Diversität im Kunst- und Kulturbetrieb: KünstlerInnen mit Behinderungen sichtbar machen. Das Strukturprogramm ARTplus

Artikel-Metadaten

von Angela Müller-Giannetti, Lis Marie Diehl

Erscheinungsjahr: 2018

Peer Reviewed

Abstract

ARTplus ist das Strukturprogramm von EUCREA, dem Dachverband für KünstlerInnen im deutschsprachigen Raum mit Beeinträchtigungen, um die Arbeits- und Ausbildungssituation von KünstlerInnen mit Behinderung in Deutschland zu verbessern. Es zielt darauf ab, mehr Diversität im Kunst und Kulturbetrieb zu erreichen. Ob vor oder hinter den Kulissen: KünstlerInnen mit Beeinträchtigung sollten in allen Bereichen des kulturellen Lebens sichtbar werden – sei es in der Kulturvermittlung, dem künstlerischen Betrieb, der kulturellen Bildung oder der akademischen und nichtakademischen Ausbildung. Um dies in konkrete Handlungsschritte umzusetzen, startete EUCREA inhaltliche und strategische Maßnahmen, die KünstlerInnen mit unterschiedlichen physischen oder psychischen Beeinträchtigungen, Sinnes- oder Lernbeeinträchtigungen den beruflichen Weg in etablierte Kultureinrichtungen und kulturelle Ausbildungsstätten ebnen sollen. Modellhaft werden seit 2015 Programmbausteine entwickelt und erprobt, bundesweit Kooperationspartner eingebunden und Handlungsempfehlungen erarbeitet. Der Beitrag stellt an drei Fallbeispielen vor, wie Kooperationen zwischen Kulturhäusern und KünstlerInnen gelingen können und fasst die Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitung von dem Modell ARTplus Hamburg zusammen.

Zum Hintergrund

Insbesondere in deutschen Metropolen haben sich in den vergangenen drei Jahrzehnten Institutionen, Vereine und Initiativen etabliert, in denen Menschen mit Behinderung als Berufs-KünstlerInnen tätig sind. Meist sind diese Projekte unter dem Dach oder in Kooperation mit einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) organisiert. Dies bietet unter anderem die Möglichkeit, die angestellten Menschen mit Behinderung dauerhaft künstlerisch zu fördern. Nicht zuletzt dieser Kontinuität ist es zu verdanken, dass viele Projekte und einzelne ihnen verbundene KünstlerInnen weit über Deutschland hinaus bekannt geworden sind.

Allerdings sind im Regelbetrieb der privaten und öffentlichen Kultureinrichtungen wie Theatern, Ateliergemeinschaften oder Kunsthochschulen Kreative mit Behinderung kaum oder gar nicht zu finden. KünstlerInnen mit Beeinträchtigungen, Einrichtungen der Behindertenhilfe und des Kulturbetriebs existieren innerhalb der Metropolen in Form von Parallelwelten – Überschneidungspunkte gibt es nur wenige (Vgl: Sauter, Sven/Quinten, Susanne/Krebber-Steinberger, Eva/Schwiertz, Heike:2015/2016).

DarstellerInnen mit Beeinträchtigungen werden z.B. im Theater und Film häufig als „ExotInnen“ wahrgenommen und daher immer wieder in entsprechenden Rollen besetzt. In Kunsthochschulen sind KünstlerInnen mit Beeinträchtigungen als KommilitonInnen oder als Lehrende weitgehend unbekannt. Im Kulturbetrieb bedarf es eines langfristig angelegten Prozesses des Umdenkens: Vielfalt sollte in der Öffentlichkeit als Stärke und nicht als Schwäche wahrgenommen werden (Vgl. Brokamp:2016; Krebber-Steinberger:2016).

Um dies zu erreichen, arbeitet EUCREA daran, dass Menschen mit Beeinträchtigungen, die eine künstlerische Laufbahn einschlagen wollen, mehr Möglichkeiten finden, ihre Talente auszubilden und beruflich zu nutzen – sei es innerhalb oder außerhalb einer WfbM.

Dabei geht es dem Verband nicht darum, einen neuen Ausbildungs- und Veranstaltungsbetrieb zu erfinden, sondern Verbindungen zu bestehenden Institutionen herzustellen und gemeinsam eine neue inklusive Praxis zu entwickeln (Vgl. Keuchel:2016). Das Programm ARTplus ist deshalb als ein Vermittlungsprojekt zu verstehen. Es basiert auf der Annahme, dass Teilhabe dann möglich wird, wenn Kontakte zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Akteuren angebahnt werden, die letztlich Erfahrungen auf allen Seiten ermöglichen.

Modell ARTplus Hamburg

Der Stadtstaat Hamburg dient seit 2015 als Modellregion für das Programm ARTplus. Das Programm wurde u.a. zusammen mit der Behörde für Kultur und Medien Hamburg entwickelt sowie maßgeblich durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien gefördert.

Ziel war zunächst, anhand einzelner Fallbeispiele sichtbar zu machen, wie Kooperationen zwischen Kulturhäusern und KünstlerInnen mit Beeinträchtigungen gelingen können. Hamburg war dafür ein erster Ausgangspunkt, da hier dank der kontinuierlichen Förderung viele Kunstschaffende mit Beeinträchtigung aktiv sind. Sie verfügen über langjährige Erfahrungen als MusikerInnen, SchauspielerInnen oder bildende KünstlerInnen und bewegen sich auf einem professionellen Niveau.

Die Strategie lautete, im lokalen Umfeld zu beginnen, dort, wo bereits Kontakte und AnsprechpartnerInnen vorhanden sind. Zielgruppe für diese erste Arbeitsphase waren zunächst Kunstschaffende, die in einer WfbM arbeiten. Von Bedeutung war es für das Strukturprogramm, in möglichst unterschiedlichen Kunstsparten wie Theater, Tanz, Bildende und angewandte Kunst, Musik zu agieren. Um den Gedanken der Netzwerkbildung zu unterstützen, sollten möglichst unterschiedliche Institutionen in das Vorhaben eingebunden werden: Von privaten bis zu öffentlichen Ausbildungsträgern und Kulturbetrieben bis hin zu den verantwortlichen Stellen in Politik und Verwaltung.

Seit Mitte 2015 sind hier Modelle entstanden, die skizzieren, wie aus ersten Kontakten langfristige Kooperationen werden können. Der Zeitraum von 2015 bis 2016 wurde von Lis Marie Diehl wissenschaftlich begleitet und auf der Basis von Interviews mit den Beteiligten ausgewertet. Im Folgenden werden drei der insgesamt sieben ARTplus-Fallbeispiele vorgestellt, reflektiert sowie die mögliche Perspektive einer weiteren Zusammenarbeit dargestellt.

