Diversität und Teilhabe in den Freiwilligendiensten Kultur und Bildung — Zugänge und Vermittlungsverfahren
Abstract
Der Trägerverbund Freiwilligendienste Kultur und Bildung unter dem Dach der Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung e. V. (BKJ) vermittelt pro Jahr etwa 2.500 Freiwillige in einen Jugendfreiwilligendienst. Die Freiwilligen sind mehrheitlich weiß, cisgender, werden nicht behindert und circa 90 Prozent der Freiwilligen haben Abitur (Schütze 2017). Dies muss sich ändern, und dafür gibt es auch Strategien, so die Autorinnen. Entsprechend diskutieren sie die Frage: Wie können Träger und Einsatzstellen der Freiwilligendienste Kultur und Bildung ihre Auswahl, aber auch Vermittlung unter Berücksichtigung von Diversität und Teilhabe verbessern, so dass breitere Zugänge geschaffen werden? Reflektiert werden Auswahl- und Vermittlungsverfahren, die bisher dazu führen, dass zumeist privilegierte Personen einen Einsatzplatz erhalten sowie Handlungsoptionen, die Barrieren abbauen und zur Öffnung von Freiwilligendiensten für die Personengruppen bzw. Communitys beitragen, die bisher in den Reihen der aktuellen Freiwilligen fehlen und im Vermittlungsverfahren benachteiligt werden.
Seit 2014 beschäftigte sich der Trägerverbund Freiwilligendienste Kultur und Bildung mit Wegen zu mehr Inklusion und Diversität in seinen Freiwilligendiensten. Ziel ist es, sich mit dem Angebot des Trägerverbunds an alle Personen zu richten, die einen Freiwilligendienst in einer Kultur- oder Bildungseinrichtung absolvieren wollen. Keine Person soll aufgrund von Schul- oder Berufsabschluss, BeHinderung, Geschlechtsidentität, sozialer Herkunft oder rassistischen Zuschreibungen benachteiligt werden.
Es wird davon ausgegangen, dass Freiwilligendienste den Freiwilligen biografische und berufliche Orientierung bieten und den Erwerb praxisrelevanter, aber auch sozialer Kompetenzen ermöglichen (vgl. BMFSFJ 2015). Diese Annahme können viele Freiwillige in den Jugendfreiwilligendiensten des Trägerverbunds bestätigen (vgl. BKJ 2017): Sie finden, dass sie sich in ihrem Freiwilligendienst persönlich weiterentwickelt haben und dass ihr Freiwilligendienst zu ihrer beruflichen Orientierung und Entwicklung beigetragen hat.
Deshalb finden die Träger des Trägerverbundes es wichtig, dass alle interessierten Personen von einem biografisch so stärkenden und durch öffentliche Förderung möglich gemachten Programm profitieren können und nicht nur Freiwillige, die zum mehrfachprivilegierten Nachwuchs gehören. Um diese Absicht in Strategien und Handlungen zu übersetzen, bedarf es aber eines genauen Hinsehens und der Sensibilität für strukturelle Barrieren, um diese abzubauen und um Diskriminierung in den Freiwilligendiensten nicht fortzusetzen. Dafür wurde 2014 in einer Roadmap zu Inklusion und Diversität die Maßnahmen für die Öffnung der Freiwilligendienste Kultur und Bildung und den Abbau von Barrieren auf allen Ebenen und in allen Bereichen festgehalten. Die Roadmap wird seither kontinuierlich fortgeschrieben.
Dieser Text beschäftigt sich mit der Auswahllogik der Träger und Einsatzstellen. Ein Verfahren, das bisher dazu führt, dass zumeist privilegierte Personen einen Einsatzplatz erhalten. Im Zentrum stehen deshalb die Fragen, welche Personengruppen bzw. Communitys in den Reihen der aktuellen Freiwilligen fehlen und inwiefern diese im Vermittlungsverfahren benachteiligt werden. Wie können Träger gemeinsam mit Einsatzstellen (neue) Zugänge schaffen und vorhandene Barrieren abbauen, um interessierten Menschen aus diesen Personengruppen einen Einsatzplatz anzubieten? Eine Anonymisierung der Anmeldedaten von Interessierten im Vermittlungsverfahren stellt einen ersten möglichen Schritt dar.
