity (Steven Vertovec) mit hoher innerer Komplexität zur Folge:
„‘Superdiversität’ ist ein Begriff, der ein Komplexitätsniveau und einen Komplexitätstypus unterstreichen soll, welcher über all das hinausgeht, was viele der Empfängerländer je zuvor erlebt haben. ‘Superdiversität’ unter Einwanderern zeichnet sich durch ein dynamisches Zusammenspiel von Variablen aus, darunter das Herkunftsland (bestehend aus einer Vielfalt möglicher untergeordneter Merkmale wie ethnischer Zugehörigkeit, Sprache[n], religiöser Traditionen, regionaler und lokaler Identitäten, kulturellen Werten und Praktiken), der Migrationsweg (häufig verbunden mit stark geschlechtsspezifischen Strömungen, speziellen sozialen Netzwerken und besonderen Arbeitsmarktnischen) und der Rechtsstatus (einschließlich unzähliger Kategorien, die eine Hierarchie von Rechtsansprüchen und Einschränkungen festlegen). Diese Variablen bestimmen Integrationsergebnisse mit, zusammen mit Faktoren rund um das Humankapital der MigrantInnen (insbesondere der Bildungsstand), den Zugang zu Beschäftigung (auf den Einwanderer Einfluss haben können oder auch nicht), die Örtlichkeit (bezogen vor allem auf die materiellen Bedingungen, aber auch auf die Präsenz anderer ImmigrantInnen und ethnischer Minderheiten) sowie die gewöhnlich wechselhaften Reaktionen der örtlichen Behörden, Leistungsträger und Ortsansässigen (die häufig dazu neigen, ihr Handeln nach früheren Erfahrungen mit MigrantInnen und ethnischen Minderheiten auszurichten)“. (Vertovec 2012)
Ob die großen Flüchtlingsbewegungen des Herbstes 2015 – Zeitpunkt des Verfassens dieses Textes: gegenwärtig sind 60 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht – aus Kriegsgebieten, aus wirtschaftlichen Notstandsregionen, aufgrund von Hunger, politischer oder religiöser Verfolgung, sozialen Sackgassen für ganze Generationen (wie Afrika) oder aus Unterdrückungserfahrungen heraus, die jedoch nicht oder nur marginal ethnisch definiert sind, diese weltweit beobachtete Entwicklung konterkarieren oder verändern, ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht zu prognostizieren.
Diese Komplexität hat – über die Jahre entwickelt – zu einer neuen Diversität der Möglichkeiten der Persönlichkeitsentwicklung geführt und statische Identitätskonstruktionen fragwürdig werden lassen. Aus einer eindimensionalen Arbeitsmigration heraus, aber auch als höher qualifizierte Alternative dazu hat sich zudem die vagabundierende Beschäftigungsgruppe der „Expats“ entwickelt. Eine neue Kosmopolitisierung vollzieht sich: Anstelle der scheinbar ungebundenen Freizügigkeit des wohlhabenden Weltreisenden auf der Suche nach dem aufregend Fremden benennt der Begriff „nun den Zwang, aber auch die Fähigkeit zur gleichzeitigen Bindung an unterschiedliche geographische, kulturelle und soziale Orte“ (Römhild 2007:620). Ulrich Beck u.a. meinen damit die von der Dominanzgesellschaft stigmatisierten, meist sozial unterprivilegierten MigrantInnen, die mit ihrem Grenzgehen jegliche statische sozialen und kulturellen Formen und Festlegungen in Frage stellen und hybride Identitätsmodelle entwickeln. „Translegaler, autorisierter, nichterkannter Kosmopolitismus von unten“ wird demnach im Leben eines „durchschnittlichen Migranten“ verkörpert (Beck, 2004:156). Diese neuen, unterprivilegierten Kosmopoliten (Flüchtlinge, Migranten), deren Bestimmung nichts mit der Dauer des Verweilens im Immigrationsland zu tun hat, seien mit allen Schwierigkeiten der Herauslösung aus festen Zugehörigkeiten konfrontiert (Beck 2004:32).
