Digitalisierung mit Kultureller Bildung gestalten
Abstract
Kulturelle Bildung liefert einen Reflexions- und Diskursraum für den digitalen Wandel in Bildung und Gesellschaft, indem sie künstlerische Zugänge zu den neuen Technologien und ihren Ästhetiken eröffnet sowie Kreativität aktiviert. Dieser Beitrag basiert auf der Dokumentation der Veranstaltungsreihe #KUB20XX, initiiert von der MUTIK gGmbHund gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung in den Jahren 2017 und 2018. Voraus ging eine umfassende Recherche des Status quo der Praxis Kultureller Bildung: Wie hat die Digitalisierung Eingang in die Praxis gefunden? Wo bietet die Entwicklung in den Künsten Anknüpfungspunkte für die Kulturelle Bildung? Deutlich wird, dass die meisten in Sachen Digitalisierung einen großen Informations- und Lernbedarf haben. Der Beitrag bietet zunächst einen historischen Abriss der Digitalisierung und geht auf den Schlüsselbegriff Kreativität ein. Im Anschluss werden konkrete Beispiele aus der künstlerischen Praxis für den Umgang mit den digitalen Technologien und dem digitalen Wandel beleuchtet. Abschließend werden Potenziale Kultureller Bildung für die Gestaltung der Digitalisierung zusammengefasst.
Das Zeitalter der Digitalisierung
Wir sind es gewohnt, Prozessschritte linear zu erklären und hierarchisch zu organisieren, doch laufen diese zunehmend vernetzt und gleichzeitig ab. Für die Bewältigung der neuen Herausforderungen – auch im kulturellen und sozialen Bereich – benötigen wir flexible Herangehensweisen und Strukturen. Obwohl diese weder erprobt noch erforscht sind, sind wir dennoch jetzt gefordert, unser Handeln neu auszurichten.
Das Zeitalter der Digitalisierung ist vor allem durch drei Faktoren geprägt: Freiheit, Erweiterung und Geschwindigkeit. Die neue Freiheit zeigt sich beispielsweise in der Möglichkeit, Informationen zu verarbeiten, Wissen zu erwerben oder Produktion zu flexibilisieren. Die Erweiterung erleben wir in der Kommunikation, sei es zwischen Menschen, Maschinen und Maschinen oder zwischen Maschinen und Menschen. Ein weiteres Feld sind neue Fähigkeiten, die durch die technischen Erweiterungen unseres Körpers möglich werden. Freiheit und Erweiterung zusammen schaffen neue Optionen. Noch nie war es so einfach, mit wenig Kapital selbst schöpferisch und unternehmerisch aktiv zu werden, oder eigene gesellschaftliche Themen ohne den Kontakt zu einflussreichen Menschen oder Journalist*innen in einer großen Öffentlichkeit zu positionieren. Der Faktor Geschwindigkeit manifestiert sich anhand der im historischen Zeitverlauf immer dichter werdenden Zeittaktung von Innovationen. Bei aller Dynamik und Komplexität gilt es, sich einen Überblick über die Möglichkeiten und Grenzen zu verschaffen, ohne dabei in einen euphorischen Optimismus noch in einen überbordenden Pessimismus zu verfallen. Wie das gelingen kann, zeigt der Umgang der Künste mit der Digitalisierung auf: Es entstehen neue Werkzeuge, neue Themen und neue Kanäle. Die vielen neuen, bereits sichtbaren künstlerischen Ausdrucksformen lassen erahnen, wie tief die Veränderungen greifen und welches Potenzial darin für die Kulturelle Bildung liegt. Um diese auszuloten, ist es zunächst wichtig zu hinterfragen: Was bedeutet die Digitalisierung für die Künste und die Gesellschaft? Dazu zunächst ein Blick in die Vergangenheit.
Evolution der Digitalisierung
Technischer Fortschritt stößt zuweilen im ersten Moment auf große Skepsis, die sich dann allerdings als völlig falsch erweisen kann: Allen ursprünglichen Unkenrufen zum Trotz war beispielsweise das Automobil keine vorübergehende Erscheinung oder hat sich der Fernseher durchgesetzt. Auch die Prognose von einem Weltmarkt für nur fünf Computer wurde bei weitem übertroffen. Diese Beispiele zeigen auf, dass Entwicklungen zu ihrem Entstehungszeitpunkt mitunter völlig falsch eingeschätzt werden. Umso wichtiger ist es, eine eigene Vorstellungskraft zu entwickeln und die Veränderung mitzugestalten.
Digitalisierung bedeutet im engeren Wortsinn: Verdatung. Die Umwandlung von analog zu digital besteht in der Organisation der Welt in einer Abfolge von Nullen und Einsen. Der Grundstein für die Digitalisierung wurde 1805 mit der Erfindung des Jacquardwebstuhl als ersten mechanischen Webstuhl gelegt. Die dort verwendeten Lochkarten können als erste binär codierte Speichermedien gelten. Die Löcher auf der Lochkarte gaben das Webmuster vor. Loch bedeutete, dass ein Stich mit der Nadel möglich war, es entsprach also der „Eins“. Dort wo die Nadel auf Pappe stieß, war kein Stich möglich, das kam der „Null“ gleich (vgl. Meichsner 2009). Andere wiederum sehen den Ausgangspunkt der Digitalisierung in der Erfindung der Leydener Flasche 1745 (vgl. Burckhardt 2018). „Durch die Erfindung des Glas-Wasser-Kondensators war es ab da möglich, elektrische Energie, besonders wenn man die Flaschen in Batterien zusammengeschaltet hatte, in großen Mengen zu speichern“ (Kloss 1987:44). Beide Erfindungen sorgten für Aufruhr. Während der Jacquardwebstuhl öffentlich verbrannt wurde, löste die Leydener Flasche wissenschaftliche Euphorie und zahlreiche Selbstversuche aus.