Anonymisierung von Anmeldedaten
Um ein faires Vermittlungsverfahren für alle Interessierten zu gewährleisten, wurde die zentrale Vermittlungsplattform für die Jugendfreiwilligendienste Kultur und Bildung so konzipiert, dass Einsatzstellen die persönlichen Anmeldedaten der Interessierten (Alter, Name, Adresse, Schulabschluss) vor der Entscheidung für ein Kennenlerngespräch nicht erfahren. Zudem können Interessierte kein Foto von sich beifügen, sodass Einsatzstellen erst in den Kennenlerngesprächen die Personen sehen können. Mit dieser Anonymisierung soll verhindert werden, dass (un-)bewusste Vorurteile und Zuschreibungen über Leistungen und Fähigkeiten schon im Vorfeld der Kennenlerngespräche die Entscheidung in den Einsatzstellen beeinflussen. Damit folgte die BKJ einer Empfehlung der Antidiskriminierungsstelle des Bundes aus dem Jahr 2014 (vgl. Antidiskriminierungsstelle des Bundes 2014).
Die Idee dabei war, bewusst auf den Faktor Zufall zu setzen − dass eine Person, die aufgrund der Anonymisierung eingeladen wird, aber den bisherigen (Leistungs-)Vorstellungen der Einsatzstelle nicht entspricht, durch ihre Präsenz im Kennenlerngespräch überzeugt. Denn die bisherigen Erfahrungen zeigen: Vor der Anonymisierung wurden zum Beispiel Realschüler*innen oder Unter-18-Jährige häufig per se nicht eingeladen. In Einzelfällen wurden sie eingeladen, wenn es keine andere interessierte Person für den Einsatzplatz gab. Diese Personen konnten dann überzeugen und haben oftmals die Perspektive auf Personen ohne Abitur in dieser Einsatzstelle verändert. Mit der Anonymisierung der Anmeldedaten von Interessierten sollten diese Zufälle bewusst herbeigeführt werden.
Dafür spielen die Träger im Prozess der Vermittlung von Interessierten an Einsatzstellen eine wichtige Rolle. Denn das Prozedere des Vermittlungsverfahrens in den Jugendfreiwilligendiensten Kultur und Bildung läuft bei allen Trägern im Trägerverbund gleich ab. Die Interessierten melden sich bis zu einem vorgegebenen Zeitpunkt für die für sie interessanten Einsatzplätze an. Die Träger sichten diese Anmeldungen und schlagen den Einsatzstellen eine vereinbarte Anzahl von Personen vor, mit denen die Einsatzstelle Kennenlerngespräche führen kann. Gibt es mehr Anmeldungen als die vereinbarte Anzahl an Interessierten (was sehr häufig passiert), trifft der Träger eine Auswahl. Im Gegensatz zu den Einsatzstellen kann der Träger dafür die Informationen in der Anmeldung der Interessierten (Alter, Name, Adresse, Schulabschluss) einsehen und als regulierender Akteur zum Beispiel darauf achten, dass junge Menschen ohne Abitur zumindest anteilsmäßig in repräsentativer Form zu Kennenlerngesprächen vorgeschlagen werden. Einsatzstellen erhalten die Personenauswahl des Trägers als anonyme Personennummern mit den dazugehörigen Antworten auf zwei Motivationsfragen, die den Interessierten gestellt wurden. Erst wenn die Einsatzstellen die Person – mit einem im System vorgesehenen zweiten technischen Schritt – einladen, sehen sie ihre Kontaktdaten (Name, Adresse, E-Mail-Adresse, Telefonnummer), um die Einladung auch außerhalb des Systems aussprechen zu können. Personenbezogene Daten wie Alter und Schulabschluss stehen den Einsatzstellen im Vermittlungsverfahren zu keinem Zeitpunkt zur Verfügung.