Beispiel 1: Gasthörerstudium im Fachbereich Freie Bildende Kunst an der Hochschule für Künste im Sozialen Ottersberg

Seit dem Wintersemester 2016/ 2017 sind drei KünstlerInnen aus unterschiedlichen Ateliers als GasthörerInnen im Studiengang Freie Bildende Kunst an der Hochschule für Künste im Sozialen Ottersberg (HKS) eingeschrieben. Zwei der bildenden KünstlerInnen arbeiten im Atelier der Schlumper (Hamburger Atelier für Künstler mit Beeinträchtigungen), einer in der Siebdruckwerkstatt von barner 16. Dieses inklusive Hamburger Künstlernetzwerk ist ein Betrieb der alsterarbeit gGmbH, in dem Kunstschaffende mit und ohne Beeinträchtigungen an künstlerischen Produktionen im Bereich Musik, Film, Tanz und Theater arbeiten. Die HKS ist eine staatlich anerkannte Fachhochschule für angewandte Wissenschaften und Kunst und bietet umfassende künstlerische und künstlerisch angewandte Bildung und Ausbildung an. Zu Beginn der Maßnahme wurde zwischen der HKS und EUCREA intensiv diskutiert, welche Form der Partizipation am Studienbetrieb am besten geeignet sein könnte. Die Kooperationspartner entschieden sich für die Form des Gasthörerstudiums. Dieses ermöglicht zunächst eine unverbindliche Partizipation am Studienbetrieb und schien für eine erste Kennenlernphase beider Seiten angebracht zu sein.

Die bildenden KünstlerInnen der alsterarbeit nahmen am wöchentlichen Theorie-Praxis-Seminar in der Fachklasse eines Professors, an Werkgesprächen sowie weiteren Theorie- und Praxisseminaren teil. Sie werden zeitweise durch eine Assistentin der alsterarbeit begleitet. Trotz ihres Gasthörerstatus erbringen sie die im Studienabschnitt geforderten Leistungsnachweise. Dazu zählt, die eigenen Arbeiten vor den KommilitonInnen vorzustellen, Referate zu halten und an den Ausstellungen der Hochschule mitzuwirken.

Im Zuge der Projektvorbereitungen entstand bei alsterarbeit zunächst ein erheblicher Organisationsaufwand, wie die Mitarbeitenden zurückmeldeten. So mussten z.B. die Fahrt, die Verhandlung der Gasthörergebühren, die Anmeldeformalitäten sowie die personelle Begleitung organisiert werden. Ein weiteres Aufgabenfeld lag darin, die TeilnehmerInnen über die Hochschule, den Ablauf und mögliche Inhalte zu informieren. Gemeinsam wurden Seminare aus dem Vorlesungsverzeichnis diskutiert und ausgewählt.

Die Einbindung in den Seminarbetrieb der HKS hat laut Michael Dörner, Professor im Fachbereich Bildende Kunst, und den befragten Studierenden der HKS gut funktioniert. Die Studierenden lobten die Gestaltung der gemeinsamen Seminare durch die verschiedenen ProfessorInnen. Als positive Rollenvorbilder hätten sie durch ihr klares und wertschätzendes Verhalten im Seminar einen Rahmen für die selbstverständliche Einbindung der drei GasthörerInnen mit Behinderung geschaffen. Die Zusammenarbeit in den Seminaren und der gemeinsame Austausch wurden von allen Befragten positiv bewertet. Auch die KünstlerInnen mit Behinderung beschrieben eine Atmosphäre, in der sie sich – teilweise entgegen ihrer Befürchtungen – schnell willkommen geheißen und nicht fremd gefühlt hätten. Die überschaubare Größe und die familiäre Struktur der HKS Ottersberg wurden u. a. dafür als förderliche Faktoren benannt. Außerdem wurde die bereits bestehende Vielfalt innerhalb der Studierenden als positiv wahrgenommen, um sich schnell wohl zu fühlen.

Die Begleitung durch eine Assistentin wurde von den Gasthörern mit Beeinträchtigungen, aber auch von den Studierenden ohne Behinderung als sinnvoll erlebt. Die Studierenden der HKS konnten so jederzeit in ihrer Rolle als KommilitonInnen agieren, weil die Frage der Assistenz klar geregelt war. Zum Teil hatten sie vor Beginn der Kooperation die Befürchtung gehabt, ungefragt Verantwortung für betreuende Tätigkeit übernehmen zu müssen. Diese Vorbehalte konnten in der durchgeführten Modellphase jedoch bald entkräftet werden. Im Seminar pendelte sich stattdessen eine Form der Unterstützung ein, wie sie an der HKS zwischen den Mitstudierenden ohnehin insgesamt üblich ist. Mit der intensiveren Begleitung zum Semesterbeginn konnte eine gute Basis gelegt werden, so dass die GasthörerInnen mit Beeinträchtigungen im weiteren Verlauf die Hochschule eigenständig besuchen konnten. Als sinnvoll schätzten sie es allerdings ein, dass die Assistentin sie in regelmäßigen Abständen während des Semesters begleitete. In der Wahrnehmung der befragten KünstlerInnen, Fachkräfte sowie Assistentin war der Bedarf an Begleitung individuell sehr unterschiedlich. Dies bezog sich auf den Umfang wie auch auf die Inhalte. Daneben wurde der Struktur ein großer Einfluss zugeschrieben – so könnte der Bedarf an Unterstützung in offenen strukturierten Hochschulen größer sein, als dies an der HKS Ottersberg der Fall war. Art und Umfang von Begleitung sollten insofern immer in Absprache mit dem GasthörerIn mit Behinderung auf die jeweilige Situation zugeschnitten werden.

Die Frage, ob eine gegenseitige Bereicherung im Seminarverlauf stattgefunden habe, wurde von den KünstlerInnen mit Beeinträchtigung sehr unterschiedlich beantwortet. Insbesondere einer der Beteiligten stellte für sich fest, dass er sehr viel aus den Seminaren mitnehmen konnte und das Studium sich positiv auf seine eigene Arbeit ausgewirkt habe. Michael Dörner beschrieb eine zunehmende Tiefe in den Seminargesprächen im Verlauf des ersten Semesters. Auch fiel den Fachkräften aus den Ateliers von alsterarbeit auf, dass die am Gasthörerstudium beteiligten KünstlerInnen ihre Arbeitsweise veränderten, in dem z.B. auf hochwertigeres Material, eine sorgfältigere Vorgehensweise sowie das Ausprobieren neuer Techniken Wert gelegt wurde. Hin und wieder profitierten auch andere Ateliermitglieder indirekt am Gasthörerstudium, da sie ebenfalls angeregt wurden, neues Werkzeug der KollegInnen auszuleihen und zu nutzen.