Menschen wollen Medien
Die Evolution der Digitalisierung und die damit einhergehende Dynamik werden anhand technologischer Entwicklungen greifbar. Ein gutes Beispiel ist die Geschichte der Medien, bei der sich vier Entwicklungsstufen beschreiben lassen:
- Die Phase der Menschenmedien von den Anfängen bis 1500,
- die Phase der Druckmedien von 1500 bis 1900,
- die Phase der elektronischen Medien von 1900 bis 1990 und
- die Phase der digitalen Medien seit 1990 (vgl. Faulstich 2006:8-9).
Medien werden in diesem Kontext verstanden als „[…] Objekte, technische Geräte oder Konfigurationen, mit denen sich Botschaften speichern und kommunizieren lassen“ (Weidenmann 2002:45-47). Die innerhalb der Gesellschaft zur Verfügung stehenden Medien schaffen für die Individuen neue Möglichkeiten Botschaften auszutauschen: Sie werden selbst zur Botschaft und verändern die gesellschaftlichen Strukturen grundlegend. Dieses Phänomen beschreibt der Kommunikationstheoretiker Marshall McLuhan Ende der 1960er-Jahre mit seiner Aussage: „The Medium is the Message“ (McLuhan/Fiore 1967:26).
Die Geschwindigkeit des Veränderungsprozesses zeigt sich eindrucksvoll anhand der Entwicklung des Personal Computers (PC). Der Computer der ersten Generation, der ENIAC (Electronic Numeric Integrator and Calculator) wird 1945 in den USA konstruiert. Es handelt sich dabei um einen „Rechner-Koloss“ mit 17.000 Elektronenröhren, 1.500 elektromechanischen Relais, einer Leistung von 150 Kilowatt und 30 Tonnen Gewicht (vgl. Hiebel 1997:38). Durch die Weiterentwicklung der Technik und die Erhöhung der Leistung der einzelnen Schaltelemente auf immer kleinerem Raum wurde der Weg für die Nutzung durch die Allgemeinheit bereitet.
Zu Beginn des Computerzeitalters hatten nur Vereinzelte Zugriff auf das neue technische Instrument. Es gab zu wenige Computer und die Anschaffung war für den privaten Gebrauch nicht finanzierbar. Ungeduldig warteten deshalb die Kunden im Jahr 1975 auf den Eigenbausatz für den damals ersten PC, ein Gerät namens Altair (vgl. Daniels 2002:209). Der Medientheoretiker Dieter Daniels schreibt in seinem 2002 erschienen Buch „Kunst als Sendung. Von der Telegrafie zum Internet“: „Menschen wollen Medien, ganz unabhängig von aller industrieller Produktion, so als hätten sie deren Erfindung und Verfügbarkeit immer schon erwartet.“ (ebd) Galt der PC als gängiges Zugangsgerät zum Internet, hat sich das seit der Einführung des Smartphones schnell verändert, das gerade zusammen mit Tablets den PC als primäres Zugangsgerät ablöst (vgl. Brandt 2017).
Kreativität als Grundvoraussetzung für die Gestaltung des digitalen Wandels
Schaut man sich die Evolution der Medien und der technologischen Entwicklungen an, so erahnt man die Ausmaße des sich bereits abzeichnenden Wandels. Wie bei den großen Innovationen der Vergangenheit bewegen sich auch heute die Aussagen zwischen Fortschrittsglauben und Angst. Besonders deutlich wird dieser Gegensatz in der Diskussion zum Thema Künstliche Intelligenz (KI).
Kann Künstliche Intelligenz kreativ sein?
KI wirft grundlegende Fragen zum Verhältnis zwischen Mensch und Technik auf: Welche Fähigkeiten bleiben dem Menschen? Wie autonom dürfen Maschinen agieren? Welche ethischen Werte liegen der Künstlichen Intelligenz zugrunde? Ende 2018 beschloss die Bundesregierung die „Strategie Künstliche Intelligenz“ und hat dafür zwölf Handlungsfelder definiert, um „Artificial Intelligence made in Germany“ an die Weltspitze zu bringen (siehe: Bundesregierung o.D.). Künstliche Intelligenz zielt darauf ab, Computersysteme oder Maschinen zu intelligentem Problemlöseverhalten zu befähigen.
„Das Wesen der KI – und wohl auch das Wesen der Intelligenz – liegt darin, anhand einer begrenzten Datenmenge rasch passende Schlüsse zu ziehen oder Verallgemeinerungen zu formulieren. Je größer der Einsatzbereich und je schneller auf einem Mindestmaß an Informationen basierend Rückschlüsse gezogen werden, desto intelligenter ist das Verhalten.“ (Kaplan 2017:20)
Das Fraunhofer Institut unterscheidet die Einsatzbereiche der KI in autonom, kooperativ und lernend. Die Systeme funktionieren entweder rein digital oder im Zusammenspiel mit anderer Technik als Roboter und Transportmittel, Geräte und Anlagen (vgl. Fraunhofer-Allianz Big Data 2017). Die neueste Generation der KI arbeitet mit künstlichen neuronalen Netzen und ist in der Lage zu lernen, zu abstrahieren und komplexe Aufgaben zu lösen. Die Anwendungstauglichkeit der KI hängt von der Speicherkapazität ab – und diese steigt enorm an: Ein „altes“ iPhone 7 ist beispielsweise 30-mal leistungsfähiger als der Supercomputer Deep Blue, der 1997 gegen Weltschachmeister Garry Kasparow gewann (vgl. Rittershaus o.D.). Von einer rasanten Weiterentwicklung ist auszugehen.