Die interessierten Jugendlichen begrüßen diese Anonymisierung: Etwa drei Viertel aller Interessierten in den letzten Jahren sehen die Anonymisierung als gute Möglichkeit, um Ausschluss im Vorfeld zu verhindern; so das Ergebnis von Befragungen, die von der BKJ von 2016 bis 2020 bei den Interessent*innen für Einsatzplätze in den Freiwilligendiensten Kultur und Bildung durchgeführt wurden (Rücklauf jeweils 700–900 Personen). Als Illustration seien hier drei Äußerungen der Befragten wiedergegeben:
„Ich finde es für die Chancengleichheit gut, dass Alter und Herkunft zuerst nicht offen für die Einsatzstellen ersichtlich sind. So bekommt jeder eine faire Chance.“ (Jugendliche*r 2016)
„Durch die Anonymität von Alter, Herkunft und Bildung wird jeder Bewerber auf das Wichtige reduziert: Die Motivation am FSJ.“ (Jugendliche*r 2017) „Dieses Bewerbungsverfahren ist ein gelungener Versuch, die häufig ungerechten Bewerbungsverfahren fair zu gestalten. Danke!“ (Jugendliche*r 2020)
Personen, die sich aufgrund ihrer Geschlechtsidentität oder sexuellen Orientierung benachteiligt fühlen, betonen überdurchschnittlich häufig, dass die Anonymisierung im Vermittlungsverfahren ein wichtiger Schritt sei (88 % vs.76 %).
Einsatzstellen waren und sind viel weniger überzeugt, dass eine Anonymisierung im Vermittlungsverfahren eine notwendige Sache ist. So wurden die Einsatzstellen der Freiwilligendienste Kultur und Bildung 2016 befragt, wie sie nach erster Erfahrung die aktuell eingeführte Anonymisierung des Anmeldeverfahrens in den Jugendfreiwilligendiensten beurteilen. Nur etwa ein Drittel der Einsatzstellen sah zu diesem Zeitpunkt in der Anonymisierung ein gutes Instrument, um Diskriminierung vorzubeugen. Ein anderes Drittel der Einsatzstellen dagegen argumentierte, dass durch die Anonymisierung von der Einsatzstelle nicht erkannt werden kann, wer von den „Bewerber*innen“ auf den jeweiligen Einsatzplatz passt (und damit ihren Leistungsansprüchen genügt). Das führt bis heute dazu, dass manche Einsatzstellen das anonymisierte Vermittlungsverfahren umgehen, indem sie zum Beispiel die vermittelten Personen vor einem Kennenlerngespräch anrufen, um zu erfahren, ob sie schon 18 Jahre alt sind oder Abitur haben, um sie dann gegebenenfalls nicht einzuladen.
Auch die Erfahrungen der Träger in den letzten fünf Jahren zeigen, dass ein anonymisiertes Vermittlungsverfahren nur dann gut funktioniert, wenn Einsatzstellen tatsächlich offen sind für Personen mit unterschiedlichen Biografien und Fähigkeiten. Spätestens im Kennenlerngespräch zeigt sich die Haltung und Sensibilität der Einsatzstellen, Interessent*innen unabhängig von Alter, körperlicher oder kognitiver Verfasstheit, rassistischer Zuschreibungen oder Schulabschluss gleiche Chancen zu geben oder sogar Personen zu bevorzugen, die von Diskriminierung betroffen sind (vgl. §5 AGG). Wird im Kennenlerngespräch dagegen immer wieder das sogenannte Self-Cloning betrieben, also die Person ausgewählt, die dem bestehenden Personal am ähnlichsten ist, nützt auch das anonymisierte Vermittlungsverfahren wenig. Damit geht häufig die Einstellung einher, eine Person finden zu wollen, von der die höchste Leistung zu erwarten ist. Hier zeigt sich, dass sich nicht alle Einsatzstellen an Freiwilligendiensten beteiligen, um freiwilliges Engagement zu ermöglichen und jungen Menschen individuelle Entwicklungs- und Orientierungsmöglichkeiten zu geben, sondern zum Teil auch auf der Suche nach einer „vollen“ Arbeitskraft sind. Aus diesem Grund ist es notwendig, von Anfang an und immer wieder mit Einsatzstellen über Arbeitsmarktneutralität und ihre Motivation, einen Freiwilligenplatz zu schaffen, in Austausch zu gehen. Denn es geht darum, die Erwartungshaltungen der Einsatzstellen gemeinsam zu überprüfen: Welchen Menschen werden Leistungen im Vorhinein zugeschrieben und welchen nicht? Welche Entwicklungsräume gestehen Einsatzstellen den Freiwilligen zu? Und wie verstehen Einsatzstellen generell den Freiwilligendienst – als Chance für (junge) Menschen, sich auszuprobieren und davon zu profitieren, oder vor allem als Möglichkeit, günstige Arbeitskräfte zu erhalten?