Der Austausch über Kunst aus verschiedenen Perspektiven wurde von Michael Dörner sowie den befragten Studierenden als Bereicherung für den Seminarverlauf beschrieben: Durch die KommilitonInnen mit Behinderung seien hier spannende Impulse für die Fachgespräche im Seminar hinzugekommen. Die Studierenden empfanden das Kennenlernen der Arbeitsweisen ihrer KommilitonInnen mit Beeinträchtigungen auch als Bereicherung für die eigene künstlerische Auseinandersetzung.

Von den KünstlerInnen mit Beeinträchtigungen sowie den Fachkräften aus den Ateliers von alsterarbeit wurde positiv hervorgehoben, dass dieser inhaltliche Austausch in der Hochschule besonders wertvoll und in der WfbM in dieser Form nicht möglich sei. Die Vermittlung von einzelnen Techniken sei oftmals im Alltag machbar, eine intensive Beschäftigung mit theoretischen Inhalten jedoch kaum. Insofern sei der Input durch das externe Angebot aufgrund der Zusammenarbeit mit ProfessorInnen und Mitstudierenden viel größer. Als weiterer Vorteil wurde auch das Aufbrechen eingespielter Strukturen gesehen. Dadurch würde nicht nur ein Zuwachs an künstlerischem Wissen generiert, sondern es würden auch Erfahrungen in mit dem Studieren verbundenen Bereichen wie der Selbstorganisation ermöglicht.

Perspektive Gasthörerstudium

Aus der Perspektive von Michael Dörner sind alle an die GasthörerInnen gestellten Aufgaben absolut zufriedenstellend erfüllt worden. Auch von den weiteren Lehrenden erhielt er vor allem positive Signale. Gerade auch die DozentInnen, die an der HKS wissenschaftlich arbeiten, waren sehr von der Mitwirkung der GasthörerInnen in den Theorie-Seminaren überrascht. Dies trifft auch auf die befragten KommilitonInnen zu, die neben der künstlerischen Arbeit auch die Beteiligung im Seminar und die Gestaltung der Präsentationen lobend hervorhoben.

Aus Sicht der HKS wäre eine regelhafte Immatrikulation der drei GasthörerInnen möglich, das Gasthörerstudium könnte anstelle einer Aufnahmeprüfung anerkannt werden. Es sollte in diesem Fall genauer ausgearbeitet werden, wie z.B. der zeitliche Rahmen und die Auswahl von Themen flexibilisiert und für die Studierenden mit Behinderung angepasst werden könnten. Bis zum jetzigen Zeitpunkt hat sich noch keiner der GasthörerInnen zu einer regelhaften Immatrikulation entschließen können, auch weil ein regelhaftes Studium mit dem Status einer WfbM-Beschäftigung nicht vereinbar ist. Entscheidet sich eine Person, die in einer WfbM beschäftigt ist, für die Aufnahme eines Studiums oder einer anderen Ausbildung, müsste sie den Rahmen der Werkstatt verlassen. Dieser Schritt könnte außerdem dazu führen, dass Fragen bezüglich der Absicherung des Lebensunterhaltes neu geregelt werden müssten. Als Auszubildende/r oder Studierende/r können unter bestimmten Voraussetzungen Assistenzleistungen zur Teilnahme am Studium über die Integrationsämter gewährt werden. Ein automatisches Rückkehrrecht in die WfbM nach Beendigung der Ausbildung oder des Studiums besteht nicht, die Person müsste sich in diesem Fall einer erneuten Prüfung für die Aufnahme unterziehen.

Aktuell plant EUCREA mit der HKS die Einrichtung weiterer Gasthörerplätze im Bereich der darstellenden Künste. Mittlerweile konnte die Maßnahme des Gasthörerstudiums für KünstlerInnen mit Beeinträchtigung auch in Kooperation mit der Theaterakadamie / Hochschule für Musik und Theater in Hamburg erprobt werden.

Beispiel 2: Regiehospitanzen am Deutschen Schauspielhaus Hamburg, dem Ernst Deutsch Theater sowie dem Ohnsorg Theater

Im Rahmen von Regiehospitanzen erhalten Ensemblemitglieder der Theatergruppe Meine Damen und Herren (MDuH) Einblick in die Entstehung von Produktionen an verschiedenen Hamburger Theatern. Meine Damen und Herren ist Teil des Netzwerks barner 16 und somit der alsterarbeit gGmbH. Die SchauspielerInnen mit Beeinträchtigung sind in Vollzeit bei MDuH künstlerisch tätig.

Die Hospitanzen fanden 2016/2017 zunächst am Deutschen Schauspielhaus statt. In den Vorgesprächen zwischen dem Theater und EUCREA kristallisierte sich das Format der Regiehospitanz als geeignete Form für den Start der Kooperation zwischen dem Theaterensemble und der Spielstätte heraus. Einerseits bieten Regiehospitanzen Weiterbildungsmöglichkeiten für SchauspielerInnen mit Beeinträchtigungen, andererseits wird der Austausch zwischen den Institutionen gefördert. Dies schien besonders für den Schauspieler Dennis Seidel interessant, der seit einigen Jahren selbst kleinere Stücke inszeniert. Daher wuchs sein Interesse, Regiearbeit auch außerhalb des eigenen Ensembles kennenzulernen. Im Herbst 2016 startete die erste Regiehospitanz von Dennis Seidel am Schauspielhaus im Rahmen der Produktion „Tausendundeine Nacht“ (Regie: Markus Bothe, Dramaturgie: Nora Khuon), einem phantasievollen Familienstück mit aufwändigem Bühnen- und Kostümbild und einem relativ großen Ensemble. Um formale Fragen der Hospitanz insbesondere bezüglich der Versicherung zu regeln, wurde ein Praktikumsvertrag zwischen alsterarbeit gGmbH und dem Deutschen Schauspielhaus geschlossen.

Im Durchschnitt besuchte Dennis Seidel an zwei Tagen pro Woche – von Oktober bis zur Premiere Anfang November 2016 – die Proben. Dabei wurde er von einer Assistentin begleitet, die zuvor im Rahmen ihres Studiums der Sozialen Arbeit ein mehrmonatiges Praktikum bei MDuH absolviert hatte. Der Fokus von Dennis Seidel lag vor allem auf der Beobachtung der Regiearbeit von Markus Bothe und zentralen handwerklichen Fragen – zum Beispiel: Wie kann ich eine Probe gut strukturieren oder ein Textbuch führen? Oder: Wie formuliere ich produktiv meine Wünsche und ggf. Kritik gegenüber den SchauspielerInnen? Seine Beobachtungen hielt Dennis Seidel während oder nach jeder Probe in einem Probetagebuch schriftlich fest oder setzte sich in Form von Kostüm- oder Bühnenbild-Zeichnungen mit dem Bühnengeschehen auseinander, die wiederum vom Team als Feedback für die Inszenierung genutzt wurden. Zusätzlich zu den Probenbesuchen erhielt Dennis Seidel einen Einblick in die Arbeit der Maske, der Kostüm- sowie Grafik-Abteilung. Nach Abschluss seiner Regiehospitanz teilte Dennis Seidel in einer öffentlichen Präsentation bei MDuH seine Erfahrungen mit den anderen Ensemblemitgliedern und externen Gästen. Außerdem erstellte er Materialien, wie z.B. Listen und Beobachtungsbögen zu verschiedenen Themen, die zukünftig die Beobachtung von Proben erleichtern sollen.