Zunehmend richtet sich der Blick auf die kreative Künstliche Intelligenz. Mit Kreativität verbindet man Erfinden, Entdecken, neues Schaffen, Spontaneität, Unplanbarkeit, Brüche, Fehler und Widersprüche: Sind das rein menschliche Eigenschaften, über die Künstliche Intelligenz nicht verfügen können? Ulrich Beer und Willi Erl schrieben 1972 in dem Buch „Entfaltung der Kreativität“ „Je mehr reproduktive, auch geistige Leistungen dem Menschen abgenommen werden können, desto höher wird das Gewicht der kreativen Kräfte, deren Monopol er bis heute besitzt“ (Beer/Erl 1972:11). Das wird angesichts intelligenter und kreativer werdenden Maschinen, Anwendungen und Programme zunehmend infrage gestellt. Um die Fähigkeit der KI zu Kreativität zu verdeutlichen, werden häufig Beispiele aus der Kunst oder dem Design herangezogen. Wenn die KI vor wenigen Jahren anhand von Daten noch Kunstwerke nachahmte, wie „The Next Rembrandt“ (vgl. The Next Rembrandt o.D.) zeigt – bei dem eine KI auf Basis von zahlreichen 3D-Scans von Rembrandts Werken eigenständig ein neues Werk im Stil von Rembrandt schafft, ist die KI inzwischen in der Lage, völlig neue Stile zu entwickeln, Musik und Videos zu produzieren, Gedichte und Texte zu verfassen oder Produkte zu designen. Der Unternehmer und Wissenschaftler Jerry Kaplan fasst die zukünftige Entwicklung im Buch „Künstliche Intelligenz“ folgendermaßen zusammen: „So verwischt die Grenzlinie zwischen menschlicher und Maschinenintelligenz nach und nach, bis sie für die meisten irrelevant wird. Manchmal ist die beste Person für eine Aufgabe vielleicht eine Maschine.“ (Kaplan 2017:26)
Was bedeutet dies für die menschliche Kreativität? Die noch sehr junge Forschung zu Kreativität hat rasch an Bedeutung gewonnen und sich auf viele Disziplinen ausgedehnt. Kreativität wird heute als eine Grundveranlagung eines jeden Menschen verstanden. Aus pädagogischer Sicht ist das Verständnis gewachsen, dass Kreativität gefördert werden kann und muss. Das Wissen um kreativitätsfördernde Rahmenbedingungen hat vielerorts zu veränderten Lern- und Arbeitsbedingungen geführt. Auch wenn die menschliche Kreativität nicht durch die maschinelle Kreativität ersetzbar ist, wird es zukünftig um eine kreative Zusammenarbeit zwischen Mensch und KI gehen.
Dazu braucht es kreativitätsfördernde Ansätze, die in der Kulturellen Bildung längst eingeübt sind und praktiziert werden. Umso bedeutsamer ist es, dass sich neben Vertreter*innen aus Wirtschaft und Wissenschaft auch die Akteur*innen aus Bildung, Kultur, Kunst und Zivilgesellschaft einbringen und praktische Anwendungsbeispiele entwickeln. Es fehlt zudem ein Raum, der einen gesamtgesellschaftlichen Diskurs ermöglicht.
Einblicke in die künstlerische Praxis
In den Künsten entstehen im Zuge der Digitalisierung neue Werkzeuge, neue Themen und neue Kanäle. Zur Veranschaulichung dieser Entwicklung werden nachfolgend konkrete Beispiele aus der künstlerischen Praxis skizziert.
Neue Werkzeuge
Um die Potenziale Kultureller Bildung für die Digitalisierung aufzuzeigen, ist es sinnvoll, die Nutzung und ästhetischen Möglichkeiten der Werkzeuge zu betrachten, die im Zuge der Digitalisierung entstanden sind und sich immer schneller weiterentwickeln und verbreiten.
Ein oft angeführtes Beispiel ist der Einsatz von Augmented Reality (AR) in den darstellenden Künsten. Viele Theaterschaffende arbeiteten damit in den letzten Jahren für ihre Inszenierungen an deutschsprachigen Häusern. Ein Beispiel für den künstlerischen Umgang mit der erweiterten Realität ist „Future is now“ aus dem Jahr 2017, eine Art multimedialer, interaktiver Theaterrundgang im öffentlichen Raum Basels. Wesentlich für die Produktion war eine eigens entwickelte App und die aktive Teilnahme des Publikums. Die Teilnehmer*innen wurden mit Smartphones bestückt, die per App und Global Positioning System (GPS) die Publikumsbewegung verfolgte. Je nach Situation wurden verschiedenes Bild-, Audio- und Videomaterial auf die Displays gespielt.