Um den Engagementcharakter der Freiwilligendienste stärker hervorzuheben, wurde der Sprachgebrauch in Bezug auf das Vermittlungsverfahren verändert. Lange Zeit wurde von Bewerbungsverfahren, Bewerber*innen und Bewerbungsgesprächen gesprochen und damit eine bestimmte Erwartungshaltung bei den Einsatzstellen geweckt. Bewerbungsprozessen im Arbeitskontext ist innewohnend, dass es sich um die Auswahl der qualifiziertesten Person handelt. Doch ein Vermittlungsverfahren im Freiwilligendienst ist kein Bewerbungsverfahren im klassischen Sinne und sollte dementsprechend anders kommuniziert werden. Deshalb können sich „Interessierte“ jetzt auf der zentralen Vermittlungsplattform „anmelden“. Mit den Einsatzstellen führen die Interessierten „Kennenlerngespräche“ und keine Bewerbungsgespräche. Wohlwissend, dass auch diese Maßnahmen nur Teilaspekte darstellen, sollen sie die Haltung bei Trägern und Einsatzstellen befördern, dass es sich beim Vermittlungsverfahren nicht um das Auswahlprozedere für eine bestmögliche Arbeitskraft handelt: Die Motivation und das Interesse einer Person sollten ausreichende Voraussetzungen für einen Einsatzplatz sein.
Die Grenzen der bisherigen Anonymisierung zeigen sich im Punkt der sogenannten Motivationsfragen, die Interessierten gestellt werden: Was interessiert Sie an diesem Platz? Was möchten Sie lernen oder ausprobieren? Aktuell leiten alle Träger des Trägerverbundes Freiwilligendienste Kultur und Bildung die Antworten auf diese Fragen an ihre Einsatzstellen weiter. Damit reagieren sie auf die Forderung der Einsatzstellen, die Anmeldungen vorher besser einschätzen und gegebenenfalls auswählen zu können. Um Vorurteile aufgrund der geschriebenen Motivationstexte bei Einsatzstellen und Trägern auf ein Minimum zu reduzieren, wurde in den Begleittexten auf einfache Sprache geachtet, um allen Personen die Beantwortung dieser Fragen zu erleichtern. Dennoch zeigt die Erfahrung, dass die von den Interessierten verfassten Motivationstexte Zuschreibungen ermöglichen und zum Ausschluss führen können, da die Anonymisierung oft (in-)direkt aufgehoben wird. So nehmen die Antwortenden im Text zum Teil Fakten auf, die Rückschlüsse auf ihre (Schul-)Bildung zulassen wie beispielsweise: „Nach meinem Abitur möchte ich …“, „Schon am Gymnasium habe ich …“. Andere Personen tun sich schwer, die „richtigen“ Worte zu finden. Vor allem Einsatzstellen, die gezielt Menschen mit Bildungs- und Berufserfahrung suchen, treffen auf dieser Basis oftmals eine entsprechende Vorauswahl, ohne im direkten Gespräch mit der Person die Passung bzw. Entwicklungsmöglichkeiten zu prüfen. Perspektivisch wäre hier zu diskutieren, ob auf die Motivationstexte verzichtet werden kann, vollständig oder nur für die Träger sichtbar, damit diese in der Auswahl regulierend eingreifen können.