Zur konkreten Durchführung der Regiehospitanzen äußerten sich alle Beteiligten sehr positiv. Dennis Seidel und Friederike Jaglitz, die als zweite eine Hospitanz beim Jungen Schauspielhaus machte, beschrieben ihre Regiehospitanz als inhaltlich-methodisch und persönlich bereichernde Erfahrung. Auch aus der Perspektive des Produktions-Teams wurde die Hospitanz laut der beteiligten Dramaturgin Nora Khuon als viel weniger kompliziert oder arbeitsintensiv empfunden, als vor Beginn gedacht. Vielmehr wurden der inhaltliche Austausch oder die Reaktionen der MDuH-Schauspieler während der Proben und ihr Feedback, z.B. in Form der Zeichnungen von Dennis Seidel, als Bereicherung beschrieben. Außerdem lieferte die Kooperation laut Nora Khuon spannende Impulse, die eigenen Formen der Zusammenarbeit oder bestimmte Konventionen des Theaterbetriebes neu zu reflektieren. Alle Befragten meldeten zudem einen guten und selbstverständlichen Austausch auf der zwischenmenschlichen Ebene zurück, der sich nicht nur auf die Dramaturgin Nora Khuon als direkte Ansprechpartnerin, sondern auf das gesamte Team der Produktionen bezog.

In die Arbeit des MDuH-Ensembles hinein wurden ebenfalls positive Auswirkungen festgestellt: So konnten bestimmte handwerkliche Aspekte übertragen werden, z.B. werden Textbücher nun anders angelegt und Proben in den „Eigen-Regie-Projekten“, die verschiedene Ensemblemitglieder im Alltag verfolgen, besser strukturiert. Darüber hinaus freut sich das gesamte Ensemble über die neue Möglichkeit, am Deutschen Schauspielhaus hospitieren zu können. Die positiven Erfahrungen der KollegInnen bestärken noch nicht beteiligte Mitglieder darin, einen solchen Schritt für sich in Erwägung zu ziehen. Darüber hinaus weitet der „Blick über den Tellerrand“ das Spektrum bekannter Arbeitsweisen des Theaters bei den HospitantInnen. Diese Möglichkeit des Vergleichs erlaubt es, die eigene Arbeit in der Gruppe neu zu hinterfragen. Auf diese Weise haben die externen Regiehospitanzen das Potential, Prozesse der konzeptionellen Weiterentwicklung und des Nachdenkens darüber, wie im Ensemble zusammengearbeitet wird, anzustoßen. Der Transfer in den Alltag und die umfassende Nutzung dieser Effekte bedürfen jedoch einer aktiven Nachbereitung und Reflexion. Sie benötigen Zeitressourcen, die im Arbeitsalltag häufig nicht vorhanden sind.

Insgesamt zeigte sich, dass bei der Planung und der Begleitung der Regiehospitanzen sehr individuell vorgegangen werden muss. Um eine erfolgreiche Durchführung gewährleisten zu können, sollte eine passgenaue Planung erstellt werden, die die jeweilige Konstellation aus beteiligten Persönlichkeiten, Thema, Arbeitsweisen sowie organisatorischen Rahmenbedingungen der jeweiligen Produktion berücksichtigt. Generell wurde eine gute Begleitung insbesondere zu Beginn einer neuen Hospitanz von allen Beteiligten als wichtig eingeschätzt. Der Assistenzbedarf der beteiligten SchauspielerInnen bezog sich dabei weniger auf z.B. Fragen der Orientierung in fremden Gebäuden. Vielmehr bedurfte es der Unterstützung bei der Durchführung der Beobachtungen oder beim Aufrechterhalten von Konzentration. Auch war es ein Thema, wie man sich als HospitantIn in verschiedenen Situationen angemessen verhält, wann z.B. ein guter Moment ist, um den RegisseurIn etwas zu fragen oder man in einer Probe kurz aufstehen und den Raum verlassen kann. In der Auswertung erwies sich auch die Besetzung der AssistentInnen, die die SchauspielerInnen während ihrer Zeit im Schauspielhaus begleiteten, als zentraler Faktor für das Gelingen der Hospitanzen. Es ist von Vorteil, wenn die Assistenzperson über eigene grundlegende Vorerfahrungen im Bereich Theater verfügt, ein inhaltliches Eigeninteresse an der Begleitung der Hospitanz mitbringt sowie den HospitantIn und die Strukturen des inklusiven Theaterensembles bereits kennt. Auch kann es sinnvoll sein, den HospitantIn in die Auswahl des AssistentIn einzubeziehen.

Perspektive Regiehospitanz

Während Dennis Seidel zu Beginn von ARTplus der einzige Interessent für eine Regiehospitanz am Schauspielhaus war, hatte seine Initiative auch innerhalb des Ensembles eine mitreißende Wirkung. Immer mehr SchauspielerInnen äußerten ihr Interesse daran, einen persönlichen Einblick in die Welt der Theater zu bekommen. Inzwischen sind zahlreiche weitere Hospitanzen durchgeführt worden. Auch das Ernst Deutsch Theater und die Hamburger Traditionsbühne Ohnsorg Theater bieten mittlerweile Hospitationen für SchauspielerInnen mit Beeinträchtigungen in ihrem Theaterbetrieb an.

Im Frühjahr 2017 absolvierte Dennis Seidel eine weitere Regiehospitanz am Deutschen Schauspielhaus: In der Produktion „Katastrophenstimmung“ von Schorsch Kamerun wurde er allerdings im Laufe der Proben zum Akteur und ist seitdem an allen Vorstellungen des Stückes beteiligt. Dennis Seidel hat seine Erfahrungen aus dem Schauspielhaus inzwischen nutzen können und seine erste Regie-Arbeit mit Ensemble „Der Tag an dem Kennedy ermordet und Mimmi Kennedy Präsidentin wurde“ im Rahmen des No-Limits-Festivals Berlin im November 2017 präsentiert. Seine Tätigkeit als Regisseur wird durch die Fachkräfte des MDuH-Teams unterstützt.