Roots and wings
Es entwickeln sich in den erfolgreichen Grenzgängern notwendigerweise vielfältige Individuen, deren Persönlichkeitsmerkmal oft eine hohe interkulturelle Kompetenz, großes Beharrungsvermögen, Neugier nach allen Seiten ist. Sie – vor allem die jungen unter ihnen - sind oft durch Patchwork-Biografien (Keupp 1999) geprägt und entfalten in Folge breite hybride Persönlichkeitsstrukturen. Wer diesen schwierigen, einsamen Weg erfolgreich geht, wird sich bei den “Neuen Deutschen“ einfinden, ein Begriff, der, synonym verwendet, für „Menschen mit Migrationshintergrund wie als Selbstbezeichnung von Menschen aus Einwandererfamilien“ , die den „Anspruch auf Zugehörigkeit“ und Partizipation selbstbewusst deutlich machen (Neue Deutsche Medienmacher 2015).
Diese (vornehmlich jungen) Persönlichkeiten orientieren sich auf ihrem Weg nach verschiedenen Seiten: Diejenigen, die sich ihren Wurzeln, der kulturellen Traditionen ihrer Herkunftskultur zuwenden – z.B. das türkische Saiteninstrument Bağlama beherrschen lernen oder Kopftuch tragen - und dabei oft Isolation innerhalb ihrer Generation und ihres sozialen Umfelds in Kauf nehmen, zugleich aber – nicht unbedingt alternativ - auch mit großem Selbstbewusstsein, aber oft auch Wut über erlebte Ausgrenzungserfahrungen und erlittenem mangelnden Respekt vor ihrer kosmopolitischen interkulturellen Kompetenz, fern jeder Tradition die Zukunft für sich proklamieren und sich Flügel wachsen lassen, um zu neuen Horizonten aufzubrechen. Auf einer Seite ihrer Selbstdefinierung stehen somit „alte Muster“ wie Herkunft resp. „Heimat" und traditionell verstandene Ethnizität, auf der anderen Seite nun die internalisierten „neuen Muster", durch gegenwärtige Globalisierungstendenzen und sich entwickelnde, gesellschaftlich-kulturell geprägte Wertvorstellungen. Zwischen diesen zwei Polen – dem traditionellen Verständnis von Heimat und Ethnizität einerseits und den neuen globalen Horizonten und damit in Unterscheidung von der ethnischen Herkunftscommunity andererseits – bilden sich die Identitäten der Befragten, in denen das Alte und das Neue, das Globale und das Lokale nun miteinander vereinbart werden könnte. Diese GrenzgängerInnen bemühen sich um „Wurzeln“ wie um „Flügel“ (vgl. Beck 2002:15, Grgic 2013:247). Eine immer wieder zerstörerisch wirkende und gehandhabte Dichotomie könnte somit in gelebte Transkulturalität überführt werden.
Bislang stehen sich die Bemühungen um Wurzen und Flügel eher gegenseitig im Weg und weisen in unterschiedliche Richtungen: Diejenigen, die ihre Identität eher gründen auf ihre ethnisch-kulturelle Herkunft und ihre Stärke im Bewahren des sozialen Kontextes ihrer Community zu erhalten suchen, und diejenigen, die die Gegenwart der Migrationsgesellschaft hinter sich lassen möchten, in der sie und ihre Eltern zu viel Zurückweisung, mangelnde Chancen, fehlende Anerkennung und Respekt erfahren haben, in der sie zu oft die Frage nach dem „Wo kommst du her?“ hörten. Indem sie einen postmigrantischen Gesellschaftszustand proklamieren, in dem dies alles längst überwunden sei, nehmen sie ihre Zukunft mit der Selbstdeklaration der „postmigrantischen Realität“ selbst in die Hand. Sie stürzen sich in das Abenteuer des Neuen, so wie es uns am ausgeprägtesten in der performativen Kunst begegnet.