Zusammenfassend zeigt sich sehr deutlich, dass Einsatzstellen eine wichtige Einflussgröße für den Erfolg der Anonymisierung darstellen. Entscheidend ist ihre Haltung und ob sie als Einsatzstelle bereit sind, durch ihre eigene Platzbesetzung zu mehr Diversität beizutragen. Die Einsatzstellenarbeit der Träger nimmt hier einen zentralen Wert ein: im Angebot von Fortbildungen und Austauschrunden für Einsatzstellen zu Diversität und Diskriminierung, in der konkreten Unterstützung von Einsatzstellen bei der Begleitung von Personen mit Diskriminierungserfahrung sowie in der gezielten Auswahl von Einsatzstellen, die Inklusion und Diversität befördern wollen.
In den Freiwilligendiensten Kultur und Bildung wird aktuell über weitere Schritte nachgedacht, Kooperationspartner*innen werden gesucht und neue Wege geplant. Im Folgenden soll kurz skizziert werden, welche Ideen und Überlegungen aktuell im Zentrum stehen.
Diversitätsbewusstes Vermittlungsverfahren
Um Menschen zu erreichen, die bisher in den Freiwilligendiensten Kultur und Bildung unterrepräsentiert sind, und sie im konkreten Freiwilligendienst gut einzubinden, bedarf es „positiver Maßnahmen“ (Antidiskriminierungsstelle des Bundes 2010), um bisherige Nachteile auszugleichen und erneute Diskriminierung zu verhindern. In den folgenden Überlegungen soll es vor allem um die gezielte Ansprache und Vermittlung von Personen aus marginalisierten Gruppen gehen.
Selbstverpflichtende Orientierungszahlen (Quoten)
Um an dieser wichtigen Schaltstelle anzusetzen, wurde zusätzlich zur Roadmap des Trägerverbundes Freiwilligendienste Kultur und Bildung die Einführung von selbstverpflichtenden Zielvereinbarungen beschlossen. Diese beinhalten pro Träger neben konkreten Maßnahmen zur Diversifizierung eine individuelle Orientierungszahl, die benennt, aus welcher bisher unterrepräsentierten Personengruppe wie viele Personen einen Platz erhalten bzw. welchen Anteil sie an der Gesamtzahl der Freiwilligen ausmachen sollen (Quote).
Viele Träger haben sich in ihrer ersten Zielvereinbarung (Laufzeit 2018−2020) mit der BKJ für eine Orientierungszahl entschieden, die eine Anteilserhöhung für Personen ohne Abitur beinhaltet. Diese Personengruppe ist zum einen nachweisbar im Vermittlungsverfahren benachteiligt (etwa 20 Prozent Interessierte, etwa zehn Prozent erhalten einen Platz), zum anderen kann leicht erhoben werden, wie viele Personen ohne Abitur einen Platz erhalten haben und damit überprüft werden, ob die Orientierungszahl erreicht wurde. Zudem kann der Schulabschluss sehr gut als Ausgangspunkt genutzt werden, um Inklusionsprozesse zu begründen, da sich über das Schulsystem strukturell bereits verschiedene Formen von gesellschaftlicher Diskriminierung (vgl. Bildungsberichterstattung 2018; BMFSFJ 2017) manifestieren.
Die zentrale Vermittlungsplattform in den Freiwilligendiensten Kultur und Bildung wird regelmäßig evaluiert, um zum Beispiel anhand des Schulabschlusses zu erkennen, ob die Freiwilligen eines Jahrgangs die Anmeldesituation widerspiegeln. So lassen sich für den Jahrgang 2020/21 folgende Zahlen gegenüberstellen (vgl. Tabelle 1):
Tabelle 1: Anmeldung und Freiwillige des Jahrgangs 2020/21 (bis 26 Jahre)*
Interessierte |
Freiwillige |
|
ohne Abschluss |
1 % |
0 % |
Hauptschulabschluss |
3 % |
1 % |
Realschulabschluss |
19 % |
13 % |
Abitur |
74 % |
85 % |
anderer Abschluss |
3 % |
1 % |
N= |
5.751 |
2.062 |
* Anmeldungen laut Vermittlungsplattform BKJ v. 31.08.2020, Interessierte/Freiwillige ohne FSJ Ganztagsschule Rheinland-Pfalz (Statistik Anfang des Jahrgangs), Quelle: eigene Darstellung.