Beispiel 3: Berufsbegleitende Fortbildung am Hamburger Konservatorium

Ab Oktober 2016 nahmen zunächst sechs MusikerInnen des Künstlernetzwerkes barner 16 zwei Semester lang an einer berufsbegleitenden Qualifizierung am Hamburger Konservatorium teil. Das Hamburger Konservatorium ist eine der wichtigsten Bildungseinrichtungen im Bereich Musik in Hamburg. Es verfügt über einen öffentlichen Musikschulbereich sowie einen akademischen Ausbildungsbetrieb.

Ausgangspunkt für die Kooperation war die Situation, dass die MusikerInnen von barner 16 zwar täglich mit Ansprüchen an professionelle MusikerInnen konfrontiert sind, in der Regel jedoch nur wenig Gelegenheit hatten, ihre musikalischen Fähigkeiten in regulären Bildungsinstitutionen wie Musikschulen zu qualifizieren. Auch im Alltag von barner 16 kann im Rahmen der Möglichkeiten einer WfbM individuelle Bildung, wie etwa Instrumentalunterricht, nur begrenzt angeboten werden. In den ersten Kontaktgesprächen zwischen dem Hamburger Konservatorium und EUCREA wurde zunächst geklärt, dass beide Kooperationspartner nicht die Einrichtung eines „Sonderangebotes“ speziell für MusikerInnen mit Beeinträchtigung wünschen. Als wichtig erachtete das Konservatorium es allerdings, die musikalischen Fähigkeiten der einzelnen TeilnehmerInnen zunächst kennenzulernen, um im nächsten Schritt zu einer Einschätzung zu gelangen, welche weiterführenden Angebote des Konservatoriums für die Einzelnen geeignet sein könnten. So wurden im ersten Semester mit den Musikern Grundlagen in den Bereichen Musiktheorie, Stimmbildung und Rhythmik erarbeitet. Im zweiten Semester wurde das Programm um die Teilnahme an regulären Seminaren aus dem Studienangebot des Konservatoriums erweitert. Die Fortbildung wurde im Juni 2017 mit einem gemeinsamen Auftritt bei der Jazz Night in der Kulturkirche Altona abgeschlossen.

Die Einrichtung der berufsbegleitenden Fortbildung stellte sich zunächst als ein Format mit relativ weitreichenden Folgen für die organisatorischen Strukturen der beiden Kooperationspartner heraus: Da beide bereits einen sehr komplexen und eng getakteten Zeit- und Raumplan haben, bildeten die organisatorischen Vorbereitungen eine Herausforderung. Diese Hürde konnte aber aufgrund der Geduld und dem hohen Interesse aller Beteiligten überwunden werden. Dennoch zeigte sich, dass bei solch umfangreichen Kooperationen ein besonderer Fokus auf vorbereitende Treffen und der umfassenden Kommunikation über die jeweiligen Rahmenbedingungen sowie deren Auswirkungen liegen sollte. Dabei stellte sich heraus, dass die Bandbreite relevanter Fragen von vermeintlich banalen Aspekten bis hin zu komplexen strukturellen Themen reichte: Dies waren einerseits Gewohnheiten der MusikerInnen von barner 16 im Tagesablauf, beispielsweise eine feste Mittagspause um 13.00 Uhr. Andererseits aber auch Informationen darüber, wie eine WfbM funktioniert – dass etwa mit der musikalischen Arbeit bei barner 16 ein bestimmtes wirtschaftliches Ergebnis erzielt werden muss und die Aktivitäten nicht nur der Beschäftigung von Menschen mit Behinderung dienen. Auch spielten nicht nur die strukturellen, sondern auch die künstlerischen Ausrichtungen der Projektpartner eine Rolle: Z.B. ergeben sich aus der Orientierung an Sparten, wie Pop, Klassik oder Jazz, bestimmte „Selbstverständlichkeiten“ im alltäglichen Handeln oder im Gebrauch von Sprache. So wurden einige Begriffe in den beiden Institutionen sehr unterschiedlich verwendet und bewertet. Alle diese Aspekte hatten Einfluss auf die Kommunikation, die Planung und die Durchführung des Angebotes und sollten daher gemeinsam reflektiert werden. Außerdem sollte großer Wert darauf gelegt werden, die Teilnehmenden im Vorfeld über die geplante Kooperation zu informieren. Zwar besuchten die DozentInnen des Konservatoriums barner 16 zum gegenseitigen Kennenlernen, dennoch hätten die befragten MusikerInnen gerne mehr über die Institution Konservatorium, die einzelnen DozentInnen wie auch die Durchführung der Fortbildung gewusst.

Die Möglichkeit, das Projekt von zwei FSJKlerinnen, Freiwillige des Sozialen Jahres Kultur, aus der barner 16 begleiten zu lassen, war aus der Sicht aller Beteiligten sehr wertvoll, da sie die Teilnehmenden kannten und ein eigenes kulturelles Interesse mitbrachten. Außerdem wäre eine regelmäßige Begleitung der Fortbildung durch die festangestellten Fachkräfte von barner 16 zeitlich nicht umsetzbar gewesen. Sinnvoll war eine Begleitung vor allem deswegen, weil die Assistentinnen den Transfer der Lerninhalte in den Arbeitsalltag sowie den organisatorischen Austausch der beiden Institutionen unterstützen konnten.

Nachdem sich das Angebot nach einigen Wochen etabliert hatte, beschrieben alle Beteiligten einen positiven Verlauf in der konkreten Zusammenarbeit und einen großen inhaltlichen Gewinn. Diese Zusammenarbeit auf der persönlichen Ebene wurde von den MusikerInnen mit Beeinträchtigungen sowie von den DozentInnen und der Leitung des Konservatoriums als überraschend leichter beschrieben als zuvor erwartet. Die Arbeit der DozentInnen des Konservatoriums wurde von den MusikerInnen und Fachkräften von barner 16 besonders lobend hervorgehoben. So war den Teilnehmenden zwar bewusst, dass die DozentInnen bisher keine Erfahrung in der Arbeit mit Menschen mit Beeinträchtigungen hatten, jedoch wurden deren Offenheit und Engagement, die Vermittlung der Lerninhalte auf die Bedarfe in der Gruppe anzupassen, sehr positiv bewertet. Beispielsweise hatte ein Dozent dreidimensionale Hilfsmittel konzipiert, um den blinden Teilnehmenden bestimmte musiktheoretische Inhalte zugänglich zu machen. Auch aus der Sicht des Konservatoriums wurde die Kooperation als erfreulicher Zugewinn und Bereicherung der Institution betrachtet. Die Mitwirkung am Modellversuch sei eine Möglichkeit, die eigene Perspektive zu erweitern. Daneben schätzte Markus Menke, Leiter der Musikhochschule, es als sehr wertvoll ein, den SchülerInnen und DozentInnen die Möglichkeit zu eröffnen, mit MusikerInnen mit Beeinträchtigungen zusammen zu arbeiten. Auch Anselm Simon, Musiker und Dozent Hamburger Konservatorium, empfand die Arbeit in der Fortbildung als persönlich bereichernd. Außerdem konnte er auf fachlicher Ebene, etwa in Bezug auf das methodische Vorgehen, neue Erkenntnisse gewinnen und so auch persönlich von der Kooperation profitieren.