„Future is now“: Als „hyperdisziplinären Walk“ bezeichnet das Produktionsteam, das Kollektiv mnemoy, diese Produktion. Es trägt Elemente des traditionellen Schauspiels und seiner Als-ob-Situation in sich, vollzieht sich aber nicht auf einer Bühne, sondern inmitten der Stadt. Dabei wurde die Beteiligung des Publikums auf mehreren Ebenen ermöglicht. Entscheidend für die Ausgestaltung der Narration war die Kombination der analog und digital vermittelten Fragmente durch das Publikum. Die erzählten Einheiten waren vorgegeben, doch die Zuschauer*innen selbst stellten die zeitlichen und kausalen Zusammenhänge her. „Future is now“ zeigte, wie digitale Werkzeuge nicht als Ersatz, sondern als Ergänzung zu analogen Möglichkeiten fungieren und somit die Kunstgattung „Theater“ verändern. Wie das „augmented“ – also erweitert – in „AR“ angibt, wirkten der Einsatz der digitalen Instrumente als sinnliche, partizipative und dramaturgische Erweiterung des theatralen Kunsterlebnis.
Handeln zwischen Fiktion und Realität
Häufig in einem Atemzug mit AR wird VR, Virtual Reality, genannt. VR wurde jedoch deutlich früher entwickelt. Als entscheidender Durchbruch gilt das erste sogenannte Head-Mounted Display Ende der 1960er-Jahre: ein visuelles Ausgabegerät, das am Kopf befestigt wurde, und damit ein Prototyp der heute populären VR-Brillen war. Der wesentliche Unterschied zur AR ist, dass die virtuelle Realität unabhängig von der physischen Umgebung besteht. Der reale Raum wird von den Nutzer*innen nicht mehr wahrgenommen, das Eintauchen in eine neue Welt ist komplett. Es existieren auch Mischformen zwischen AR und VR.
Wie sich mit VR Theater weiterentwickeln lässt, zeigt seit einigen Jahren das Künstlerkollektiv CyberRäuber um Marcel Karnapke und Björn Lengers: laut Selbstbezeichnung das „Theater der virtuellen Realität“. Für ihre Produktion „Memories of Borderline“, eine Zusammenarbeit mit dem Schauspiel Dortmund aus dem Jahr 2017, virtualisierten sie den (physischen) Bühnenraum aus dem Musiktheater-Stück „Die Borderline Prozession“. In der von Verfall und Vergänglichkeit geprägten VR-Welt trafen die Besucher*innen auf Avatare der Bühnenfiguren sowie Ton- und Textfragmente der Bühneninszenierung. Erinnerungen und Sinnzusammenhänge erschlossen sich durch das eigene Erkunden im multimedialen Raum.
Der Umgang mit den digitalen Technologien kann so neue Formen der Erkenntnisbildung anregen. Das geschieht nicht nur durch Möglichkeiten zur Interaktion oder eine offene Erzählstruktur, sondern bereits durch die Wahrnehmung einer zusätzlichen Wirklichkeitsebene: Wenn mittels AR Charaktere aus dem Lieblingsroman vor der Haustür auftauchen, dränge Fiktion nahezu ohne Filter in den Alltag ein, erklärt Sarah Buser, Dramaturgin und Mitglied von mnemoy (vgl. Buser 2018). Wenn im klassischen Theater Julia in Romeos Armen sterbe, wüssten die Zuschauer*innen, dass die Schauspielerin noch lebe. In der erweiterten Realität hingegen muss die Grenze zwischen Fiktion und Realität selbst erkundet werden – es gibt keine absolute Wahrheit. „Die Erkenntnis ist nicht im theoretischen Betrachten verankert, sondern im eigenen Handeln,“ schlussfolgert Buser (ebd.).
Digitale Technologie als kreatives Handwerk
Die genannten Künstler*innen praktizieren eine bestimmte Kulturtechnik: „Creative Coding“. Der Begriff bezeichnet den kreativen Umgang mit Programmiersprachen, bei dem nicht – wie meistens bei Umgang mit Technik üblich – Funktionalität oder Lösungsorientierung im Vordergrund stehen, sondern Ästhetik und Ausdruck. Selbst bei komplexen Produktionen kommt oftmals frei verfügbare Software zum Einsatz. Zum Programmieren eigener AR-Spiele verwendet Buser etwa „Unity3D“, eine „Spiel-Engine“, d.h. ein Basisprogramm, mit dem sich der Verlauf und die Darstellung von Computerspielen entwickeln lassen.
Ein weiteres Open-Source-Werkzeug ist die grafische Programmierumgebung vvvv. Mit ihr lassen sich auf Windows-Rechnern durch das Knüpfen von Netzwerken visuelle Animationen entwickeln. Neben der Schnelligkeit, mit der sich ästhetische Formen produzieren lassen, schätzen die Nutzer*innen die Transparenz und Zugänglichkeit: Jede*r kann auf die Vorarbeit anderer zurückgreifen und hat den Einblick auf sämtliche vorhandenen Verknüpfungsmöglichkeiten. Was noch nicht möglich aber gewünscht ist, muss und kann selbst programmiert werden.
Zugang zu Technologie über Kunst
Creative Coding bricht mit dem Mythos der perfekten Technik. Dass sich mit diesem Ansatz auch hochkomplexe, auf Spitzentechnologie basierende Produktionen entwickeln lassen, zeigt das Wisp-Kollektiv. Die von Paul Schengber und Felix Deufel gegründete Gruppe versteht sich als interdisziplinäre Plattform für Künstler*innen, Designer*innen, Programmier*innen und Technikforscher*innen. Sie schaffen immersive Raum-Klang-Erlebnisse, im Sinne eines gänzlichen Sich-Hineinbegebens in die mediale Umgebung, erklärt Paul Schengber (vgl. Chapuy/Schengber 2018). Das geschieht zum einen mittels 3D-Audio, eine Tondateien-Technologie, welche die Hörer*innen so erleben, als befänden sie mitten im Geschehen einer Tonproduktion. Dabei wird die komplexe Filterwirkung des menschlichen Lokalisationssystems imitiert, d.h. der Erkennung der Richtungen und Entfernungen von Schallquellen mittels beider Ohren. Weitere Bestandteile der Wisp-Installationen sind eine dichte und komplexe Lautsprecheranordnung, 360 Grad umfassende Flächen für visuelle Bespielungen und der Einsatz von Bewegungssensoren.