In Tabelle 1 ist gut erkennbar, dass Personen mit Abitur eine bessere Vermittlungsquote aufweisen als Personen ohne Abitur. Diese Entwicklung zeigt sich konstant auch für die Jahre davor. Zudem erhalten Personen mit Abitur im Durchschnitt auch mehr Kennenlerngespräche als Personen ohne Abitur. Auch dieses Ergebnis stammt aus den Befragungen, die von der BKJ von 2016 bis 2020 bei den Interessent*innen für Einsatzplätze in den Freiwilligendiensten Kultur und Bildung durchgeführt wurden (Rücklauf jeweils 700−900 Personen).
Träger, die sich in ihrer Zielvereinbarung dafür entscheiden, Personen ohne Abitur zu unterstützen, wollen beispielsweise in Gesprächen mit den Einsatzstellen flexible und spannende Tätigkeitsbereiche für Personen ohne Abitur herausarbeiten und/oder in der Vermittlung gezielt Interessent*innen ohne Abitur den Einsatzstellen vorschlagen.
Im Trägerverbund Freiwilligendienste Kultur und Bildung wird außerdem über weitere Quoten nachgedacht, die zusätzlich marginalisierte Personengruppen in den Blick nehmen, wie zum Beispiel Personen mit Rassismuserfahrungen (BIPOC), Personen mit chronischen Erkrankungen/BeHinderungen oder Personen aus dem queeren (LGBTQI*) Spektrum. Bisher wurden diese sensiblen Daten zum Schutz der Personen in den Freiwilligendiensten Kultur und Bildung nicht erhoben. Der Trägerverbund beschäftigt sich aktuell mit der Erhebung von Gleichstellungsdaten, um Diskriminierung zu erfassen und die Wirkung von Maßnahmen zu überprüfen.
Gezielte Kommunikationsmaßnahmen
Es wird davon ausgegangen, dass viele Personen, die der Trägerverbund mit seinem Freiwilligendienste-Angebot erreichen möchte, entweder nicht von der Möglichkeit und/oder dem Nutzen wissen, den ein Freiwilligendienst bietet, oder sich nicht angesprochen fühlen. Das legen die ungleich verteilten Anteile an Personen mit und ohne Abitur nahe, die sich jedes Jahr bei den Freiwilligendiensten Kultur und Bildung anmelden. So haben sich für den Jahrgang 2020/21 etwa 4.300 Personen mit Abitur auf der Vermittlungsplattform angemeldet und nur etwa 1.300 Personen ohne Abitur; zum Vergleich die Daten der Bildungsberichterstattung 2020: Absolvent*innen 2018 in Deutschland: 40 Prozent mit Abitur, 60 Prozent ohne Abitur (vgl. Bildungsberichtserstattung 2020)
Deshalb ist es wichtig, über Orte nachzudenken, wo Personen angesprochen werden können, die bisher in den Freiwilligendiensten unterrepräsentiert sind. Ein möglicher guter Ort könnte die Schule sein. Davon ausgehend, dass ein Grund die mangelnde Information an den Schulen sein kann, wurde 2020 die Kampagne „findsraus“ von der BKJ ins Leben gerufen. Mit Postkarten, die gezielt an Schulen verteilt werden, die kein Abitur anbieten, sollen Interessierte auf die Möglichkeit des Freiwilligendienstes und die Vermittlungsplattform der Freiwilligendienste Kultur und Bildung aufmerksam gemacht werden.
Aber auch Einsatzstellen können einen Beitrag leisten, um Menschen ohne Abitur direkt anzusprechen und sie zu motivieren, sich für einen Einsatzplatz anzumelden. Dafür können Einsatzstellen in ihren Kursen werben, Informationen aushängen oder auf ihrer Website, in ihren sozialen Netzwerken und im Rahmen ihrer Presse- und Öffentlichkeitsarbeit über die Arbeit und die Projekte der Freiwilligen im eigenen Haus berichten. Das erlaubt Interessierten einen Einblick in die möglichen Tätigkeitsbereiche und Rahmenbedingungen des Freiwilligendienstes.