Diesem kulturellen Identitätsfindungsprozess haben sich alle jungen Menschen differierender Herkünfte zu stellen. Gerade in der Realität offener, ermöglichender Kultureller Bildung liegt eine große Chance, ihn mit Wurzeln und Flügeln zu bestehen. Jugendliche misstrauen dem, was sie vorgelebt erleben. Sie erleben es umso heftiger, weil ihre Lebensphase, Pubertät und Adoleszenz, diesen Identitätsfindungs- und Orientierungsprozess intensiviert. Sie verarbeiten die bislang im Leben gemachten Erfahrungen von Ausgrenzung einerseits, von Aufgehobensein oder Eingesperrtsein in Traditionen andererseits. Sie erleben ihre Erfahrungen als Patchwork und haben Mühe, darin ein Muster zu sehen. Viele von ihnen kommen zu dem nicht verwundernden Ergebnis, dass das Gehabte eigentlich keine Option für sie ist, dass sie sich in der gesellschaftlichen, familiären, kulturellen, religiösen Realität, im „Alten“ nicht wieder finden: Sie machen sich auf den Weg, Neues zu erobern, zu entdecken, zu erfinden. Kulturelle Bildung kann Bewusstwerdungs-, Erprobungs- und Ermöglichungsräume bereitstellen, kann Versuchsanordnungen und Werkzeuge anbieten, in und mit denen Kinder und Jugendliche entdecken können, wer sie sind, was sie möchten, was sie können, was sie können möchten (Kolland 2013:140).
Kulturelle Bildung als Ausdruck und Instrument gelebter Diversität
Eine kulturelle Praxis, die ihre Zukunftspotenziale im Bewahren, Qualifizieren, Transzendieren von Eigenarten des Anderen, Fremden sieht und Lust und Innovation aus der Vielfalt der Weltkulturen repräsentierenden differenten Kulturen zieht, wird in ihrem Konzept kultureller Bildung auch genau darauf Wert legen. Nicht ganz weit weg von „Orientalismus“-verdächtigem Exotismus und seiner Fremdheitsfestschreibung, aber keineswegs automatisch in dessen Fallen laufend, wird eine auf Achtung der Diversity fußende kulturelle Praxis Wert auf eben die Differenz legen und diese vermitteln etwa in der Form der Zusammenarbeit mit ethnischen Communities als Form ethnisch-kultureller Selbstorganisation. Dort finden sich Menschen zusammen, die ihre gesellschaftlichen Konventionen und Erfahrungen, ihre Geschichte, ihre Sprache, ihre Kulturtraditionen, ggf. ihre Religion so wertschätzen, dass sie sich im Migrationsland immer wieder dieser gemeinsamen Traditionen vergewissern wollen und Wert darauf legen, dass ihre Kinder mit eben dieser Tradition vertraut werden. Sie kann durchaus „Leitkultur“-Status für die jeweilige Community annehmen. Oft liegen diesem Bedürfnis Erfahrungen von Exklusion, Einsamkeit oder Xenophobie zugrunde, oft erwacht auch in der zweiten oder dritten Migrantengeneration das Bedürfnis nach Erforschung (fremd gewordener) familiärer, ethnischer oder kulturellen Wurzeln. Die Community-Inseln dienen letztendlich dem Erhalt von Differenzierungen, hinsichtlich des Besinnens auf Eigenes ebenso wie der Bewusstwerdung eines Fremdheitsstatus. Der sogenannte „interkulturelle Dialog“, der ja auf dem „zur Sprache bringen“ von Differenz basiert, kann somit Ausgrenzung bestärken, weil er ja das „Andere“ zum Ausgangspunkt nimmt und diesen Erhalt von Differenz und Besonderem in seiner Praxis kultureller Bildung lehrt und Respekt vor dem Besonderen einfordert.
Kritiker und Gegner dieser Community-Orientierung und –Praxis, darunter kurzsichtige Multi-Kulti-Fans ebenso wie „Postmigranten“, werfen ihr „Reethnisierung“ vor, weil sie davon abhalte, sich in das Abenteuer des Neuen zu stürzen und die Betonung und Beibehaltung der Differenz in den Mittelpunkt schiebe – damit ein „Selbst-Othering“ betreibend und sich selbst außerhalb eines gesellschaftlichen Konsenses stellend. „Othering“ wird meist als Werkzeug der „Fremd-Klassifizierung“ von Minderheiten und damit als Vorlage für Unterscheidung, Distanzierung, weitergehend für Diskriminierung und Rassismus identifiziert (siehe Paul Mecheril „Kulturell-ästhetische Bildung. Migrationspädagogische Anmerkungen“) und benannt und damit gerade von gesellschaftlichen Gruppen, die von Diskriminierung bedroht oder betroffen sind, scharf kritisiert und als Aberkennung gesellschaftlicher Partizipation und Macht gewertet. Im Falle der Community-Ablehnung durch ihre Gegner aus den „eigenen Reihen“ wird jedoch Konstruktion und Erhalt des Fremdseins durch Bewahrung der kulturellen Traditionen als selbstermächtigte Fremdzuschreibung des eigenen Status kritisiert.