Das Besondere liegt in der Verbindung dieser Elemente zur einer interaktiven ästhetischen Umgebung, etwa in der Produktion „ClinK“: eine gitterförmige, begehbare Halbkugel aus Bambus und Stahl, ausgestattet mit rund 30 Lautsprechern und einer geschlossenen, mit Projektionen bespielten Oberfläche. Zunächst bei einem eigenen „Micro Festival“ präsentiert, wurden die Bewegungen der Besucher*innen über eine spezielle Schnittstellensoftware in Ton und Bild übertragen. Daraus entstand ein organisches Zusammenspiel von Mensch und Technik, bei dem erst die physische Anwesenheit der Menschen die Komposition vervollständigte.
Auch in diesem Fall kann von einer erweiterten Realität gesprochen werden: Bewegungsempfindung, Hören und Sehen werden auf neue Weise miteinander verbunden. Durch das interaktive Element verschwimmen zudem die Grenzen zwischen Produktion und Rezeption. Die medialen Verschränkungen und ihre Wirkungen lassen sich nur durch das eigene Ausprobieren entdecken; als Besucher*in wird man zum Subjekt und Objekt zugleich. Zufall, Intuition und – oft körperlich spürbare – Unmittelbarkeit bestimmen das Kunsterlebnis.
Neue Themen
Fake News, Big Data, Internet der Dinge – mit den neuen Technologien und den damit verbundenen Praktiken werden neue Themen von hoher gesellschaftlicher Relevanz aufgeworfen. Die Digitalisierung stellt einen so fundamentalen kulturellen Wandlungsprozess dar, dass sie sich auf alle Bereiche auswirkt, in denen sich „Kultur“ – im Sinne der Gesamtheit aller menschlichen Erkenntnis- und Gestaltungsmöglichkeiten – vollzieht. Einer dieser Bereiche ist der menschliche Körper, an dessen Beispiel aufgezeigt werden soll, wie Künstler*innen neue Entwicklungen verhandeln und diskutierbar machen.
Digital veränderte Körperbilder
Aus dem Umgang mit den neuen Technologien erwachsen neue Körper-Praktiken oder erhalten bestehende Körper-Praktiken eine neue Dynamik. Zu nennen ist hier etwa der veränderte Umgang mit dem eigenen Abbild: In unserer Kultur gehört es längst zum Alltag sehr vieler Menschen, das Bild des eigenen Körpers für die sozialen Medien zu reproduzieren, zu bearbeiten und einer gewissen Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
Auch für den digitalen Raum gilt, dass kulturelle Praktiken kein Zufall sind, sondern bestimmten sozialen Mechanismen unterliegen. Ein Beispiel ist Facebooks Umgang mit weiblicher Nacktheit. Auf den Seiten des nach den User*innen-Zahlen weltweit größten sozialen Netzwerks wurden Darstellungen weiblicher Brüste lange rigoros eingeschränkt, sobald die Brustwarzen erkennbar waren. Der Grund war, dass sie automatisch als sexuelle Abbildungen und somit als potenziell anstößig galten. Die männliche entblößte Brust stellte hingegen kein Problem dar. Der Fall zeigt, wie die neuen sozialen Medien mitunter sehr tradierte gesellschaftliche Normen bekräftigen. Ebenso deutlich wird, dass Geschlechterverhältnisse, Körper und Sexualität in der Digitalität laufend verhandelt und kritisch hinterfragt werden müssen.
Soziale Dimensionen neuer Ästhetiken
Ein weiterer Aspekt der Beziehung zwischen Körper und Digitalität findet sich im Niederschlag digitaler Praktiken und ihrer Ästhetik in der physischen Wirklichkeit. Der Kulturwissenschaftler Wolfgang Ullrich weist darauf hin, dass im Selfiemodus vor dem Handy eingeübte Mimiken zunehmend auch in Gesichtern auftauchen, wenn keine Kamera zugegen ist (vgl. Ullrich 2019). Ullrich vergleicht die im Zusammenhang mit dem Selfie entstandenen Praktiken mit dem höfischen Maskeradenspiel der Barockzeit; das passende Bild und die entsprechende Mimik bestätigen den eigenen Platz im Sozialgefüge (vgl. Ullrich 2019:14-15, 27-29).
Derartige Phänomene beobachtet mit Neugier die Künstlerin Nadja Buttendorf. An der Schnittstelle von Technologiegeschichte, Popkultur und Gender hinterfragt sie tradierte Konzepte, insbesondere weiblicher Körperlichkeit und Schönheit. In ihren Arbeiten experimentiert Buttendorf mit Körpererweiterungen und „posthumanem Schmuck“ – gemeint sind damit Schmuckstücke für den Menschen von morgen, jenseits bestehender Vorstellungen vom menschlichen Körper.