Von den befragten MusikerInnen und Fachkräften von barner 16 wurden die Auswahl der Lerninhalte sowie die Möglichkeit, in einer konzentrierten Atmosphäre gezielt an Bildungsinhalten arbeiten zu können, besonders positiv hervorgehoben. Dies sei deshalb so wertvoll, weil in der Fortbildung die Möglichkeit bestehe, Inhalte zu vermitteln, die im Alltag aus strukturellen Gründen nur sehr rudimentär behandelt werden könnten. Insbesondere die Musiktheorie spielte hier eine große Rolle. Der Bereich Harmonielehre z.B. sei deswegen wichtig, weil es in der Berufspraxis hilfreich sei, die Strukturen eines Popsongs analysieren zu können. Als Gewinn empfanden die Teilnehmenden für sich, dass die Qualifizierung sie zu einem bewussteren Umgang mit einigen theoretischen wie praktischen Aspekten des Musizierens geführt habe. Eine weitere wesentliche Erkenntnis sei gewesen, dass manches, was zu Beginn sehr kompliziert gewirkt habe, wie etwa bestimmte Taktarten, mit der Zeit spürbar einfacher geworden wäre.

Nicht zuletzt wurde der Besuch einer externen und renommierten Bildungsinstitution wie dem Hamburger Konservatorium von den MusikerInnen als wichtiger Aspekt benannt. Insbesondere auch deshalb, weil damit ein „Tapetenwechsel“ und ein temporäres Heraustreten aus dem Alltag möglich seien. Auch hatte die Fortbildung bereits erste Auswirkungen auf den Alltag bei barner 16, beispielsweise wurden im Konservatorium erlernte Übungen aus den Bereichen Stimmtraining und Rhythmik in das tägliche Einsingen integriert. Im späteren Qualifizierungsverlauf trafen sich die teilnehmenden MusikerInnen einmal pro Woche zusätzlich bei barner 16, um gemeinsam die Inhalte der Fortbildung nachzubereiten. Dennoch wurde der Transfer der Fortbildung in den Alltag, vor allem die Vor- und Nachbereitung des Gelernten, von den Fachkräften der barner 16 als große und nicht endgültig gelöste Herausforderung beschrieben – nicht zuletzt aufgrund einer Raumsituation, die das Arbeiten in Gruppen, nicht jedoch individuelles Arbeiten oder Üben erlaubt. Generell meldeten die befragten MusikerInnen von barner 16 ein großes Interesse an musikalischer Weiterbildung zurück. Sie zogen konkrete Verbindungen zu ihrer Arbeit und benannten einzelne Situationen, in denen das erlernte Wissen aus der Fortbildung im Arbeitsalltag oder in Bühnensituationen hilfreich gewesen war. Allerdings wurde auch von ihnen beschrieben, dass es noch schwierig sei, die Inhalte umfassend auf die eigene Arbeit zu übertragen.

Perspektive berufbegleitende Fortbildung

Seit Oktober 2016 hat sich die Zahl der TeilnehmerInnen mit Beeinträchtigungen am Hamburger Konservatorium auf 12 verdoppelt. Davon sind sechs Personen mit einem WfbM-Arbeitsvertrag bei barner 16 beschäftigt. Die weiteren sechs Personen befinden sich noch im sogenannten Berufsbildungsbereich bei barner 16 / alsterarbeit gGmbH.

Der Berufsbildungsbereich ist eine zweijährige Qualifizierungsmaßnahme, die der dauerhaften Beschäftigung in einer WfbM vorangeht. In der Regel ist der Berufsbildungsbereich so organisiert, dass neben allgemeinbildenden Ausbildungsinhalten fachspezifische Inhalte und Tätigkeiten im Sinne eines „training on the job“, also des Anlernens in den regulären Werkstatt-Gruppen, vermittelt werden. Individuelle und kunstbezogene Inhalte, wie etwa Einzelunterricht auf dem Instrument oder Harmonielehre, können nur sehr begrenzt zusätzlich zum Arbeitsalltag angeboten werden. Daher wurden von barner 16 seit langem eine Ausweitung dieser Möglichkeiten und die Verbesserung des Bildungsangebotes für junge Kunstschaffende während ihrer Qualifizierungszeit gewünscht. Durch die Erfahrungen mit ARTplus konnte erreicht werden, dass die Fortbildung am Konservatorium nun fester Bestandteil des Berufsbildungsbereiches bei barner 16 ist. Dabei bewährt sich für alsterarbeit im künstlerischen Bereich die bereits eingeschlagene Strategie, Bildungsleistungen in Kooperation mit externen Partnern – wie in diesem Falle dem Hamburger Konservatorium – durchzuführen. Aktuell wird diese Maßnahme über Spenden finanziert.

Resümee als Handlungsempfehlung: Vielfalt bereichert und Strukturen lassen sich beeinflussen, aber: Es braucht die richtigen Rahmenbedingungen

So unterschiedlich die Fallbeispiele des Modellprojekts in Hamburg von 2015 bis 2017 waren, so lassen sich dennoch einige übergreifende Erkenntnisse auf der Umsetzungsebene ableiten. Auch wenn sich einiges in der Durchführung als Herausforderung erwiesen hat: Bei der konkreten Zusammenarbeit der Projektbeteiligten mit und ohne Behinderung hat nahezu alles reibungslos funktioniert. In allen Fallbeispielen wurde diese Zusammenarbeit grundsätzlich positiv und als künstlerisch-inhaltlicher wie persönlicher Gewinn wahrgenommen. Das Ideal, Vielfalt als Bereicherung zu erleben, scheint sich an vielen Stellen eingelöst zu haben. So äußern alle Gruppen von Mitwirkenden im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitung, dass sie von der Teilnahme profitiert haben: Durch einen Zuwachs an konkretem Wissen, einer Erweiterung von Möglichkeiten und Kontakten, einer Bereicherung des Lernumfeldes oder spannenden Impulsen für künstlerische Diskussionen. Allen gemeinsam war die Erkenntnis: Es ist inspirierend und macht Freude zusammen zu arbeiten.