Transkulturalität versus Leitkultur(en)
Die bundesdeutsche Gesellschaft ist jedoch aus dieser Phase des Suchens nach alter Heimat in der neuen Fremde herausgewachsen, mindestens 1/5 der Bevölkerung hat eine wie auch immer (un)mittelbare Migrationsgeschichte. Unter Kindern und Jugendlichen insbesondere in Großstädten ist Migrationsgeschichte der Familie eher die Regel als die Ausnahme. Dies ist weit mehr als ein demographischer Faktor. Es verweist
- auf einen Aufbruch aus ethnisch-monolithischen Gesellschaftsstrukturen,
- sich nach und nach durchsetzende gesellschaftliche und kulturelle Vielfalt,
- auf ein Infrage stellen von tradierten sozialen Schichtungen,
- auf neue Herausforderungen für soziale Inklusion und veränderte Partizipationsnotwendigkeiten und -formen,
- auf die Ablösung scheinbar das „Abendland“ konstituierender Leitkultur („Islam gehört zu Deutschland!“),
- auf das Freisetzen neuer hybrider Kreativität und
- das Einfordern von Teilhabe an Macht und Entscheidungsgewalt durch die „Neuen Deutschen“, auch wenn die akzeptierte und gewünschte Diversität, verstanden als Vielfalt und Differenz, immer wieder Konfliktpotential birgt – auch dies ein Motor für Transformation.
Die Gegenposition zu dem Diversity-Konzept, auch in seinen gesellschafts-, kulturpolitischen und damit auch kulturpädagogischen Konsequenzen, ist das Fördern, Ermöglichen und selbstermächtigte Realisieren von Transkulturalität und – damit im Ergebnis verwandt – Hybridisierung, also das Entstehen von Neuem aus der Begegnung von Unterschiedlichem. Die kulturelle Realisierung und künstlerische Formulierung dieser Kultur hat begonnen. Eine hochqualifizierte, künstlerisch sehr talentierte Gruppe von Menschen verschiedener Migrationsgenerationen vertritt die dezidierte und exklusive Position, dass es nur sie selbst sein können, die Kunst und Kultur ihrer Generation, ihrer sozialen Erfahrung und ihrer transkulturellen hybriden Praxis entwickeln können und die dafür nichts weniger als die Entscheidungsmacht verlangen – wie das Beispiel des Gorki Theaters Berlin zeigt, sehr erfolgreich. Moralische Lippenbekenntnisse oder die schon Mainstream gewordene Forderung nach interkultureller Öffnung reichen ihnen nicht. Ein grundsätzlicher Transformationsprozess in den Institutionen beginnt sich zu vollziehen. Kulturpädagogische Projekte wie die „Akademie der Autodidakten“ am Rande des Berliner Ballhaus Naunynstraße oder „Die jungen Pächter“ des Jugendkulturzentrums Schlesische 27 (mit dem BKM-Preis für Kulturelle Bildung 2013 ausgezeichnet) setzen diese selbstbewusste Haltung in jugendkulturelle Realitäten um.
Der offene, interdisziplinäre Diskurs um Diversity, Transkulturalität und Identität beginnt eben erst geführt zu werden. Seine Konsequenzen für die Anwendung dieser Debatte auch und gerade für die Pädagogik und damit auch Kulturpädagogik zeichnen sich nur insofern ab, dass sich Schubladenzuordnungen von Methoden und Arbeitsfeldern wie „Kulturelle Bildung für Migranten“ verbieten und ausschließen (siehe Dorothea Kolland „Kulturelle Bildung zwischen den Kulturen“).
Vor uns liegt ausgebreitet eine Heterophonie von Existenzen, Lebensweisen und Haltungen, die sich um Zukunftsklang bemüht und doch in Disharmonien, Widersprüche, manchmal gar in Kakophonien verstrickt scheint. Wahrung und Pflege von Traditionen, Festhalten an den jeweils bestimmenden „Leitkulturen“ bergen die Gefahr der Selbst-Ghettoisierung und immerwährenden Re-Ethnisierung und schaffen Distanzen, wenn nicht Konflikte zwischen den Werte-Systemen, die wiederum als Folge des Befreiungsschlages für Zukunft verloren gehen können; das Preisgeben von Traditionen, des kulturellen Erbes als Kollateralschaden der Befreiung wiederum erschwert Identitätsfindung und kann zur Selbstaufgabe von Potenzialen – „interkulturelle Kompetenz“! – führen, schafft aber wichtige Räume für Neues. Wie mit dem kulturellen Erbe agieren und es dabei nicht als Hemmschuh, sondern als Impetus für Innovation und Kreativität erfahren? Wie kann Kosmopolitismus gelebt werden, ohne Wurzeln zu verlieren und doch die Flügel entfalten zu können?