Ein Beispiel ist Buttendorfs „Fingerring“: eine als Ring gestaltete Nachbildung ihres eigenen Fingers aus Silikon. Der Finger am Finger dreht eine gewohnte Praxis um – statt dem Körper einen Gegenstand hinzuzufügen, wird er mit einem Körperteil erweitert – und weist auf bestehende Trends der funktionalen Körpererweiterung hin. Diese Entwicklung veranschaulichen auch die von Buttendorf kreierten „smartphone friendly nails“: falsche Fingernägel aus je einem kleinem Stück Watte, einer transparenten Plastikschiene und einer kleinen Menge Aluminium. Am eigenen Fingernagel verklebt, lässt sich mit dem Aluminiumnagel das Smartphone ohne lästige Fingerabdrücke bedienen.
Verschmelzung von Mensch und Technik
Bereits der Alltag zeigt, dass sich Körper und Technik immer näher kommen: Digitale Endgeräte werden immer weniger über Knöpfe oder Tasten, sondern zunehmend mit intuitiven körperlichen Handlungen wie Streichen, Wischen, Klopfen und Reiben bedient. War die menschliche Beziehung zur Technik lange von einer festen Trennung bestimmt, verwischt diese Grenze zunehmend. Digitale Technologien erweitern und ergänzen den Körper und dringen bisweilen ihn diesen ein. Ein Cochlea-Implantat etwa wird hinter dem Gehörgang eingepflanzt und ergänzt bei stark Hörgeschädigten den auditiven Wahrnehmungsprozess.
Im Zuge der erweiterten technischen Möglichkeiten wird der Cyborg, die aus der Science-Fiction bekannte Vision eines Mischwesens aus lebendigem Organismus und Maschine, zunehmend Realität. Besonders auffällig auf diese Entwicklung hingewiesen hat der Künstler und Cyborg-Aktivist Neil Harbisson, u.a. indem er sich eine Antenne in den Schädel implantieren ließ, die nicht nur W-Lan-tauglich ist, sondern auch von Satelliten Signale empfangen kann. Mit derartigen Aktionen spürt Harbisson Grenzen beim Umgang mit der Technik auf und überschreitet sie bewusst.
Digitalisierung als kultureller Prozess
„Körper“ ist gleichwohl nur ein Bereich aus dem vielfältigen Themenkomplex der kulturellen Dimension der Digitalisierung. Bei der Beschäftigung mit dem digitalen Wandel verhandeln Künstler*innen viele weitere Themen, etwa Kontrollverlust, der Schutz der Privatsphäre oder die Entfremdung von sich selbst. Einen Beitrag dazu lieferte die Installation „Der Fremde in uns“ von 2016 des bereits erwähnten Wisp-Kollektivs.
Vom gleichnamigen Werk des aus Nazideutschland geflüchteten Schriftstellers und Psychoanalytikers Arno Gruen inspiriert, hat Wisp dazu einen mit Bewegungssensoren ausgestatteten Raum geschaffen. Beim Eintritt sahen die Besucher*innen plötzlich ihr digitalisiertes Ich als Abbild in einer virtuellen Landschaft wieder und konnten mit ihm interagieren. Es war vertraut und fremd zugleich.
Ob der zunehmend digitalisierte bzw. der postdigitale Körper, die veränderten Räume des Privaten oder die Auflösung fester Identitäten – Künstler*innen und Kreative spüren mit Experimentierfreude Themen zum digitalen Wandel auf und machen sie diskutierbar. Die ästhetischen Ansätze und Methoden von Buttendorf, Harbisson, Wisp und zahlreichen anderen ermöglichen eine kritische Auseinandersetzung mit ggf. zunächst schwer zu fassenden gesellschaftlichen Entwicklungen.
Neue Kanäle
Als dritter Bereich der künstlerischen Praxis im digitalen Wandel sollen die Kanäle betrachtet werden: mit Fokus auf das Internet. Das Interesse liegt dabei auf den Kommunikations- und Gestaltungswegen, die das Internet bietet und deren Effekte auf das Kunsterleben.
Das Internet hat nicht nur den Alltag fast aller in unserer Gesellschaft durchdrungen, sondern auch die Verbreitung künstlerischer Inhalte revolutioniert. Es ermöglichte nie geahnte Freiheiten und Autonomien für Kunstschaffende, insbesondere bei der Ressourcenbeschaffung – siehe das Crowdfunding – und der Herstellung einer Öffentlichkeit.
Nadja Buttendorfs „Fingerring“ etwa ging – wie es im Netz-Jargon heißt – 2016 viral und hielt sich eine Zeit lang auf den obersten Plätzen der google-Ergebnisse beim Suchbegriff „Finger“. Eine weitere Plattform, die Buttendorf künstlerisch nutzt, ist YouTube. Dort veröffentlichte sie die Web-Seifenoper „Robotron“, die humorvoll vom Alltag im gleichnamigen DDR-Staatsbetrieb erzählt. Komplett eigenhändig produziert, mit ihr als Schauspielerin in allen Rollen, wurde die Resonanz allmählich so groß, dass „Robotron“ in der dritten Staffel im Fernsehsender arte zu sehen ist.
Auch die Gruppe onlinetheater.live arbeitet künstlerisch mit dem Internet. Bei ihren Arbeiten handelt es sich nicht etwa um veröffentlichte Aufnahmen oder Live-Übertragungen von Bühnen-Produktionen, sondern um eigens mit dem und für das Netz gestaltete Stücke: Zu einem angekündigten Zeitpunkt öffnet sich auf www.onlinetheater.live die frei zugängliche Echtzeit-Übertragung eines Schauspiels. Die Darsteller*innen bewegen sich im privaten und im öffentlichen Raum, befinden sich oft an verschiedenen Orten und filmen sich meistens mit Smartphones selbst. So erscheinen oft mehrere Kamerafenster: Mal wird dieselbe Szene aus mehreren Perspektiven gezeigt oder der Handydesktop einer Figur übertragen.