Allerdings kann auch festgehalten werden, dass, je weniger Erfahrungdie Institutionen bislang mit Menschen mit Behinderungen hatten, desto mehr Vorbehalte bestanden im Vorfeld. Zu Beginn gab es bei den angesprochenen Institutionen zwar mehr Offenheit als erwartet, aber auch mehr Unsicherheit und Vorbehalte gegenüber der Einbindung von Kunstschaffenden mit Behinderung. Vorbehalte gab es ebenso auf Seiten der Kunstschaffenden selbst oder der Fachkräfte aus den Künstlergruppen in den WfbM hinsichtlich der Arbeit in einer externen Institution. Insgesamt zeigte sich, die Vorbehalte waren umso größer, je weniger Erfahrungen es in inklusiven Arbeitszusammenhängen gab. Bei der Durchführung erwies sich vor allen Dingen eine individuelle Herangehensweise als Grundlage für den Erfolg, die nicht nur die Verschiedenheiten der beteiligten Personen, sondern auch der Institutionen berücksichtigt. Auch berichteten die meisten Mitwirkenden, die Zusammenarbeit sei erheblich unkomplizierter verlaufen, als vorher erwartet bzw. befürchtet wurde. So baute die praktische Erfahrung miteinander Vorurteile und Berührungsängste ab und öffnete Spielräume für neue Kooperationsmöglichkeiten. Zum Projektende planten alle Beteiligten eine Fortsetzung und Ausweitung der Zusammenarbeit. So kann festgehalten werden: Gute Erfahrungen öffnen Spielräume.

Deutlich wurde, dass Inklusion im Kultur- und Bildungsbereich kein „Selbstgänger“ ist. Eine Kooperation gelingt nicht von selbst, sondern es braucht die richtigen Rahmenbedingungen dafür. So spielten etwa die Themen Assistenz, Information und Kommunikation eine wichtige Rolle.

Ein flächendeckender Veränderungsprozess kann nur begrenzt aus den einzelnen Institutionen heraus gestaltet werden. Vielmehr bedarf es einer gezielten Förderung, um die bestehende Offenheit in verschiedenen Institutionen zu nutzen, stabile Netzwerke zwischen den Akteuren zu etablieren und übergeordnet Veränderungen von Strukturen im Kultur- und Bildungsbereich, aber auch im System der Behindertenhilfe zu bewirken. Hier wird es einerseits auf das Engagement und die Initiative von Institutionen, Gruppen oder Einzelpersonen ankommen, diesen Prozess mit konkreten Projekten und kreativen Ansätzen mitzugestalten. Der politische Wille dazu ist jedoch unabdingbar, um diese Entwicklung zu fördern und voranzutreiben.

ARTplus hat im Zuge der Durchführung eine Vielzahl an praktischen, politischen, aber auch theoretischen Fragen aufgeworfen, die hier nur angerissen werden können, in Zukunft jedoch ausführlicher bearbeitet werden sollten. Beispielsweise hat sich einmal mehr erwiesen, dass inklusive Kulturarbeit Aspekte aus verschiedenen Disziplinen wie Kultur und Sozialrecht berühren Hier stellt sich einerseits die Frage, wie zukünftig auf der politischen Ebene ressortübergreifendes Denken gefördert werden kann, um diesem Bedarf zu begegnen. Andererseits müssten Lösungen entwickelt werden, um in der Praxis die Expertise aus den verschiedenen Bereichen gezielt so zusammen zu bringen, dass durch deren Kombination innovative Lösungen entwickelt werden können. Denn oftmals kollidiert künstlerisches Arbeiten mit einer herkömmlichen Ausgestaltung von Rehabilitationsmaßnahmen, die sich an betrieblichen Strukturen in Handwerks- bzw. Dienstleistungsberufen orientieren. Oder den Möglichkeiten externer Ausbildung sind aufgrund des WfbM-Status der Beteiligten Grenzen gesetzt. Hier wären neuartige, flexiblere Konstruktionen nötig, die sich allerdings nur mit einer fundierten Kenntnis sozialrechtlicher Möglichkeiten entwickeln lassen. Gleichzeitig bedarf es jedoch einer guten Vernetzung mit Kultur- bzw. Bildungsinstitutionen sowie der entsprechenden Fachlichkeit, um solche Konstruktionen mit Inhalt zu füllen und in der Praxis umzusetzen.

Auch das Zusammenführen von Kooperationspartnern stellt eine wichtige Zukunftsaufgabe dar: Wie kann der Austausch zwischen Bildungs- oder Kulturinstitutionen und Kunstschaffenden mit Be- hinderung oder Künstlergruppen in WfbM so gefördert werden, dass sich Kooperationen nahezu automatisch ergeben und es nicht mehr einer langwierigen Recherchephase bedarf, bis sich geeignete Partner gefunden haben?

Gerade im Übergang von Schule und Beruf kann dieser Vermittlungsaspekt besonders relevant sein. Denn hier finden SchulabgängerInnen mit Behinderung keine AnsprechpartnerInnen außerhalb von WfbM, die gleichermaßen über Kontakte zu Kulturinstitutionen sowie sozialrechtliche und künstlerische Expertise verfügen. Die existierenden Anlaufstellen, wie z. B. Integrationsfachdienste, sind in der Regel nicht im Kulturbetrieb vernetzt und können daher keine vermittelnde Funktion übernehmen, wie dies bei den beteiligten Künstlergruppen im ARTplus-Programm der Fall war. Die Situation erheblich verbessern könnte die Einrichtung einer bundesweiten Servicestelle, die sowohl KünstlerInnen mit Beeinträchtigung berät bzw. vermittelt sowie Ansprechpartnerin und Beraterin für Kulturinstitutionen sein kann.

Sehr komplex ist sicherlich die Frage, wie flächendeckende Umstrukturierungsprozesse in Richtung Inklusion im WfbM-, Bildungs- und Kulturbereich übergeordnet bestmöglich gestaltet und begleitet werden können: Wie können dabei auch sozialrechtliche Hürden überwunden werden, die aktuell noch praktisch machbare Lösungen verhindern oder erschweren? Dabei wird noch abzuwarten sein, welche neuen Möglichkeiten sich aus dem Bundesteilhabegesetz ergeben.

Und was passiert an den Grenzen der Freiwilligkeit? Welche Strategien und Instrumente lassen sich entwickeln, wenn sich Institutionen, seien es WfbM oder Kultureinrichtungen, langfristig einer Veränderung in Richtung Inklusion entziehen? Die Erfahrungen bei ARTplus haben gezeigt, dass es durchaus hilfreich wäre, wenn hier an einigen Stellen eine größere Verbindlichkeit auf der Ebene der Gesetzgebung sowie der politischen Umsetzung erreicht werden könnte - eventuell mittels Quote.

Aber auch die inhaltliche Ebene bietet viele Anlässe für spannende und wichtige Diskussionen: Welche neuen künstlerischen Arbeitsweisen und Formen können zukünftig in inklusiven Arbeitszusammenhängen geschaffen werden? Wie kann das Thema Inklusion weniger als Verpflichtung, sondern vielmehr als kreative Gestaltungsaufgabe betrachtet werden? Wie müssen Curricula oder Rahmenbedingungen an Hochschulen ggf. angepasst werden? Aber auch: Welcher Bildungsbegriff liegt überhaupt zugrunde? Geht es um einen individuellen Bildungsprozess oder die Anpassung an gesellschaftliche Normen?