Kulturorte können dafür ein besonders geeigneter Ort sein, da sie teilweise von unterschiedlichsten Menschen aufgesucht werden. Gerade junge Menschen ohne Abitur, aber auch lebensältere Personen suchen häufig nach einem Einsatzort in ihrer näheren Umgebung. Die direkte Ansprache oder eine gezielte Ansprache über die eigene Website kann hier sehr erfolgreich sein. Um eine Vielfalt von Menschen anzusprechen, ist dafür folgendes zu beachten (vgl. auch BAK FSJ 2019):
- Informationen sollten in einfacher Sprache formuliert sein, wenn möglich zusätzlich in Leichter Sprache;
- anzustreben ist eine diskriminierungsfreie Sprach- und Bildgestaltung sowie gendersensible Sprache;
- unterschiedliche Tätigkeitsbereiche können vorgestellt werden, die zeigen, dass Personen mit unterschiedlichen Fähigkeiten willkommen sind;
- hilfreich sind Interviews oder kurze Statements von Personen, die bisher im Freiwilligendienst unterrepräsentiert sind: Das können ehemalige Freiwillige, aber auch andere freiwillig Engagierte oder hauptamtliche Mitarbeiter*innen der Einrichtung sein;
- die Benennung von einer Ansprechperson/mehreren Ansprechpersonen mit Telefonnummer und/oder E-Mail-Adresse kann die Barriere verringern, Kontakt mit der Einrichtung aufzunehmen.
- zusätzlich ist es nötig, über die Zugänglichkeiten und Barrieren für den jeweiligen Einsatzplatz und die Tätigkeiten im Freiwilligendienst zu informieren. Das schafft Transparenz und erleichtert Personen mit Beeinträchtigungen, selbst zu entscheiden, welcher Einsatzplatz für sie passend ist.
Die Einsatzstellen hier zu ermuntern und auch zu unterstützen muss Aufgabe der Träger sein. Der dadurch möglicherweise entstehende direkte Kontakt zwischen Einsatzstelle und Personen aus marginalisierten Gruppen sollte dann in ein Vorgehen münden, dass gesellschaftlicher Benachteiligung durch gezielte Vorteilsgewährung entgegenwirkt: der Einsatz von Affirmative Action.
Affirmative Action
Unter Affirmative Action versteht man Maßnahmen, die Diskriminierung durch gezielte Vorteilsgewährung und Unterstützung entgegenwirken sollen. Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) spricht hier von Bevorzugung aufgrund von Benachteiligungsausgleich auf Zeit, die sich durch nachweisbare Zielsetzungen in den Organisationen begründen lässt. Das kann zum Beispiel die Förderung und Verbesserung der Qualifikation zur Bekämpfung geringerer Arbeitsmarktchancen sein. Dazu gehören auch präventive Maßnahmen, die benachteiligende Strukturen im Vorfeld beseitigen (vgl. Antidiskriminierungsstelle des Bundes 2010).
Der Trägerverbund Freiwilligendienste Kultur und Bildung nutzt das Prinzip der Affirmative Action in unterschiedlicher Weise. Zum einen bemühen sich die Träger, wie schon beschrieben, junge Menschen ohne Abitur zumindest anteilsmäßig häufiger für Kennenlerngespräche in den Einsatzstellen vorzuschlagen. Zum anderen wurde im Jahrgang 2020/21 eine freiwillige Abfrage im Vermittlungsverfahren eingeführt, die Personen mit Diskriminierungserfahrung ermuntert, individuelle Unterstützung in Anspruch zu nehmen. Diese Maßnahme soll helfen, Personen gezielt und am zentralen Vermittlungsverfahren vorbei an Einsatzstellen zu vermitteln, die sich dafür offen zeigen.