Dramaturgie des Algorithmus
In seinem ersten Stück nahm sich das onlinetheater Goethes „Die Leiden des jungen Werthers“ an. Was im Original Briefe sind, wurden im Online-„Werther“ Chats und in die Webcam vorgetragene Monologe. Wie im Original litt Werther an Vereinsamung, Verwirrung und einem fundamentalen Unverständnis der Welt. Ablenkung suchte er in den Tiefen des World Wide Web „zwischen Werbebannern, Nachrichten, Bildern von Mahlzeiten, Enthauptungsvideos, Meinungskundgebungen, Pornos und Spam-Mails“ (onlinetheater 2018). In einem eigenen Chatfenster, dem „Foyer“, konnten die Zuschauer*innen mit Werther kommunizieren und durch Kommentare die Handlung beeinflussen. Die Ausgangssituation war festgeschrieben, doch der Rest des Stücks lebte von der Interaktion mit dem Publikum und der Improvisation des Ensembles.
Unberechenbarkeit und Improvisation prägen als leitende Prinzipien das Kunsterlebnis beim onlinetheater. Bei den Produktionen ergeben sich viele Perspektivwechsel und Handlungsbrüche, für welche die Aufmerksamkeit der Zuschauer*innen enorm gefordert ist. Die Funktionsweise der Technik ist dabei nicht nur Mittel zum Zweck, sondern nimmt Einfluss auf die Narration: Bei „Werther“ ist es vorgekommen, dass der auf YouTube übertragene Live-Stream wegen unangemessener Inhalte gesperrt wurde. Ad hoc wurde eine Lösung gesucht, die Geschichte auf anderen Wegen weiter zu erzählen. Der Algorithmus der Online-Kanäle bestimmt die Dramaturgie mit.
Kunst im digitalen Alltag
Wie bei Sarah Buser ist es der Ansatz des onlinetheaters, die Räume, Medien und Kommunikationsmuster des digitalisierten Alltags künstlerisch zu befüllen – und nicht die digitale Technik in das institutionalisierte Theater zu bringen. Folglich wenden sich die Produktionen bewusst an Menschen, die in der Online-Welt Erlebnisse suchen, etwa auf YouTube und Facebook, in Chaträumen und auf Dating-Apps. „Wir kulturalisieren das Netz und digitalisieren nicht die Kultur“, fasst onlinetheater-Gründer Caspar Weimann zusammen (Keller/Weimann 2018).
Die Entscheidung für das Internet als Kanal und zugleich Werkzeug für die Darstellenden Künste ist unmittelbar mit kunsttheoretischen Fragen verknüpft: Handelt es sich bei derartigen Produktionen noch um Theater? Die physische Kopräsenz zwischen Darsteller*innen und Publikum ist beim onlinetheater nicht gegeben. Zwar kann das als Verlust gesehen werden, doch öffnen sich dafür andere Räume. Wenn Werther seine Zuschauer*innen über die Webcam um Hilfe anruft, wird eine intime Nähe spürbar, wie sie viele von Skype oder anderen Formen des Online-Chats kennen, und die sich auf das Kunsterlebnis überträgt. Das Einzigartige des Moments, der ephemere Charakter der Kunstgattung Theater ist durch die Live-Übertragung wiederum gegeben.
Erweiterte Möglichkeiten für Rezeption und Produktion
Beim Blick auf das Internet als Kunst-Kanal sind auch die Medienträger und ihre Verbreitung zu beachten. Fast jede*r in unserer Gesellschaft hat Zugang zum Internet. Wenn sich Kunst darin vollzieht, können die Zugänge zu künstlerischen Erfahrungen enorm erweitert und stark vereinfacht werden. Insbesondere die mobilen Endgeräte gewinnen, wie einleitend bereits dargestellt wurde, zunehmend an Bedeutung. Nahezu jede*r Jugendliche besitzt ein Smartphone – damit bietet sich eine große Chance, die mit dem hochkulturellen Theaterbetrieb verbundenen Barrieren abzubauen. Denn sowohl das onlinetheater als auch Sarah Busers Arbeiten machen die Darstellenden Künste mit dem eigenen Handy erlebbar und nahbar.
Nicht nur für die Rezeption, sondern auch für die Produktion eröffnen sich neue Möglichkeiten, insbesondere für audiovisuelle Arbeiten. Zahlreiche kostenlose oder kostengünstige Plattformen und die gängigen Smartphone-Tools ermöglichen es, kostengünstig eigene kreative Inhalte zu entwickeln und zu veröffentlichen. Als Beispiel sei die „Open Broadcaster Software“ (OBS) genannt, eine gratis Software für Videoaufnahmen, Live-Streaming und -bearbeitung, mit der das onlintheater arbeitet.
Bedeutung für die Kulturelle Bildung
Neue Werkzeuge, neue Themen und neue Kanäle – diese Einordnung ist nur eine von vielen Möglichkeiten, den Einfluss der Digitalisierung und des digitalen Wandels auf die künstlerische Tätigkeit zu erfassen. Künstler*innen und Kreative übernehmen eine für die Gesellschaft wichtige Aufgabe, indem sie die neuen Technologien und ihre Ästhetiken künstlerisch wirksam machen – gerade wenn diese bizarr oder fremd wirken mögen. Das legen zahlreiche weitere künstlerische Arbeiten der letzten Jahre dar.