Die Handlungsempfehlungen von ARTplus möchten Inspiration und Ermutigung sein. Sie bieten Anknüpfungspunkte für einen Diskussions- und Entwicklungsprozess, der von möglichst vielen verschiedenen Akteuren mitgestaltet werden sollte und zu dem EUCREA als Dachverband auch weiterhin beitragen wird. Mit den hier dokumentierten Erfahrungen möchte EUCREA eine Unterstützung für diejenigen sein, die sich ebenfalls an diesem Prozess beteiligten möchten. Die Handlungsempfehlungen erheben allerdings keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Sie sind als Hilfestellung zu verstehen, die vielleicht die Aufmerksamkeit für bestimmte Aspekte an der ein oder anderen Stelle erhöhen und so die Projektplanung erleichtern können. Die Empfehlungen sind ausdrücklich nicht als Checkliste gedacht, die für eine erfolgreiche Umsetzung abgearbeitet werden muss.

Vielmehr möchte EUCREA den Erkenntnisgewinn zur Verfügung stellen. Denn einige der im Resümee angesprochenen Punkte sind auch bei der Planung von ARTplus nicht von Vornherein berücksichtigt worden. Es gab Probleme und Erfahrungen mussten gesammelt werden. Aufgrund der positiven Grundeinstellung der Projektbeteiligten ließen sich die Herausforderungen jedoch lösen und standen einem positiven Gesamtergebnis letztlich nicht im Wege. In diesem Sinne sollen die Beispiele aus dem Modellversuch als Inspiration und Ermutigung dienen, sich auf den Weg zu machen, eigene Erfahrungen zu sammeln und neue Lösungen an anderen Orten zu finden.Abschließend soll hier ein Tipp aufgegriffen werden, den Projektbeteiligte immer wieder geäußert haben: „Einfach machen, den perfekten Zeitpunkt gibt es nicht!“ Denn auch ein kleiner Schritt kann der Start eines Prozesses sein, in dem größere Schritte noch folgen können.

Weitere Informationen und Publikationen zu ARTplus mit ausführlichen Beschreibungen der Fallbeispiele sowie den Ergebnissen der wissenschaftlichen Begleitung sind im Internet veröffentlicht >>> http://www.eucrea.de/index.php/artplus-aktuell/artplus-ablauf.

 

Verwendete Literatur

Brokamp, Barbara (2016): Inklusion als Aufgabe und Chance für Alle. In: Wissensplattform Kulturelle Bildung Online: https://www.kubi-online.de/artikel/inklusion-aufgabe-chance-alle (letzter Zugriff am 13. Februar 2018).

Keuchel, Susanne (2016): Zur Diskussion der Begriffe Diversität und Inklusion – mit einem Fokus der Verwendung und Entwicklung beider Begriffe in Kultur und Kultureller Bildung. In: Wissensplattform Kulturelle Bildung Online: https://www.kubi-online.de/artikel/zur-diskussion-begriffe-diversitaet-inklusion-einem-fokus-verwendung-entwicklung-beider (letzter Zugriff am 13. Februar 2018).

Krebber-Steinberger, Eva (2016): Inklusion braucht einen Perspektivwechsel – Dimensionen gelingender inklusiver musikkultureller Bildung. In: Wissensplattform Kulturelle Bildung Online: https://www.kubi-online.de/artikel/inklusion-braucht-einen-perspektivwechsel-dimensionen-gelingender-inklusiver (letzter Zugriff am 13. Februar 2018).

Sauter, Sven/Quinten, Susanne/Krebber-Steinberger, Eva/Schwiertz, Heike (2015/2016): Im Zwischenraum: Kunst, Behinderung und Inklusion. In: Wissensplattform Kulturelle Bildung Online: https://www.kubi-online.de/artikel/zwischenraum-kunst-behinderung-inklusion (letzter Zugriff am 13. Februar 2018).

Anmerkungen

Weitere Informationen zu EUCREA Verband Kunst und Behinderung:
EUCREA wurde 1989 gegründet und ist seit fast dreißig Jahren der Dachverband zur Vertretung der Interessen von KünstlerInnen mit Beeinträchtigungen im deutschsprachigen Raum. Bei den fast 100 Mitgliedern in Deutschland, Österreich und der Schweiz handelt es sich um KünstlerInnen mit und ohne Behinderung, Interessenvertretungen, Kunstateliers, Stiftungen u.v.m. Die Menschen hinter EUCREA sind davon überzeugt, dass Kunst und Kultur an Vielfalt gewinnen, wenn das kreative Potenzial aller Mitglieder einer Gesellschaft berücksichtigt wird. Kunst sollte für jeden Menschen zugänglich sein. Um dieses Ziel zu erreichen, entwickelt EUCREA modellhaft Projekte, die sichtbar machen sollen, wie Inklusion im Kunst- und Kulturbetrieb stattfinden kann. EUCREA sensibilisiert Kunstschaffende, Kulturinstitutionen, Politik und Verwaltung für die Potenziale von KünstlerInnen mit Beeinträchtigung, regt Kooperationen an und arbeitet an der Weiterentwicklung von Ausbildungsmöglichkeiten und Beschäftigungsfeldern. Mit seinen regelmäßig stattfindenden Fachtagungen und Veröffentlichungen ist EUCREA die zentrale Diskussions- und Kommunikationsplattform zum Thema und prägt und moderiert die aktuelle Diskussion – sei es in künstlerischer, politischer oder methodischer Hinsicht. Auf künstlerischer Ebene arbeitet EUCREA engagiert an Veranstaltungsideen in allen Kunstsparten, die Vielfalt anregen, Sehgewohnheiten verändern oder neue Dialoge auslösen. Link zu http://eucrea.de
Weitere Informationen zu ARTplus Hamburg:
Ein Programm in Kooperation mit der Kulturbehörde Hamburg und alsterarbeit gGmbH. Gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages und der Gebr. Heinemann SE & Co. KG

Zitieren

Gerne dürfen Sie aus diesem Artikel zitieren. Folgende Angaben sind zusammenhängend mit dem Zitat zu nennen:

Angela Müller-Giannetti, Lis Marie Diehl (2018): Diversität im Kunst- und Kulturbetrieb: KünstlerInnen mit Behinderungen sichtbar machen. Das Strukturprogramm ARTplus . In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE: https://www.kubi-online.de/artikel/diversitaet-kunst-kulturbetrieb-kuenstlerinnen-behinderungen-sichtbar-machen (letzter Zugriff am 14.09.2021).

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Dieser Artikel wurde dauerhaft referenzier- und zitierbar gesichert unter https://doi.org/10.25529/92552.83.

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