Ausblick
Ziel der BKJ ist es, in ihren Freiwilligendiensten die aktuelle gesellschaftliche Realität abzubilden, die geprägt ist durch eine Vielfalt an Menschen mit unterschiedlichen Biografien, Privilegien und Diskriminierungserfahrungen.
Dafür sind ein diversitätsbewusstes Vermittlungsverfahren sowie der Austausch zwischen Träger und Einsatzstellen essenziell. Nur so können institutionelle, räumliche, sprachliche und persönliche Barrieren identifiziert werden. Das ist die Grundlage, um in der Auswahl von neuen Freiwilligen unfaire Ausschlusskriterien weitestgehend zu verhindern, wie beispielsweise Personen ohne Führerschein oder ohne Abitur nicht einzuladen. Um diversere Personen als bisher für einen Freiwilligendienst auszuwählen, bedarf es zudem in einem weiteren Schritt eine bewusste Ansprache von Personen aus marginalisierten Communitys, die sich für einen Einsatzplatz in den Freiwilligendiensten Kultur und Bildung interessieren. Das ist eine zentrale Herausforderung, der sich der Trägerverbund Freiwilligendienste Kultur und Bildung aktuell stellen muss.
Die „positiven Maßnahmen“ in Bezug auf Inklusion und Diversität bedeuten dabei nicht nur eine Veränderung konkreter Rahmenbedingungen und Strukturen in den Freiwilligendiensten, sie können darüber hinaus nachhaltige Auswirkungen auf Kultur- und Bildungsinstitutionen sowie auf kulturelles Engagement haben. Denn für das freiwillige Engagement in und für Kultur gelingt es bisher weniger gut, gesellschaftlich marginalisierte Gruppen anzusprechen (vgl. BKJ 2017a; BKJ 2019). Wird Personen mit Diskriminierungserfahrungen ein Freiwilligendienst ermöglicht, erhöht sich zumindest die Chance, dass sich diese Personen später auch im Kultur- und Bildungsengagement wiederfinden (vgl. BKJ 2017a).
Auch für die Arbeitswelt kann die Einbindung von Personen aus marginalisierten Gruppen in die Freiwilligendienste einen nachhaltigen Effekt erzeugen. So ist für die Hälfte der jungen Kultur-Freiwilligen ihr Tätigkeitsbereich völlig neu. Das Potenzial zeigt sich darin, dass viele Kultur-Freiwillige durch ihren Freiwilligendienst ein für sich attraktives Berufsfeld entdecken (vgl. BKJ 2017b). Möchten Kultureinrichtungen perspektivisch ihr Personal diversifizieren, kann der Freiwilligendienst ein erster Ansatzpunkt sein, um langfristig Zugänge zu den gewünschten Personengruppen zu schaffen (vgl. Akkoyun et al. 2020). Zudem werden Freiwillige mit Diskriminierungserfahrungen mit ihren Kompetenzen gesehen und in ihrer persönlichen Entwicklung gestärkt. Damit geht die Setzung (neuer) biografischer Ziele einher und möglicherweise eine Ausbildung im Kultur- oder Bildungsbereich. Dass schon damit eine Veränderung bewirkt wird, zeigt die aktuelle Lage zum Beispiel für Kunsthochschulen und kulturwissenschaftliche Studiengänge, die nach Einschätzung von Micossé-Aikins und Sharifi (2017) die gesellschaftliche Vielfalt nicht widerspiegeln.
Inklusion und Diversität in den Freiwilligendiensten zu befördern ist ein wichtiger Prozess. Die Anonymisierung im Vermittlungsverfahren stellt dafür einen möglichen Schritt dar, dessen Grenzen aber gut reflektiert werden müssen. Für ein diversitätsbewusstes Vermittlungsverfahren bedarf es weiterer „positiver Maßnahmen“, um bisherige Nachteile auszugleichen und erneute Diskriminierung zu verhindern. Langjährige und neue Einsatzstellen sind herzlich willkommen, an diesem herausfordernden und sinnstiftenden Prozess mitzuwirken und dafür zu sorgen, dass alle interessierten Personen eine Chance auf einen Einsatzplatz in ihren Einrichtungen erhalten können.