Jugendkultur als Arena des Suchens nach Identität
Eine Arena, wo diese verschiedenen Haltungen und Praktiken nebeneinander praktiziert werden, manchmal auch aufeinanderstoßen, ist die Musikpraxis türkischer Jugendlicher zwischen TurkPop und Disco-Musik mit stolzem Verweis auf ihre Getto-Traditionen der Ausgegrenzten, deutsch-türkischem Rap mit Weltmusik-Selbstverständnis, und traditioneller türkischer Bağlama-Musik, der sich – meist unbeobachtet von traditionell-deutscher Musikpädagogik - viele junge Männer und wenige junge Frauen zuwenden, indem sie dies hochartifizielle fast ausschließlich in türkischer Musik gebrauchte Instrument, das sowohl in traditioneller Volksmusik wie in neuerer türkischer Kunstmusik fußt, erlernen. Ist sie das re-ethnisierende Nischeninstrument? Hat sie umgekehrt das Potential, zur interkulturellen Öffnung eines bislang fast rein „abendländisch“ orientierten Spektrums des deutschen Kulturlebens zu werden, wie erstaunliche Begegnungen mit anderen Saiten- und Zupfinstrumenten und ihren Spielern bei neuen kleinen Festivals vermuten lassen? Und die vielen jungen Spieler? Suchen sie einen Ort der Zugehörigkeit und Geborgenheit in ihrer Community-Kultur oder wollen sie offensiv – beheimatet in ihrem urbanen Lebensmittelpunkt - das Alte und das Neue, das Globale und das Lokale stolz und offensiv miteinander vereinbaren? Sind für sie Wurzen und Flügel kompatibel? Diesen Anspruch haben auch die Weltmusik-Rapper und verstehen sich als Teil einer globalen Musikkultur, grenzen sich deshalb auch nur wenig ab von anderen jugendkulturellen Strömungen. Am ehesten eine Nische suchen die Anhänger des TurkPop in ihrer Parallelwelt der Diskos – die aber wiederum nichts mit traditionell türkischer Kultur zu tun haben, sondern mit dem Suchen nach geschütztem Rückzug aus einer Welt gelebter Transkulturalität, die sie offenbar vergessen hat. Damit re-ethnisieren sie sich selbst, natürlich ohne dessen bewusst zu sein: Sie tun genau das, das die jungen Postmigranten auf ihrem Weg, die „Neuen Deutschen“ zu werden, zu verhindern suchen und ablehnen. Jugendkulturelle Diskurse und kulturpädagogische Konzepte müssen sich mit diesen Realitäten auseinandersetzen und Position dafür ergreifen, dass Isolation und Nische keine Zukunftsoption sind.
Der herrschende Kulturbetrieb wie alle ihm zugeordneten Träger – Menschen wie Institutionen - verfügen über die Setzungen der Rahmenbedingungen, Innovation entstehen und Neues wachsen zu lassen – und über die schwer beweglichen Strukturen, dieses zu verhindern. Die kulturelle Bildung und ihre Möglichkeiten zählen doppelt, denn sie sind diejenigen, die unmittelbar an der Zukunft arbeiten. Nicht Kulturpolitik, nicht die Kultur-, nicht Bildungsinstitutionen generieren das Neue – das sind die künstlerischen Kräfte –; aber jene können durch Absicherung und Förderung von Experimenten und Prozessen einwirken und sie tragen dafür Verantwortung, dass neue Räume der Begegnung, „Treppenhäuser“ im Sinne Homi Bhabhas (Bhabha 2000:5) ihre Zuständigkeiten durchdringen. Die Bereitstellung von „Forschungslaboren“, hierarchiefreien, offenen und geschützten Orten – konzeptioneller, gedanklicher, künstlerischer, real gebauter Art – ist Konsequenz dieser Haltung und führt in eine noch nicht bekannte Zukunft.