Der Blick auf diese wenigen Beispiele zeigt, wie tief die Veränderungen in der künstlerischen Praxis greifen: Durch die Digitalisierung werden klassische kulturelle Konzepte wie der Körper und Grundfragen unserer Gesellschaft neu verhandelt.
In hohem Tempo entstehen neue Kunstformen oder gar -gattungen, die sich der tradierten Nomenklatur des Kunstbetriebs entziehen. Kunst im digitalen Zeitalter, so fällt auf, ist zudem stark vom Ephemeren und von Partizipation geprägt, weg vom perfekten Kunstwerk hin zu gemeinschaftlich geprägten Erlebnissen.
Künstler*innen begegnen der digitalen Transformation mit Experimentierfreude und Offenheit, sie gehen mit neuen Situationen intuitiv um. Dabei hinterfragen sie nicht nur aktuelle Entwicklungen in der Gesellschaft, sondern übersetzen sie in ästhetische Formen.
Für die Kulturelle Bildung gilt es, sich dieser Themen anzunehmen, eine Sprache für die neuen Ästhetiken zu finden und so die neuen Technologien nutzbar zu machen. Wie die künstlerischen Arbeiten zeigen, entstehen dazu viele neue Möglichkeiten, wie die stark vereinfachte Produktion kreativer Inhalte im audiovisuellen Bereich. Die entsprechenden Freiheiten von kommerziellen Interessen vorausgesetzt, lebt die digitale Welt zudem vom dynamischen Austausch vieler Beteiligter und der freien Verfügbarkeit ihrer Mittel. Experimentelle und ästhetische Herangehensweisen an die neuen Technologien ermöglichen es, sich einen Umgang damit anzueignen sowie Möglichkeiten und Risiken selbständig zu erkunden. Hier kann Kulturelle Bildung ansetzen und sich bei der Gestaltung der Digitalisierung einbringen.
Digitalisierung mit Kultureller Bildung gestalten
Kreative, von künstlerischen Haltungen und Strategien geprägte Prozesse – wie sie in Kultureller Bildung entwickelt und erprobt sind – bergen ein großes Potenzial für einen selbstbestimmten und reflektierten Umgang mit der Digitalisierung. Sie aktivieren Fähigkeiten wie kritisches Denken, Kreativität, Initiative, das intuitive Eingehen auf Veränderungen, Problemlösung, Risikobewertung, Entscheidungsfindung und einen konstruktiven Umgang mit Gefühlen. Kulturelle Bildung hat das Potenzial, die Digitalisierung und den von ihr ausgelösten Wandel mit künstlerisch-kreativen Zugängen erfahrbar zu machen, zu reflektieren und zu gestalten – das haben die Teilnehmer*innen der #KUB20XX-Reihe erlebt. Ihre Erfahrungen bestätigen auf mehreren Ebenen die Relevanz von Kultureller Bildung im Kontext der Digitalisierung:
Kulturelle Bildung …
- sensibilisiert für die Dimension der Digitalisierung.
- macht Digitalisierung als kulturell-gesellschaftlichen Prozess begreifbar.
- regt zu Mitgestaltung und Teilhabe an.
- ermöglicht das Erleben neuer Kunstformen.
- ermöglicht die Reflexion komplexer gesellschaftlicher Fragestellungen.
- macht Wissenschaft und technologische Entwicklungen nahbar.
- zeigt die Potenziale neuer Technologien auf.
- hilft, technisches Know-how zu vermitteln.
- übersetzt zwischen verschiedenen Fachsprachen aus (Kreativ-)Wirtschaft, Technik, Kunst und Bildung.
- unterstützt den notwendigen Wissenstransfer zwischen gesellschaftlichen Feldern.
- bringt neue Perspektiven in verschiedene Fachdiskurse ein und weitet das Blickfeld.
- eröffnet einen Experimentierraum durch künstlerisch-kreative Zugänge.
- schafft Strukturen und Räume für gesellschaftliche Innovationsprozesse.
- fördert zeitgemäße Bildung im Umgang mit neuen Technologien.
- schafft einen Freiraum zur Entfaltung und Persönlichkeitsentwicklung.
- hilft, Kritik- und Urteilsfähigkeit zu entwickeln.
- unterstützt Erfahrungen im Umgang mit Unsicherheit.
- stärkt Kreativität als Grundlage für den gestalterischen Umgang mit gesellschaftlichen Herausforderungen.
Wie die verschiedenen #KUB20XX-Veranstaltungen gezeigt haben, gelingt dies, wenn sich die Akteur*innen der Kulturellen Bildung mit Praktiker*innen außerhalb ihres gewohnten Umfelds vernetzen und sich die Entwicklungen in den Künsten zu eigen machen. Während 2017 eine Tagung den Rahmen für Recherchen und eine Bestandsaufnahme bot, wurden die aufgeworfenen Fragen 2018 in kleineren Lab-Formaten intensiver bearbeitet und mit einem Barcamp für eine größere Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
In den Gesprächen und beim künstlerischen Erproben und Experimentieren haben die Autor*innen – Initiator*innen und Verantwortliche für die Veranstaltungsreihe –, immer wieder festgestellt: Die Technologie ist da – wir müssen sie jetzt mit Leben, Inhalten und Werten füllen. Digitalisierung passiert mit einer solchen Wucht und Wirkung, dass wir –Wissenschaftler*innen, Medien- und Klangkünstler*innen, Designer*innen, Theatermacher*innen, Kulturagent*innen, Musiker*innen, Informatiker*innen, Museumspädagog*innen und viele weitere Menschen im Umfeld der Kulturellen Bildung – uns gestaltend einbringen müssen.