Bis dahin aber sei plädiert für die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen und für die Quadratur des Kreises – für die Wurzeln und Flügel, die sich nicht gegenseitig behindern, sondern animieren zu produktivem Zusammenwirken. Noch sind die postmigrantischen machtfreien Kulturräume zu weit entfernt, die – Chancengleichheit und Teilhabegerechtigkeit garantierend – von Menschen – gleichgültig welcher Prägung, welcher gesellschaftlichen Position, welcher sozialen Möglichkeiten – chancengleich betreten und genutzt werden können, um Neues zu entwickeln. Gerade transkulturelle Räume, kulturelle Hybridität und postmigrantisches Theater setzen Respekt vor Andersartigkeit voraus.
Auf dem Weg zu einer neuen Leitkultur?
Der Begriff „Leitkultur“ ist angstbesetzt, sowohl bei denen, die um den Verlust ihrer Kulturtradition bangen wie bei denen, die fürchten, dass damit Diversity im Sinne von Vielfalt und Differenz erstickt werden könnte (Kolland 2012:235). Dabei wurde er vom dem syrisch-deutschen Sozialwissenschaftler Bassam Tibi (Tibi u.a. 2001) als Bezugspunkt eines gesellschaftlich notwendigen Konsenses mit deutlichem Verweis auf die Moderne eingeführt, löste jedoch im Kontext Einwanderungsland eine heftige gesellschaftspolitische Diskussion um Eigenes und Fremdes aus.
Die weltpolitische Entwicklung und insbesondere die politische Realität Deutschlands als Zufluchtshoffnung für Millionen von Flüchtlingen hat die Diskussion sowohl von den um „deutsche Identität“ Bangenden wie auch denen, die – ob gewollt oder nicht – das Veränderungspotenzial erkennen erneut entflammt. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass einer Entwicklung die Zukunft gehört, die nicht nur ein „Einschmelzen“ der verschiedenen Traditionen, Positionen, Erfahrungen, Werte beinhaltet, sondern die etwas Neues gebiert. Der Bildungsforscher Asit Datta formuliert dies präzis:
„Transkulturalität ist […] eine weiterführende Perspektive, da sie […] über den traditionellen Kulturbegriff hinaus- und durch die traditionellen Kulturgrenzen wie selbstverständlich hindurchgeht […] Auf der Mikroebene von Individuen bedeutet Transkulturalität, dass die individuelle Entwicklung durch mehrere kulturelle Herkünfte und Verbindungen in Richtung auf eine interne Pluralität beeinflusst ist […] Aufgabe des Subjekts ist es dann, seine Identität auszuhandeln, Kultur subjektiv zu konstruieren.“ (Datta 2010:157)
Was auf der individualpsychologischen Ebene im Kontext von Persönlichkeitsentwicklung aktuelle Erkenntnisbasis ist, beginnt sich auch in größeren gesellschaftlichen Kontexten durchzusetzen.
Mit dieser Vision einer transkulturellen Gesellschaft ist jedoch noch nichts darüber gesagt, ob dies – zumindest kurzfristig - eine neue „Leitkulturperspektive“ der veränderten deutschen, von Migration mitbestimmten Kulturnation ist. Politische Debatten, die durch den großen Zuzug von Flüchtlingen aus vielen Ländern ausgelöst sind, müssen neu geführt werden. Sie lösen zum einen in modernisierter Form die „Leitkultur“- und Werte-Debatten der 2000er Jahre ab, werden aber nach wie vor gespeist von xenophobischen Ängsten, Rassismus, Furcht vor Überforderung. Sie erwachsen aber auch – ganz entgegengesetzt gerichtet – aus dem Wissen um deutsche Geschichte, aus resultierender Verantwortung und dem Wunsch, das eigene materiellen Wohlergehen und die in Deutschland und Europa erlebte Freiheit und Demokratie hochzuhalten, aus – für Deutschland eher neu – weltbürgerlicher Gesinnung. Eine neue Debatte über Identität, Diversität und Transkulturalität, die nicht abwehrt, sondern sich der Realität weltweiter Migration stellt, die nun tatsächlich in Deutschland angekommen ist, steht vor der Tür, und sie wird überall zu führen sein: auch in der Kulturellen Bildung; denn es geht um ihr gesellschaftliches Selbstverständnis und um die Haltung, mit der sie umgesetzt wird.